Was zählt, ist der Erfolg
Warum bei der COVID-Triage kein Gesetz nötig ist
Seit Ausbruch der COVID-Pandemie gibt es eine lebhafte Debatte, ob die Verteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen in der Pandemie gesetzlich geregelt werden muss. Bis jetzt gibt es keine Gesetzesnorm, die diese so genannte Triage-Situation allgemein reguliert. Daher käme zurzeit die bereits im Frühjahr unter Federführung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin (DIVI) etablierte Leitlinie zur Anwendung. Manche befürchten, die Verteilungsregeln dieser Leitlinien seien diskriminierend, weshalb ein Gesetz zur Grundrechtswahrung erlassen werden müsse. Darauf dringt auch eine Verfassungsbeschwerde, die derzeit vor dem BVerfG anhängig ist. Wir halten dies für unbegründet.
Entscheidend ist das Recht auf Leben
Aus verfassungsrechtlicher Sicht muss in der COVID-Triage versucht werden, die größtmögliche Anzahl an Leben zu retten. Diesem Ziel wird allein eine Verteilungsregel gerecht, die nach dem Erfolgsprinzip priorisiert, also intensivmedizinische Ressourcen nach Überlebenschance zuteilt. Das hier unmittelbar gefährdete Recht auf Leben ist ein verfassungsrechtlicher Höchstwert, der vorrangig vor anderen Rechtsgütern zu schützen ist. Zwar folgt aus der Menschenwürdegarantie der Grundsatz, dass nicht nach dem Wert des jeweiligen Lebens differenziert werden darf. Aber dieser Grundsatz bleibt bei der Posteriorisierung von Personen mit geringerer Überlebenschance gewahrt, da kein aktiver Eingriff in ihr Lebensrecht stattfindet, sondern sie lediglich aufgrund einer Knappheitssituation nicht vor der schicksalhaften Gefahr, an COVID-19 zu sterben, gerettet werden. Ebenfalls nicht betroffen ist das grundrechtliche Abwehrrecht, für die Rettung anderer nicht instrumentalisiert und getötet zu werden, was das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz ausdrücklich untersagt hat. Worauf es vielmehr ankommt, ist die Frage, wie der Staat seiner Schutzpflicht für das Leben am besten genügt, wenn er gezwungen ist, bestimmten Menschen Hilfsmaßnahmen vorzuenthalten. Tatsächlich ist dabei die Maximierungsformel, also die Zuteilung zum Zwecke des Überlebens möglichst vieler Personen, die stärkste Bekräftigung des individuellen Lebenswerts jedes Menschen (ausführlich dazu Hong, Taupitz).
Im Widerspruch dazu scheint ein Urteil des Bundesgerichtshofs zu Manipulationen bei Organtransplantationen zu stehen, das bisweilen als Beweis für die Unzulässigkeit des Erfolgsprinzips herangezogen wird (Gutmann/Fateh-Moghadam, Gelinsky). Das ist eine Fehlinterpretation. So habe das Gericht mit Blick auf den Grundrechtsschutz „durchgreifende Bedenken“ dagegen geäußert, dass nach § 12 Abs. 3 TPG transplantierbare Organe nach Erfolgsaussicht verteilt werden, soweit dadurch manche Patient*innen kaum Behandlungschancen hätten. Die verfassungsrechtliche Kritik des BGH bezog sich aber nur auf eine einzelne Klausel, welche Alkoholiker*innen ohne 6-monatige Karenzzeit strikt von der Organverteilung ausschloss, wofür auch „keine medizinischen Gründe existieren“. Eine Verwerfung des Kriteriums der Erfolgsaussicht sieht anders aus.
Die unter der Mitwirkung von Jurist*innen erstellte DIVI-Leitlinie schreibt die Anwendung des Erfolgsprinzips unmissverständlich vor. Auch wenn der Leitlinie kein Gesetzescharakter zukommt, würde sie bei Gerichtsverfahren gegen zuwiderhandelnde Ärzt*innen als Maßstab herangezogen werden. Unter der Ärzt*innenschaft selbst wird die Leitlinie schon allein deshalb anerkannt, da sie von Expert*innen der Fachgesellschaften für Intensivmedizin, Notfallmedizin, Anästhesiologie, Lungenmedizin, Palliativmedizin und Medizinethik erstellt wurde.
Der realistische Triagefall
Doch wann käme die Leitlinie zum Einsatz? Personen, bei denen auch mit Intensivbehandlung keine Heilung zu erwarten ist, erhalten unabhängig von Knappheitsbedingungen keine Intensivtherapie. Triage findet nur zwischen Patient*innen mit realistischer Heilungschance statt. Allerdings sollte man berücksichtigen, dass auch mit Intensivtherapie eine Mehrheit der Patient*innen verstirbt.
Viele Beiträge im juristischen Diskurs, darunter Kersten/Rixen, suggerieren, dass der Triage-Situation ein Sachverhalt zugrunde liegt, in dem ein Intensivbett innerhalb kürzester Zeit eine*r von zwei COVID-19-Patient*innen zugewiesen werden muss. In der Klinikrealität werden solche Entscheidungen jedoch in aller Regel nicht in Sekunden oder ausschließlich zwischen COVID-19-Erkrankten getroffen. Verschlechterungen des Gesundheitszustands sind oft Stunden zuvor absehbar, was genügend Zeit für eine informierte, individuelle Prognoseentscheidung durch erfahrene Ärzt*innen unter Beachtung des Mehraugen-Prinzips lässt. Hierbei wird, anders als von manchen befürchtet, kein Katalog vorbestehender Erkrankungen blind abgehakt. Nicht “professionalisiertes Bauchgefühl” ist gefragt, sondern die Fundierung der Entscheidung in quantifizierbaren Parametern, die in der Intensivmedizin standardmäßig erhoben werden. Auf diesen Parametern basierende Prognose-Scores sind übliche Instrumente der Intensivmedizin. Der Zustand des Individuums wird wissenschaftlich, nicht subjektiv-normativ bewertet.
Kersten und Rixen geben mit Verweis auf die Situation bei Organallokationsverfahren noch zu bedenken, dass das Kriterium der Erfolgsaussicht nicht nur auf Prognosen zur Heilungschance, sondern zugleich auch auf Prognosen zur erreichbaren Lebensqualität basiere und daher notwendigerweise eine normative Komponente habe. Dies mag zwar für die Allokation von Organen nach dem Transplantationsgesetz stimmen und wird beispielsweise in Großbritannien vom NHS generell praktiziert. Die DIVI-Leitlinie sieht aber explizit etwas anderes vor. Die Prognose betrifft lediglich eine wertungsfreie Minimalnutzenschwelle: “Einschätzung der individuellen Erfolgsaussicht des Patienten, also der Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Erkrankung durch Intensivtherapie zu überleben.” Patient*innen mit höherer Heilungschance werden priorisiert, unabhängig davon, welche Lebensqualität nach der Therapie vermutlich erreicht würde. Das ist wichtig, da Entscheidungsgründe, die an eine unterschiedliche Bewertung des Lebensrechts der Beteiligten anknüpfen, verfassungsrechtlich gesperrt sind.
Daraus ergibt sich, dass Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen nicht per se weniger aufwändig behandelt werden. Wenn es die Vorerkrankung im Einzelfall unwahrscheinlicher macht, die Intensivbehandlung zu überleben, sollte eine Person mit besseren Überlebenschancen bevorzugt werden. Eine Behinderung spielt für die Prognoseentscheidung nur dann eine Rolle, wenn sie die Erfolgswahrscheinlichkeit der Intensivtherapie beeinflusst. Darin liegt keine unerlaubte Diskriminierung.
Auch die erwartete Lebensdauer nach der Therapie ist unerheblich. Zwar wird von manchen Medizinethiker*innen und der entsprechenden Triage-Leitlinie in Italien die Maximierung geretteter Lebensjahre statt geretteter Leben gefordert. Die Autoren der DIVI-Leitlinie grenzen sich hiervon aber zu Recht unmissverständlich ab. Eine fitte Siebzigjährige würde nach der Leitlinie einem multimorbiden Fünfzigjährigen vorgezogen werden.
Damit sollten einige Missverständnisse zur klinischen Realität ausgeräumt sein. An dieser Realität müssen sich vorgebrachte Gegenvorschläge messen lassen.
Die Gegenvorschläge
Laut der derzeit beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfassungsbeschwerde sollte das Prioritätsprinzip (“wer zuerst kommt, mahlt zuerst”) zur Anwendung kommen. Das böte jedoch einen Anreiz zu einem Windhundrennen um Intensivbetten und würde das Gesundheitssystem nur noch weiter überlasten. Außerdem diskriminiert dieses scheinbar faire System infrastrukturell benachteiligte Personengruppen wie die ländliche Bevölkerung, die erst in eine Klinik mit COVID-19-Intensivstation verlegt werden müssten.
Die im juristischen Schrifttum oft erhobene Forderung, nach “medizinischer Dringlichkeit” zu priorisieren, bricht sich von vornherein an der medizinischen Realität. Besonders in Zeiten der Knappheit gilt, dass die Indikation zur Intensivtherapie nur bei dringender Erforderlichkeit gestellt wird. Invasive Verfahren wie die ECMO (extrakorporale Membranoxygenierung) ohne dringliche Notwendigkeit anzuwenden, wäre außerdem höchst fragwürdig, da ihr Einsatz erhebliche Komplikationen bis hin zum Tod der Patient*innen riskiert. Sowohl Patient*innen mit „guter“ als auch mit „schlechter“ Prognose würden ihrem Leiden ohne Intensivtherapie erliegen. „Dringlicher“ ist ein Patient nur, wenn man bei zwei Patienten mit absehbarer Notwendigkeit intensivmedizinischer Versorgung denjenigen, der die Schwelle des Lungenversagens zufällig fünf Minuten früher überschreitet, als in einer substantiell anderen Lage als seine Mitpatientin ansieht. Das wäre aus medizinischer Sicht nicht nachvollziehbar. Bei Transplantationspatient*innen, die ohne Spenderorgan oft noch Monate oder Jahre leben können, ist die Verteilung der Organe nach Dringlichkeit sinnvoll. Bei der COVID-Triage, wo beide Patient*innen im Fall eines negativen Triagebescheides versterben würden, käme ein solches Verteilungskriterium letztlich dem Zufallsprinzip gleich.
Wiederum andere Stimmen in der Literatur (z.B. Walter, Gutmann/Fateh-Moghadam) argumentieren, dass ein genau auf diesem Zufallsprinzip basierendes Losverfahren anzuwenden sei, um vorurteilsbefangene ärztliche Prognoseeinschätzungen und damit unzulässige Diskriminierungen zu verhindern. Dem ist die tatsächliche Praxis des Prognoseprozesses entgegenzuhalten. Die Gefahr von “implicit biases” wird durch das Mehraugen-Prinzip vermindert, auch wenn mittelbare Verletzungen des Gleichbehandlungsgebots nicht ausgeschlossen sind. Das Los träfe aber mit 50%iger Sicherheit das Individuum, dessen Überleben unwahrscheinlicher ist. Eine Misserfolgsquote, die Ärzt*innen kaum schlagen könnten.
Gemeinsam ist allen referierten Gegenvorschlägen, dass mehr Menschen sterben würden, als bei einer Verteilung nach den bestehenden Leitlinien. Die Menschen, die in diesen Systemen eine Intensivbehandlung erhalten, würden diese nicht nur weniger wahrscheinlich überleben. Auch insgesamt erhielten weniger Menschen eine Intensivbehandlung, da Personen mit günstigerer Überlebensprognose ein Intensivbett oft kürzer belegen.
Die Rolle des Gesetzgebers
Da sich die DIVI-Leitlinie bereits nach einem sowohl verfassungsrechtlich legitimen als auch medizinisch anwendbaren Prinzip richtet, trifft den Gesetzgeber kein Zwang zur Rechtsetzung. Um nicht missverstanden zu werden: Keinesfalls ist dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich verboten, ein Triage-Gesetz zu erlassen (so aber Merkel/Augsberg). Das Argument, der Gesetzgeber dürfe einen Bereich nicht regeln, weil jede mögliche (und in der Praxis dennoch angewendete) Regelungsausgestaltung verfassungswidrig wäre, widerlegt sich selbst. Folgt man dieser Annahme, würde der Staat die konstatierten „Verletzungen der Menschenwürde“ durch Verzicht auf ein schadensbegrenzendes Gesetz billigen. Es kann allerdings schwerlich ein Gebot der Menschenwürde sein, mittelbare Grundrechtsverletzungen einem demokratisch legitimierten Gesetz vorziehen zu müssen (zutreffend Walter und Engländer).
Was der Gesetzgeber etwa regeln könnte, wären sekundäre, die Maximierungsformel komplettierende und ergänzende Verteilungsprinzipien. Freigestellt wäre dem Bundestag, etwa diejenigen zu priorisieren, die lebensrettende Institutionen aufrechterhalten. Sowohl Wahrer der öffentlichen Ordnung und zentraler Staatsfunktionen, wie etwa Mitglieder des Bundeskabinetts, als auch medizinisch essentielles Personal, wie zum Beispiel Intensivpflegekräfte, könnten so per Gesetz priorisiert werden.
Im wichtigsten Punkt, dem Verteilungsprinzip, herrscht auch ohne Gesetz Einigkeit zwischen Leitlinie und Verfassung. Dass juristische und medizinische Fachkreise die Triage-Problematik bis jetzt trotzdem eher neben- als miteinander diskutiert haben, liegt nicht zuletzt daran, dass Mediziner in rechtsdogmatischen Beiträgen oft den Bezug zur klinischen Realität vermissen, während medizinische Artikel rechtliche Rahmenbedingungen meist nicht einmal bedenken. Beide Blickwinkel zu vereinen ist aber ebenso notwendig wie möglich.
Vielen Dank! Das ist meiner Meinung nach der bislang beste Beitrag zu dem Thema (und ich habe viele gelesen).
Bemerkenswert auch, dass ein kurzer Blogpost zweier Studierender (nicht despektierlich gemeint!) genügt, um die nicht wenigen Fehlannahmen und -schlüsse verschiedener hochdekorierter Lehrstuhlinhaber aufzuzeigen und so die Luft aus einer aufgeblähten Diskussion entweichen zu lassen.
Knoll und Rausch leisten einen wertvollen Beitrag zur Debatte über die Legitimität von Triageentscheidungen durch das aufzeigen medizinischer Realitäten im Kontext der juristischen Fragestellung. verkennen leider grundlegende Problematiken des Sachverhaltes über den sie schreiben.
Der die Analyse des Einsatzes des Erfolgsprinzips (Priorisierung derer mit der höchsten Überlebenschance”) verkennt vollständig und detrimental den Effekt komparativer Vorteile.
Zur illustration nehme man z.B. zwei COVID-19 Patienten die Intensivmedizinische Behandlung benötigen an. Nehmen wir weiter an, einer der Patienten, PatientIn A, überlebe ohne Behandlung stochastisch in 75% der Fälle, mit der Behandlung aber in 90% der Fälle. Ein anderer Patient oder Patientin mit existierender Behinderung, PatientIn B, könnte ohne die entsprechende Behandlung in 10% der Fälle und mit in 60% der Fälle überleben. Nach dem Erfolgsprinzip müsste PatientIn A behandelt werden. Dies hätte zur Folge dass die eingesetzten medizinischen Ressourcen einen geringeren Effekt hätten, d.h. weniger Leben retten würden, als wenn man sie dem/ der PatientIn B zur Verfügung gestellt hätte.
Knoll und Rausch postulieren hier allerdings dass im realistischen Triagefall alle Patienten ohne Behandlung keine Überlebenschance mehr hätten. Dies lässt zwei mögliche Schlüsse zu:
1. Alle Patienten mit Überlebenschance ohne Behandlung würden bereits vor der Triageentscheidung vorrangig behandelt und spielen deshalb keine Rolle oder,
2. Patienten mit Überlebenschance ohne intensivmedizinische Behandlung werden nachrangig derer behandelt, die ohne entsprechende Behandlung keine Chance mehr hätten.
Beide dieser Szenarien vereint dass hier eine nicht lebensmaximierende Priorisierung / Posteriorisierung von Patienten stattfindet.
Eine strenge Anwendung des Erfolgsprinzips stellt daher keine Maximierung von geretteten Leben mit begrenzten intensivmedizinischen Ressourcen dar.
Es müsste also zu diesem Zwecke vielmehr ein Verteilungsmechanismus kodifiziert werden der den Effekt begrenzter med. Ressourcen optimal ausnutzt.
Die sich zu erörternde Frage beschränkt sich ja des Weiteren nicht auf die Verfassungsmäßigkeit des Verteilungsmechanismus, sondern auch auf den Bedarf einer Legitimation eines solchen durch einen demokratischen Gesetzgeber.
Außer Frage steht dass die Chancen behinderter Menschen oder entsprechend Vorerkrankter, ceteris paribus, auf lebensrettende Behandlung niedriger sind als die a priori Gesunder. Dies mag, oder mag nicht, entsprechend der Argumentation von Knoll und Rausch verfassungsgemäß sein, jedoch liegt aber auf der Hand dass derartig schwerwiegende Entscheidungen bestenfalls durch ein demokratisch gewähltes Parlament legitimiert werden sollten. Gerade z.B. Verfahren zur Vermeidung impliziter Diskriminierung sollten nicht von den Medizinern selbst, sondern durch die Legislative bestimmt werden.
Nach meiner Auffassung ist es ein Trugschluss zu glauben, dass die DIVI-Leitlinie eine ausreichende Entscheidungsgrundlage für Ärzte in einer Triage-Situation darstellt. Zumindest in der arzthaftungsrechtlichen Rechtsprechung des V. Zivilsenats des BGH ist anerkannt, dass Leitlinien, insb. wenn es S1-Leitlinien wie diese sind, also eine Leitlinie, der geringsten wissenschaftlichen Evidenz, keine Verbindlichkeit für den Arzt schafft und ihn auch nicht exkulpiert, sofern er fehlerhaft handelt. Entscheidend ist dort zumindest der in § 630a BGB ausgeformte Facharztstandard, nach dem der Arzt jederzeit kritisch prüfen muss, ob er nicht von der Leitlinie abweichen muss. Ein starren festhalten verbietet sich gerade. Ob deshalb die DIVI-Leitlinie ausreicht um den Arzt in einem Strafverfahren zu exkulpieren ist zumindest nach meiner Meinung fraglich.
Mich hat der Beitrag weithin überzeugt. Im Februar erscheint bei Mohr/Siebeck: Hörnle/Huster/Poscher (Hrsg.), Triage in Pademien. In meinem eigenen Beitrag zu diesem Band komme ich zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie Knoll/Rausch. Die Diskussion geht also weiter…
Ich kann der Schlussfolgerung des Artikels zwar zustimmen, aber mir scheint es würden hier einige Sachverhalte durcheinandergeworfen und insbesondere die ärztliche Berufsfreiheit vollständig vergessen. In Summe bleibt ein fragwürdiger utilitaristischer Ansatz mit einer nicht nachvollziehbaren Zielgröße.
Zunächst zu einigen Detailfehlern:
“Unter der Ärzt*innenschaft selbst wird die Leitlinie schon allein deshalb anerkannt, da sie von Expert*innen der Fachgesellschaften für Intensivmedizin, Notfallmedizin, Anästhesiologie, Lungenmedizin, Palliativmedizin und Medizinethik erstellt wurde.”
Dieser Abschnitt ist schlicht sachlich falsch. Nur weil eine Leitlinien-Kommission, zusammegesetzt aus einzelnen Mitgliedern der Ärzteschaft, irgendetwas beschließt, bedeutet dies nicht automatisch dass die Ärzteschaft insgesamt (kollektiv) dies auch anerkennt. Leitlinien stellen maximal einen Mehrheitskonsens dar, der abweichende Meinungen ohnehin nur im Entstehungsprozess, nicht aber im Ergebnis berücksichtigen kann. Besonders bei Leitlinien niedrigen Evidenzgrades, d.h. solchen die im Wesentlichen auf Expertenmeinung basieren, ist von Vornherein nicht sichergestellt, dass diese auch repräsentativ die Meinung der praktizierenden Ärzteschaft entsprechen. Weiterhin gibt es erhebliche Mängel bezüglich der Besetzung der Leitlinienkommissionen, werden diese nicht demokratisch, d.h. nach allgemeiner, freier, gleicher und geheimer Wahl durch die den Ärztekammern in den relevanten Fachgbieten angehörigen Ärzte/Ärztinnen gewählt, sondern in der Regel in undurchsichtigen Prozessen der Fachgesellschaften (welche rechtlich nicht mehr als eingetragene Vereine sind) “benannt”. Daher lässt sich schon aus Gründen der fragwürdigen Ausgestaltung der Kommissionen – kurz: der Klüngelei dieser Gremien – keine allgemeine Gültigkeit der Leitlinien für die Ärzteschaft herleiten. Rechtlich bindende Wirkung entfalten Leitlinien, wie Michael Griehl oben zutreffend bemerkt, ohnehin nur sehr begrenzt.
“Nicht “professionalisiertes Bauchgefühl” ist gefragt, sondern die Fundierung der Entscheidung in quantifizierbaren Parametern, die in der Intensivmedizin standardmäßig erhoben werden. Auf diesen Parametern basierende Prognose-Scores sind übliche Instrumente der Intensivmedizin. Der Zustand des Individuums wird wissenschaftlich, nicht subjektiv-normativ bewertet.”
Dieser Abschnitt ist zumindest praxisfern, da die meisten dieser Scores (APACHE-II und Co.) ein erheblich zu großes Konfidenzintervall aufweisen, als dass sie eine realistische Prognose ermöglichen. Dadurch erreichen sie kaum die notwendige Trennschärfe um den Erfolg zweier Fälle vergleichend beurteilen zu können, außer in eben jenen Fällen in denen das geschmähte “professionelle Bauchgefühl” ohnehin ausreichen würde. Letztlich gilt auch in der Medizin das Bonmot, dass sich die Zukunft eben solange voraussagen lässt, bis sie dann doch anders eintritt. Wird unten noch verneint, dass ein routiniertes Abhaken von Vorerkrankungen wünschenswert ist, würde es mit der Verwendung dieser Scores perakut Realität – mit allen Folgefehlern, die durch das erwartbare Manipulieren dieser Scores (oder zumindest deren Dokumentation) zu erwarten ist. Was als Maßnahme zur Objektivierung der Prognose beginnt, könnte so schnell zum klinischen Sicherheitsrisiko werden – wie es bei den so häufig zitierten Organallokationen bereits mehrfach vorgekommen ist, würden diese Scores in der Praxis wohl schnell gefälscht werden, um den therapeutischen Überzeugungen der behandelnden Ärzte/Ärztinnen gerecht zu werden.
Wenn also die Autoren schreiben, dass “Missverständnisse zu klinischen Realität ausgeräumt” worden sein sollen, muss man vorsichtig anfragen
ob die Autoren nicht ein verzerrtes Bild dieser Realität haben – es erscheint mit etwas weltfremd, mit welcher Absolutheit der Artikel hier auftritt.
Weiterhin bleibt der Artikel eine wesentliche Erörterung schuldig, warum die Perspektive der zu rettenden Lebensjahre abzulehnen ist. Jeder Mensch stirbt, und so ist eine medizinische Intervention eben immer nur ein “Erkaufen” von Lebenszeit. Wenn also das Maximierungsgebot, dass die Autoren eingangs ohne weitere Begründung zum Maß der Dinge erheben, gilt, müssen zwangsläufig die geretteten Lebensjahre, Qualitäts- oder wellbeing-adjustiert, gemeint sein (QUALYs/WELLBYs). Dies ist der etablierte Standard solcher Abwägung in der zugehörigen medizinwissenschaftlichen Fachliteratur. Die Autoren nennen keinen überzeugenden Grund, warum dieser Standard hier verlassen wird zugunsten einer binären Unterscheidung “Überleben/Sterben”.
Man stelle sich die groteske Situation vor, eine Triageentscheidung fällt zugunsten eines 96-jähirgen, an schwerer koronarer Herzkrankheit Leidenden, da dieser gemäß seinem APACHE-II-Score eine marginal geringere Sterbewahrscheinlichkeit als ein 25-jähriger, werdender Familienvater hat. Letzterer verstirbt nun in der Hypoxie, während der erfolgreich austherapierte 96-jährige zwar Intubation und Beatmung überlebt, aber beim Verlassen des Klinikgeländes einen tödlichen Herzinfarkt erleidet. Völlig verständlicherweise fühlte sich die trauernde Witwe des 25-Jährigen von einer solchen Regelung verhöhnt.
Letztlich völlig unter den Tisch fällt die Tatsache, dass die Entscheidung über eine Behandlung (oder deren ressourcenbedingtes Unterbleiben) eben beim behandelnden Arzt liegt. Dieser allein hat seine Entscheidung vor dem Gesetz aber eben auch vor seinem Gewissen zu verantworten. §323c wird ohnehin nicht zur Anwendung kommen, da die Pflicht einer hilfbedürftigeren Person zu helfen die Pflicht zur Hilfeleistung gegenüber weniger hilfbedürftigen Personen entschuldigt. Was hier nötig wäre, wäre vor allem eine Entscheidung, die die Subjektivität der Einschätzung der Hilfsbedürftigkeit anerkennt und diese Verantwortung eben dem behandelnden Arzt/der behandelnden Ärztin auferlegt. Die Illusion der Objektivierbarkeit, die hier erzeugt wird ist ebenso fehl am Platze wie die Verkürzung der Tragweite einer Therapieentscheidung auf das “Überleben”. So degradiert eine rechtliche Regelung, die diese Entscheidung versucht in Formalien zu pressen oder – noch schlimmer – an undurchsichtige Leitlinienkommissionen überträgt den ärztlichen Beruf zum Handlanger einer staatlich sanktionierten quantitativen Überlebensoptimierung, was weder dem Anspruch der Professionalität des Arztberufs noch der interindividuellen Tragweite seiner Praxis gerecht wird.
Es ist vielleicht ein Zeichen der medizinischen Zeit, dass hier versucht wird genuin menschliche Tragödien die nur Verlierer kennen in Leitlinien und Gesetze zu pressen – recht offensichtlich im Versuch, sich im Falle einer solchen Entscheidung zu exkulpieren mit dem Verweis auf eine unpersönliche “Regel”.
Und so erklärt sich auch das Pseudonym für diesen Kommentar, hat doch der reale Gustav Adolf Michaelis seine Schuld erkannt und sich nicht mit dem Verweis auf den “standard of care” aus der Verantwortung gezogen. Ich wünsche mir heute, er hätte sie bewältigt und sich nicht suizidiert. Nicht nur wäre er wohl ein Gigant seines Faches geworden und hätte unzählige Frauen vor dem Tod bewahrt – er hätte auch menschlich ein Gigant werden müssen und mit seiner persönlichen Geschichte einen bis heute unrivalisierten Beitrag zur Medizinethik leisten können. Sein Ende ist heute ein Lehrstück über die Tragik des Arztberufes: wer behandelt macht sich schuldig, gleich wie er entscheidet.
Wenn also der Artikel hier gesättigt angibt, es wäre möglich rechtsdogmatische Erwägungen und die klinische Realität zu verbinden, kann man das zwar vorsichtig bejahen, aber nur hoffen, dass einmal ein solcher Artikel geschrieben wird – dieser hier ist es leider nicht.
Ich halte, anders wohl als Stefan Huster, eine ganze Menge an diesem Beitrag für falsch. Aber das mag hier dahinstehen.
Nicht dahinstehen lassen will ich aber die falsche Wiedergabe dessen, was bei Merkel/Augsberg (JZ 2020/14, 704 ff.) zu lesen ist. Nämlich keineswegs, wie Knoll/Rausch behaupten, dass es “dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich verboten [sei], ein Triage-Gesetz zu erlassen”. Im Gegenteil steht dort, dass für Fälle der sog. Ex-ante-Triage der – sogar strafbewehrte – Ausschluss “offensichtlich diskriminierender Entscheidungen über die Zuteilung des lebensrettenden Geräts ohne weiteres möglich und wünschenswert” sei (Merkel/Augsberg, aaO, 714).
Für unzulässig erklären Steffen Augsberg und ich in diesem Beitrag lediglich eine zwangsrechtliche Vorgabe positiver Kriterien. Beispielhaft: Verfassungsrechtlich nicht legitimierbar ist es, Herrn A in der Konkurrenz um das einzige verfügbare Intensivbett allein deshalb der Frau B vorzuziehen, weil er
– deutlich jünger ist oder (anders als Frau B) nicht an
– Mukoviszidose oder
– Parkinson oder
– COPD (Chronisch obstruktiver Lungenerkrankung) oder
– koronarer Herzerkrankung oder
– Krebs oder
– Diabetes oder
– an irgendeiner der zahlreichen weiteren Komorbiditäten leidet,
die alle eines gemeinsam haben: dass sie die “Erfolgschancen” der Behandlung substantiell verschlechtern. Über die Frage, ob ein solches, von schieren biographischen Zufällen abhängiges Kriterium für die Zuweisung von Lebenschance oder Sterbenszwang durch Dritte legitim sein kann, mag man ja mit Gründen streiten. Aber eben das sollte man tun, statt eine störende Gegenauffassung mit einer offensichtlichen Fälschung beiseite zu schieben.
Im übrigen muss man zwischen den unterschiedlichen Formen der Triage schon differenzieren, wenn man das Thema hinreichend klären will. Die sog. Ex-post-Triage – der nachträgliche (und tödliche) Entzug eines Beatmungsgeräts, das bereits an jemanden mit hinreichender Überlebenschance vergeben ist, um es einem späteren Patienten mit besserer Chance zuzuteilen – folgt anderen rechtlichen Maßgaben als die Ex-ante-Triage. Diese sind gesetzlich seit eh und je fixiert: im Totschlagsverbot des StGB. Denn der einzige für eine solche Tötungshandlung in Frage kommende Rechtfertigungsgrund, § 34 StGB, greift hier nicht. Er setzte ein “wesentliches Überwiegen” des Überlebensinteresses des später eingelieferten Patienten voraus. Wollte man das annehmen, statuierte man unterschiedlich gewichtige Ansprüche auf Lebensschutz. Das untersagt die Verfassung.
Alles das wäre bei Merkel/Augsberg nachzulesen – läse man denn, und begnügte sich nicht mit der Konstruktion eines glatt erfundenen Strohmanns, mit der man sich dann jedes eigene Argument schenken kann.
Sehr geehrter Herr Professor Merkel,
nichts liegt uns ferner, als der Debatte, welches Kriterium für die Zuweisung von Lebenschance oder Sterbenszwang legitim sein kann, auszuweichen. Dieser Blogbeitrag, in dem wir erläutern, warum das Maximierungsprinzip anzuwenden ist und welche Gründe nicht gegen ebenjenes sprechen, ist unsere Antwort auf diese Frage.
Wir möchten eindrücklich darum bitten, den kritisierten Satz “Um nicht missverstanden zu werden: Keinesfalls ist dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich verboten, ein Triage-Gesetz zu erlassen (so aber Merkel/Augsberg).” im Kontext unserer übrigen Ausführungen zu lesen:
Zu Beginn des in Kritik stehenden Absatzes kommen wir zu dem Ergebnis, dass sich die Kriterien der DIVI-Leitlinie bereits nach einem sowohl verfassungsrechtlich legitimen als auch medizinisch anwendbaren Prinzip richten. Deshalb sei eine deckungsgleiche Regelung des Gesetzgebers nicht mehr nötig (“trifft den Gesetzgeber kein Zwang zur Rechtsetzung”), aber durchaus erlaubt (“Um nicht missverstanden zu werden:”). Mit diesem Ergebnis kontrastieren wir sodann Ihre Position, dass der Gesetzgeber eben kein derartiges Gesetz erlassen dürfte. Eine zwangsrechtliche Vorgabe positiver Kriterien lehnt Ihr Artikel als verfassungsrechtlich unzulässig ab, wie Sie in Ihrem Kommentar selbst verdeutlichen.
Dass wir Sie also durchaus richtig verstanden und wiedergegeben haben, zeigt auch der Wortlaut des Folgesatzes, in dem wir von einem staatlichen “Verzicht auf ein schadensbegrenzendes Gesetz” schreiben, nicht von einem etwaigen Verbot eines solchen Gesetzes.
Auch aus dem Satz “der Gesetzgeber dürfe einen Bereich nicht regeln, weil jede mögliche (und in der Praxis dennoch angewendete) Regelungsausgestaltung verfassungswidrig wäre,” geht hervor, dass wir uns auf eine “in der Praxis (…) angewendete Regelungsausgestaltung” beziehen, also auf ebenjene gesetzgeberische Ausgestaltung positiver Kriterien, die von Ihnen abgelehnt wird.
Ihrem Vorwurf “eine störende Gegenauffassung mit einer offensichtlichen Fälschung beiseite zu schieben” und der “Konstruktion eines glatt erfundenen Strohmanns” möchten wir deshalb entschieden widersprechen.
Bitte erlauben Sie uns, an dieser Stelle unser Argument näher zu erläutern, um kein weiteres Missverständnis aufkommen zu lassen:
Ihre Position ist, dass eine “zwangsrechtliche Vorgabe positiver Kriterien” unzulässig sei und dass “der – sogar strafbewehrte – Ausschluss “offensichtlich diskriminierender Entscheidungen über die Zuteilung des lebensrettenden Geräts ohne weiteres möglich und wünschenswert” sei”.
Da Sie den gesetzlichen Ausschluss mancher Kriterien aber lediglich als “möglich und wünschenswert”, und offenbar nicht als zwingend notwendig ansehen, bliebe dem Gesetzgeber unter Ihrer Prämisse immer noch die Möglichkeit, eine diskriminierende, private Regelung von positiven Kriterien hinzunehmen, indem er keinerlei eigene (weder positive noch negative) Regelung erlässt.
Dies wurde von der ad-hoc Empfehlung des Deutschen Ethikrats, dessen Mitglied Sie sind, ausdrücklich beschrieben:
“Aus dem Verbot einer eigenen staatlichen Bewertung folgt nicht, dass entsprechende Entscheidungen nicht akzeptiert werden können. (…) Das verweist auf die Funktion zum Beispiel der Fachgesellschaften, die im Rahmen der vorgenannten Grundvorgaben wichtige Orientierungshilfen geben können und sollten, welche inhaltlich über das hinausgehen, was staatlicherseits zulässig wäre.“ (S.4)
Darauf bezieht sich unser Hinweis, dass es widersinnig sei, wenn der Staat die konstatierten „Verletzungen der Menschenwürde“ durch Verzicht auf ein schadensbegrenzendes Gesetz billigen, eine positive Regelung aber nicht selbst erlassen dürfe. Dieses Argument ist in seinem Aussagekern auch bei mehreren anderen Autoren zu finden, darunter Tonio Walter, der in seinem Zeit-Artikel treffend schreibt:
“Nun glaubt der Ethikrat indes, die Verfassung gebiete diesem Gesetzgeber zu schweigen, weil “der Staat” nie einem Leben Vorrang vor einem anderen einräumen dürfe. Doch zum einen ist es widersinnig, zugleich zu meinen, der Staat dürfe eine solche Entscheidung in die Hände medizinischer Fachverbände legen. Erstens sind diese Verbände in Sachen Ethik keine höhere oder fähigere Instanz als das Parlament. Zweitens wäre eine solche Delegation ganz ebenso eine Entscheidung des Staates, und zwar die Zustimmung zu allem, was die Fachverbände sodann für ethisch richtig halten.”
Zuletzt noch zu Ihrer Nebenbemerkung: Wir sind ebenfalls der Meinung, dass die Diskussion aller Formen der Triage wichtig ist. Der Kürze des Blogbeitrags willen und nicht zuletzt, weil auch wir die Ex-post-Triage für ausreichend (straf)rechtlich geregelt ansehen, haben wir uns auf die Ex-ante-Triage konzentriert. Alle Szenarien des Artikels sind erkennbar in diesem Kontext angesiedelt.
Mit freundlichen Grüßen
Ann-Kristin Knoll und Christian Rausch
Ich staune. Also noch einmal: Bei Merkel/Augsberg heißt es, eine gesetzliche Regelung, die den Ausschluss “spezifischer, offensichtlich diskriminierender Entscheidungen über die Zuteilung des lebensrettenden Geräts” anordnete, sei “ohne weiteres möglich und wünschenswert”. Sie geben diese Auffassung wieder als die Behauptung, es sei “dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich verboten, ein Triage-Gesetz zu erlassen”.
Das ist eine Verfälschung der kritisierten Meinung in ihr genaues Gegenteil. Diese Missdeutung ergänzen Sie mit dem ausgesprochen unerschrockenen Hinweis, das Merkel und Augsberg unterschobene “Argument” eines Regelungsverbots widerlege “sich selbst”. Denn es postuliere nichts Geringeres als die staatliche Billigung von “Verletzungen der Menschenwürde durch Verzicht auf ein schadensbegrenzendes Gesetz”. Das ist eine zweite und ins halbwegs Bizarre spielende Irreführung. Der von Merkel/Augsberg geforderte gesetzliche Ausschluss “offensichtlich diskriminierender” Kriterien, für den die Autoren ausdrücklich auf den “Katalog in Art. 3 Abs. 3 GG als eine plausible Grundlage” verweisen, hat ersichtlich keinen anderen Sinn als den einer Verhinderung menschenwürdewidriger Entscheidungen.
An diesem Befund evidenter Verfälschungen ändern weitschweifig rabulistische Exkursionen in andere Überlegungen, die bei Ihnen auch noch vorkommen oder doch gemeint seien, nichts. Und welche Funktion Ihr Verweis auf eine Stellungnahme des Ethikrats (der 26 Mitglieder hat) für die Beglaubigung Ihrer Missdeutung eines ganz anderen Textes zweier Autoren haben soll, ist unerfindlich.
Aber da nun gerade Weihnachten vor der Tür steht, hier ein freundlicher Hinweis: In der (ggf. selbst-induzierten) Hitze wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mag einem schon einmal ein Fehler unterlaufen. Wird man darauf hingewiesen, so ist es unter jedem denkbaren Gesichtspunkt besser, den Irrtum einzuräumen, als ihm mit einer zwielichtigen Alchemie des Haarespaltens einen Anschein von Korrektheit verschaffen zu wollen, der keinem genaueren Blick standhält.
Mit dieser Empfehlung, besten weiteren Wünschen zu den Feiertagen und freundlichen Grüßen
Reinhard Merkel