10 Dezember 2020

Was zählt, ist der Erfolg

Warum bei der COVID-Triage kein Gesetz nötig ist

Seit Ausbruch der COVID-Pandemie gibt es eine lebhafte Debatte, ob die Verteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen in der Pandemie gesetzlich geregelt werden muss. Bis jetzt gibt es keine Gesetzesnorm, die diese so genannte Triage-Situation allgemein reguliert. Daher käme zurzeit die bereits im Frühjahr unter Federführung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin (DIVI) etablierte Leitlinie zur Anwendung. Manche befürchten, die Verteilungsregeln dieser Leitlinien seien diskriminierend, weshalb ein Gesetz zur Grundrechtswahrung erlassen werden müsse. Darauf dringt auch eine Verfassungsbeschwerde, die derzeit vor dem BVerfG anhängig ist. Wir halten dies für unbegründet.

Entscheidend ist das Recht auf Leben

Aus verfassungsrechtlicher Sicht muss in der COVID-Triage versucht werden, die größtmögliche Anzahl an Leben zu retten. Diesem Ziel wird allein eine Verteilungsregel gerecht, die nach dem Erfolgsprinzip priorisiert, also intensivmedizinische Ressourcen nach Überlebenschance zuteilt. Das hier unmittelbar gefährdete Recht auf Leben ist ein verfassungsrechtlicher Höchstwert, der vorrangig vor anderen Rechtsgütern zu schützen ist. Zwar folgt aus der Menschenwürdegarantie der Grundsatz, dass nicht nach dem Wert des jeweiligen Lebens differenziert werden darf. Aber dieser Grundsatz bleibt bei der Posteriorisierung von Personen mit geringerer Überlebenschance gewahrt, da kein aktiver Eingriff in ihr Lebensrecht stattfindet, sondern sie lediglich aufgrund einer Knappheitssituation nicht vor der schicksalhaften Gefahr, an COVID-19 zu sterben, gerettet werden. Ebenfalls nicht betroffen ist das grundrechtliche Abwehrrecht, für die Rettung anderer nicht instrumentalisiert und getötet zu werden, was das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz ausdrücklich untersagt hat. Worauf es vielmehr ankommt, ist die Frage, wie der Staat seiner Schutzpflicht für das Leben am besten genügt, wenn er gezwungen ist, bestimmten Menschen Hilfsmaßnahmen vorzuenthalten. Tatsächlich ist dabei die Maximierungsformel, also die Zuteilung zum Zwecke des Überlebens möglichst vieler Personen, die stärkste Bekräftigung des individuellen Lebenswerts jedes Menschen (ausführlich dazu Hong, Taupitz).

Im Widerspruch dazu scheint ein Urteil des Bundesgerichtshofs zu Manipulationen bei Organtransplantationen zu stehen, das bisweilen als Beweis für die Unzulässigkeit des Erfolgsprinzips herangezogen wird (Gutmann/Fateh-Moghadam, Gelinsky). Das ist eine Fehlinterpretation. So habe das Gericht mit Blick auf den Grundrechtsschutz „durchgreifende Bedenken“ dagegen geäußert, dass nach § 12 Abs. 3 TPG transplantierbare Organe nach Erfolgsaussicht verteilt werden, soweit dadurch manche Patient*innen kaum Behandlungschancen hätten. Die verfassungsrechtliche Kritik des BGH bezog sich aber nur auf eine einzelne Klausel, welche Alkoholiker*innen ohne 6-monatige Karenzzeit strikt von der Organverteilung ausschloss, wofür auch „keine medizinischen Gründe existieren“. Eine Verwerfung des Kriteriums der Erfolgsaussicht sieht anders aus.

Die unter der Mitwirkung von Jurist*innen erstellte DIVI-Leitlinie schreibt die Anwendung des Erfolgsprinzips unmissverständlich vor. Auch wenn der Leitlinie kein Gesetzescharakter zukommt, würde sie bei Gerichtsverfahren gegen zuwiderhandelnde Ärzt*innen als Maßstab herangezogen werden. Unter der Ärzt*innenschaft selbst wird die Leitlinie schon allein deshalb anerkannt, da sie von Expert*innen der Fachgesellschaften für Intensivmedizin, Notfallmedizin, Anästhesiologie, Lungenmedizin, Palliativmedizin und Medizinethik erstellt wurde.

Der realistische Triagefall

Doch wann käme die Leitlinie zum Einsatz? Personen, bei denen auch mit Intensivbehandlung keine Heilung zu erwarten ist, erhalten unabhängig von Knappheitsbedingungen keine Intensivtherapie. Triage findet nur zwischen Patient*innen mit realistischer Heilungschance statt. Allerdings sollte man berücksichtigen, dass auch mit Intensivtherapie eine Mehrheit der Patient*innen verstirbt.

Viele Beiträge im juristischen Diskurs, darunter Kersten/Rixen, suggerieren, dass der Triage-Situation ein Sachverhalt zugrunde liegt, in dem ein Intensivbett innerhalb kürzester Zeit eine*r von zwei COVID-19-Patient*innen zugewiesen werden muss. In der Klinikrealität werden solche Entscheidungen jedoch in aller Regel nicht in Sekunden oder ausschließlich zwischen COVID-19-Erkrankten getroffen. Verschlechterungen des Gesundheitszustands sind oft Stunden zuvor absehbar, was genügend Zeit für eine informierte, individuelle Prognoseentscheidung durch erfahrene Ärzt*innen unter Beachtung des Mehraugen-Prinzips lässt. Hierbei wird, anders als von manchen befürchtet, kein Katalog vorbestehender Erkrankungen blind abgehakt. Nicht “professionalisiertes Bauchgefühl” ist gefragt, sondern die Fundierung der Entscheidung in quantifizierbaren Parametern, die in der Intensivmedizin standardmäßig erhoben werden. Auf diesen Parametern basierende Prognose-Scores sind übliche Instrumente der Intensivmedizin. Der Zustand des Individuums wird wissenschaftlich, nicht subjektiv-normativ bewertet.

Kersten und Rixen geben mit Verweis auf die Situation bei Organallokationsverfahren noch zu bedenken, dass das Kriterium der Erfolgsaussicht nicht nur auf Prognosen zur Heilungschance, sondern zugleich auch auf Prognosen zur erreichbaren Lebensqualität basiere und daher notwendigerweise eine normative Komponente habe. Dies mag zwar für die Allokation von Organen nach dem Transplantationsgesetz stimmen und wird beispielsweise in Großbritannien vom NHS generell praktiziert. Die DIVI-Leitlinie sieht aber explizit etwas anderes vor. Die Prognose betrifft lediglich eine wertungsfreie Minimalnutzenschwelle: “Einschätzung der individuellen Erfolgsaussicht des Patienten, also der Wahrscheinlichkeit, die aktuelle Erkrankung durch Intensivtherapie zu überleben.” Patient*innen mit höherer Heilungschance werden priorisiert, unabhängig davon, welche Lebensqualität nach der Therapie vermutlich erreicht würde. Das ist wichtig, da Entscheidungsgründe, die an eine unterschiedliche Bewertung des Lebensrechts der Beteiligten anknüpfen, verfassungsrechtlich gesperrt sind.

Daraus ergibt sich, dass Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen nicht per se weniger aufwändig behandelt werden. Wenn es die Vorerkrankung im Einzelfall unwahrscheinlicher macht, die Intensivbehandlung zu überleben, sollte eine Person mit besseren Überlebenschancen bevorzugt werden. Eine Behinderung spielt für die Prognoseentscheidung nur dann eine Rolle, wenn sie die Erfolgswahrscheinlichkeit der Intensivtherapie beeinflusst. Darin liegt keine unerlaubte Diskriminierung.

Auch die erwartete Lebensdauer nach der Therapie ist unerheblich. Zwar wird von manchen Medizinethiker*innen und der entsprechenden Triage-Leitlinie in Italien die Maximierung geretteter Lebensjahre statt geretteter Leben gefordert. Die Autoren der DIVI-Leitlinie grenzen sich hiervon aber zu Recht unmissverständlich ab. Eine fitte Siebzigjährige würde nach der Leitlinie einem multimorbiden Fünfzigjährigen vorgezogen werden.

Damit sollten einige Missverständnisse zur klinischen Realität ausgeräumt sein. An dieser Realität müssen sich vorgebrachte Gegenvorschläge messen lassen.

Die Gegenvorschläge

Laut der derzeit beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfassungsbeschwerde sollte das Prioritätsprinzip (“wer zuerst kommt, mahlt zuerst”) zur Anwendung kommen. Das böte jedoch einen Anreiz zu einem Windhundrennen um Intensivbetten und würde das Gesundheitssystem nur noch weiter überlasten. Außerdem diskriminiert dieses scheinbar faire System infrastrukturell benachteiligte Personengruppen wie die ländliche Bevölkerung, die erst in eine Klinik mit COVID-19-Intensivstation verlegt werden müssten.

Die im juristischen Schrifttum oft erhobene Forderung, nach “medizinischer Dringlichkeit” zu priorisieren, bricht sich von vornherein an der medizinischen Realität. Besonders in Zeiten der Knappheit gilt, dass die Indikation zur Intensivtherapie nur bei dringender Erforderlichkeit gestellt wird. Invasive Verfahren wie die ECMO (extrakorporale Membranoxygenierung) ohne dringliche Notwendigkeit anzuwenden, wäre außerdem höchst fragwürdig, da ihr Einsatz erhebliche Komplikationen bis hin zum Tod der Patient*innen riskiert. Sowohl Patient*innen mit „guter“ als auch mit „schlechter“ Prognose würden ihrem Leiden ohne Intensivtherapie erliegen. „Dringlicher“ ist ein Patient nur, wenn man bei zwei Patienten mit absehbarer Notwendigkeit intensivmedizinischer Versorgung denjenigen, der die Schwelle des Lungenversagens zufällig fünf Minuten früher überschreitet, als in einer substantiell anderen Lage als seine Mitpatientin ansieht. Das wäre aus medizinischer Sicht nicht nachvollziehbar. Bei Transplantationspatient*innen, die ohne Spenderorgan oft noch Monate oder Jahre leben können, ist die Verteilung der Organe nach Dringlichkeit sinnvoll. Bei der COVID-Triage, wo beide Patient*innen im Fall eines negativen Triagebescheides versterben würden, käme ein solches Verteilungskriterium letztlich dem Zufallsprinzip gleich.

Wiederum andere Stimmen in der Literatur (z.B. Walter, Gutmann/Fateh-Moghadam) argumentieren, dass ein genau auf diesem Zufallsprinzip basierendes Losverfahren anzuwenden sei, um vorurteilsbefangene ärztliche Prognoseeinschätzungen und damit unzulässige Diskriminierungen zu verhindern. Dem ist die tatsächliche Praxis des Prognoseprozesses entgegenzuhalten. Die Gefahr von “implicit biases” wird durch das Mehraugen-Prinzip vermindert, auch wenn mittelbare Verletzungen des Gleichbehandlungsgebots nicht ausgeschlossen sind. Das Los träfe aber mit 50%iger Sicherheit das Individuum, dessen Überleben unwahrscheinlicher ist. Eine Misserfolgsquote, die Ärzt*innen kaum schlagen könnten.

Gemeinsam ist allen referierten Gegenvorschlägen, dass mehr Menschen sterben würden, als bei einer Verteilung nach den bestehenden Leitlinien. Die Menschen, die in diesen Systemen eine Intensivbehandlung erhalten, würden diese nicht nur weniger wahrscheinlich überleben. Auch insgesamt erhielten weniger Menschen eine Intensivbehandlung, da Personen mit günstigerer Überlebensprognose ein Intensivbett oft kürzer belegen.

Die Rolle des Gesetzgebers

Da sich die DIVI-Leitlinie bereits nach einem sowohl verfassungsrechtlich legitimen als auch medizinisch anwendbaren Prinzip richtet, trifft den Gesetzgeber kein Zwang zur Rechtsetzung. Um nicht missverstanden zu werden: Keinesfalls ist dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich verboten, ein Triage-Gesetz zu erlassen (so aber Merkel/Augsberg). Das Argument, der Gesetzgeber dürfe einen Bereich nicht regeln, weil jede mögliche (und in der Praxis dennoch angewendete) Regelungsausgestaltung verfassungswidrig wäre, widerlegt sich selbst. Folgt man dieser Annahme, würde der Staat die konstatierten „Verletzungen der Menschenwürde“ durch Verzicht auf ein schadensbegrenzendes Gesetz billigen. Es kann allerdings schwerlich ein Gebot der Menschenwürde sein, mittelbare Grundrechtsverletzungen einem demokratisch legitimierten Gesetz vorziehen zu müssen (zutreffend Walter und Engländer).

Was der Gesetzgeber etwa regeln könnte, wären sekundäre, die Maximierungsformel komplettierende und ergänzende Verteilungsprinzipien. Freigestellt wäre dem Bundestag, etwa diejenigen zu priorisieren, die lebensrettende Institutionen aufrechterhalten. Sowohl Wahrer der öffentlichen Ordnung und zentraler Staatsfunktionen, wie etwa Mitglieder des Bundeskabinetts, als auch medizinisch essentielles Personal, wie zum Beispiel Intensivpflegekräfte, könnten so per Gesetz priorisiert werden.

Im wichtigsten Punkt, dem Verteilungsprinzip, herrscht auch ohne Gesetz Einigkeit zwischen Leitlinie und Verfassung. Dass juristische und medizinische Fachkreise die Triage-Problematik bis jetzt trotzdem eher neben- als miteinander diskutiert haben, liegt nicht zuletzt daran, dass Mediziner in rechtsdogmatischen Beiträgen oft den Bezug zur klinischen Realität vermissen, während medizinische Artikel rechtliche Rahmenbedingungen meist nicht einmal bedenken. Beide Blickwinkel zu vereinen ist aber ebenso notwendig wie möglich.


SUGGESTED CITATION  Knoll, Ann-Kristin; Rausch, Christian: Was zählt, ist der Erfolg: Warum bei der COVID-Triage kein Gesetz nötig ist, VerfBlog, 2020/12/10, https://verfassungsblog.de/was-zahlt-ist-der-erfolg/, DOI: 10.17176/20201210-225608-0.

8 Comments

  1. Jessica Lourdes Pearson Do 10 Dez 2020 at 17:25 - Reply

    Vielen Dank! Das ist meiner Meinung nach der bislang beste Beitrag zu dem Thema (und ich habe viele gelesen).
    Bemerkenswert auch, dass ein kurzer Blogpost zweier Studierender (nicht despektierlich gemeint!) genügt, um die nicht wenigen Fehlannahmen und -schlüsse verschiedener hochdekorierter Lehrstuhlinhaber aufzuzeigen und so die Luft aus einer aufgeblähten Diskussion entweichen zu lassen.

  2. Florens Rilling Fr 11 Dez 2020 at 16:28 - Reply

    Knoll und Rausch leisten einen wertvollen Beitrag zur Debatte über die Legitimität von Triageentscheidungen durch das aufzeigen medizinischer Realitäten im Kontext der juristischen Fragestellung. verkennen leider grundlegende Problematiken des Sachverhaltes über den sie schreiben.

    Der die Analyse des Einsatzes des Erfolgsprinzips (Priorisierung derer mit der höchsten Überlebenschance“) verkennt vollständig und detrimental den Effekt komparativer Vorteile.
    Zur illustration nehme man z.B. zwei COVID-19 Patienten die Intensivmedizinische Behandlung benötigen an. Nehmen wir weiter an, einer der Patienten, PatientIn A, überlebe ohne Behandlung stochastisch in 75% der Fälle, mit der Behandlung aber in 90% der Fälle. Ein anderer Patient oder Patientin mit existierender Behinderung, PatientIn B, könnte ohne die entsprechende Behandlung in 10% der Fälle und mit in 60% der Fälle überleben. Nach dem Erfolgsprinzip müsste PatientIn A behandelt werden. Dies hätte zur Folge dass die eingesetzten medizinischen Ressourcen einen geringeren Effekt hätten, d.h. weniger Leben retten würden, als wenn man sie dem/ der PatientIn B zur Verfügung gestellt hätte.
    Knoll und Rausch postulieren hier allerdings dass im realistischen Triagefall alle Patienten ohne Behandlung keine Überlebenschance mehr hätten. Dies lässt zwei mögliche Schlüsse zu:
    1. Alle Patienten mit Überlebenschance ohne Behandlung würden bereits vor der Triageentscheidung vorrangig behandelt und spielen deshalb keine Rolle oder,
    2. Patienten mit Überlebenschance ohne intensivmedizinische Behandlung werden nachrangig derer behandelt, die ohne entsprechende Behandlung keine Chance mehr hätten.
    Beide dieser Szenarien vereint dass hier eine nicht lebensmaximierende Priorisierung / Posteriorisierung von Patienten stattfindet.

    Eine strenge Anwendung des Erfolgsprinzips stellt daher keine Maximierung von geretteten Leben mit begrenzten intensivmedizinischen Ressourcen dar.
    Es müsste also zu diesem Zwecke vielmehr ein Verteilungsmechanismus kodifiziert werden der den Effekt begrenzter med. Ressourcen optimal ausnutzt.

    Die sich zu erörternde Frage beschränkt sich ja des Weiteren nicht auf die Verfassungsmäßigkeit des Verteilungsmechanismus, sondern auch auf den Bedarf einer Legitimation eines solchen durch einen demokratischen Gesetzgeber.
    Außer Frage steht dass die Chancen behinderter Menschen oder entsprechend Vorerkrankter, ceteris paribus, auf lebensrettende Behandlung niedriger sind als die a priori Gesunder. Dies mag, oder mag nicht, entsprechend der Argumentation von Knoll und Rausch verfassungsgemäß sein, jedoch liegt aber auf der Hand dass derartig schwerwiegende Entscheidungen bestenfalls durch ein demokratisch gewähltes Parlament legitimiert werden sollten. Gerade z.B. Verfahren zur Vermeidung impliziter Diskriminierung sollten nicht von den Medizinern selbst, sondern durch die Legislative bestimmt werden.

  3. Michael Griehl Fr 11 Dez 2020 at 19:58 - Reply

    Nach meiner Auffassung ist es ein Trugschluss zu glauben, dass die DIVI-Leitlinie eine ausreichende Entscheidungsgrundlage für Ärzte in einer Triage-Situation darstellt. Zumindest in der arzthaftungsrechtlichen Rechtsprechung des V. Zivilsenats des BGH ist anerkannt, dass Leitlinien, insb. wenn es S1-Leitlinien wie diese sind, also eine Leitlinie, der geringsten wissenschaftlichen Evidenz, keine Verbindlichkeit für den Arzt schafft und ihn auch nicht exkulpiert, sofern er fehlerhaft handelt. Entscheidend ist dort zumindest der in § 630a BGB ausgeformte Facharztstandard, nach dem der Arzt jederzeit kritisch prüfen muss, ob er nicht von der Leitlinie abweichen muss. Ein starren festhalten verbietet sich gerade. Ob deshalb die DIVI-Leitlinie ausreicht um den Arzt in einem Strafverfahren zu exkulpieren ist zumindest nach meiner Meinung fraglich.

  4. Stefan Huster Sa 12 Dez 2020 at 16:06 - Reply

    Mich hat der Beitrag weithin überzeugt. Im Februar erscheint bei Mohr/Siebeck: Hörnle/Huster/Poscher (Hrsg.), Triage in Pademien. In meinem eigenen Beitrag zu diesem Band komme ich zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie Knoll/Rausch. Die Diskussion geht also weiter…

  5. Gustav Michaelis Mo 14 Dez 2020 at 23:27 - Reply

    Ich kann der Schlussfolgerung des Artikels zwar zustimmen, aber mir scheint es würden hier einige Sachverhalte durcheinandergeworfen und insbesondere die ärztliche Berufsfreiheit vollständig vergessen. In Summe bleibt ein fragwürdiger utilitaristischer Ansatz mit einer nicht nachvollziehbaren Zielgröße.

    Zunächst zu einigen Detailfehlern:

    „Unter der Ärzt*innenschaft selbst wird die Leitlinie schon allein deshalb anerkannt, da sie von Expert*innen der Fachgesellschaften für Intensivmedizin, Notfallmedizin, Anästhesiologie, Lungenmedizin, Palliativmedizin und Medizinethik erstellt wurde.“

    Dieser Abschnitt ist schlicht sachlich falsch. Nur weil eine Leitlinien-Kommission, zusammegesetzt aus einzelnen Mitgliedern der Ärzteschaft, irgendetwas beschließt, bedeutet dies nicht automatisch dass die Ärzteschaft insgesamt (kollektiv) dies auch anerkennt. Leitlinien stellen maximal einen Mehrheitskonsens dar, der abweichende Meinungen ohnehin nur im Entstehungsprozess, nicht aber im Ergebnis berücksichtigen kann. Besonders bei Leitlinien niedrigen Evidenzgrades, d.h. solchen die im Wesentlichen auf Expertenmeinung basieren, ist von Vornherein nicht sichergestellt, dass diese auch repräsentativ die Meinung der praktizierenden Ärzteschaft entsprechen.