Wie die EU ihre Souveränität, ihre Werte und Flüchtlinge schützen kann
Ein EU-Schutzplan anstelle des EU-Türkei-Abkommens
Die Vorkommnisse an der griechisch-türkischen Grenze machen deutlich: die EU braucht dringend einen neuen Plan im Umgang mit Flüchtlingen in der Region um Syrien. Das europäische Vorgehen muss dabei nicht nur realistisch sein, sondern ein demokratisches und menschenrechtliches Gegenmodell zum populistischen Abschotten bieten.
Was vom EU-Türkei Abkommen bleibt
Das EU-Türkei Abkommen ist zugrunde gegangen und muss nun begraben werden. Es war ein Plan, den Berater und Politiker am Reißbrett entwarfen. Angesichts der Verweigerung einiger europäischer Staaten, das europäische Prinzip des Flüchtlingsschutzes anzuerkennen, waren politische Machbarkeit und Pragmatik maßgebliche Kriterien. Das zentrale Ziel war, die Ankunft von Flüchtlingen in Europa zu verhindern. Nur so sei einem dem Orbán-Modell folgenden Rechtsruck in Europa entgegen zu wirken. Doch ziemlich genau vier Jahre nachdem das Abkommen in Kraft trat, zeigt sich das Scheitern dieser Strategie: an den Außengrenzen wird auf Schutzsuchende geschossen und Griechenland hat das Asylrecht ausgesetzt. Hat Orbán also gewonnen? Ist Europa dabei, seine demokratischen Grundsätze für gescheitert zu erklären? Die Antwort liegt in der Fähigkeit der EU, von ihrem momentanen Pfad der Flüchtlingsabwehr abzukehren.
Die Migrationsforschung und NGOs haben von Beginn an vor dem EU-Türkei Abkommen gewarnt. Die zentrale Idee des Abkommens war die sogenannte 1-zu-1-Regelung, nach der für jede*n aus Griechenland in die Türkei zurückgeführte*n Syrer*in ein Flüchtling aus der Türkei in der EU aufgenommen werden sollte. Rechtswissenschaftler*innen hatten betont, dass eine Abschiebung von Schutzsuchenden ohne Asylverfahren nicht möglich sei. Tatsächlich ließen griechische Gerichte dies oft nicht zu und in den ersten drei Jahren des Abkommens wurden unter 2.500 Migrant*innen abgeschoben – so viele wie im gleichen Zeitraum durchschnittlich pro Monat auf den griechischen Inseln ankamen. Das zentrale Instrument des Abkommens konnte nicht funktionieren, da die Türkei für Flüchtlinge nicht sicher ist.
Das Abkommen lief letztlich auf nicht mehr als einen Kuhhandel hinaus: Die EU lässt 6 Milliarden Euro für humanitäre Maßnahmen in die Türkei fließen, im Gegenzug verhinderte die türkische Regierung die Ausreise von Flüchtlingen. Nicht nur wurden Strukturen irregulärer Migration zerschlagen, syrische Flüchtlinge wurden an der Reise durch die Türkei in Richtung EU gehindert – auch das ein Bruch mit menschenrechtlichen Prinzipien. So erreichte die EU hier, was sie seit langem in anderen Staaten versucht: die Auslagerung des Grenzschutzes an benachbarte Regime.
Warum das EU-Türkei Abkommen im Interesse Europas enden muss
Die Politikwissenschaftlerin Kelly Greenhill hatte schon 2010 darauf hingewiesen, dass sich Staaten durch die Auslagerung ihrer Migrationspolitik in eine Abhängigkeit begeben. Migration kann zu einem Druckmittel gegen sie verwendet werden. Die türkische Regierung hat dies tatsächlich immer wieder genutzt, indem sie die Aufkündigung des Abkommens androhte. Dabei war das türkische Interesse nicht in erster Linie finanzieller Art oder auf irreguläre Migration bezogen. Es ging um das Vermeiden einer Kritik durch Europa am zunehmenden Autoritarismus im Nachbarland und an der türkischen Syrienpolitik, die zuletzt eine Vielzahl neuer Vertreibungen überhaupt zur Folge hatte.
Die EU hat folglich Teile ihrer Außenpolitik auf eine irrationale Furcht vor Flüchtlingen aufgebaut und sich damit in eine politische Abhängigkeit begeben, der andere internationale Interessen nachgeordnet wurden. Rufe nach einer Neuauflage des EU-Türkei Abkommens, nachdem die Türkei gerade zeigte, welche Macht ihr das Abkommen über die EU gibt, wirken wie ein kollektives Stockholm-Syndrom. Sorgt sich die EU wirklich um ihre Souveränität, so gewinnt sie diese nicht durch die Billigung enthemmter Gewalt gegen Geflüchtete an der Grenze zurück, sondern indem sie sich aus dem Migrationsabkommen mit der Türkei befreit.
Wie eine wirklich europäische Flüchtlingspolitik aussehen kann
Die Türkei instrumentalisiert die Not von Flüchtlingen. Die EU darf sich dabei nicht auf einen Wettbewerb der Unmenschlichkeit einlassen, mit dem sie ihre demokratischen Prinzipien zerstört. Der Trick ist, sich auf das menschenverachtende Spiel der Türkei nicht einzulassen. Indem die EU den Schutz von Flüchtlingen ernst nimmt, nimmt sie der Türkei jegliches Druckmittel aus der Hand. Die EU sollte nicht nur die wenigen 10.000 Flüchtlinge aus dem Niemandsland an seiner Außengrenze unmittelbar aufnehmen. Es braucht eine klare Botschaft, dass Flüchtlinge nicht als Druckmittel taugen und dass Europa Stärke aus Menschenrechten zieht. Die EU muss sich verpflichten, bis zu 1 Million Flüchtlinge aus der Türkei, aus Libanon und Jordanien sowie aus Griechenland über die kommenden fünf Jahre in der EU aufzunehmen und zu verteilen.
Die Türkei beherbergt zurzeit die meisten Flüchtlinge weltweit. Die genauen Zahlen sind umstritten aber nach Berechnungen des Migrationsforschers Franck Düvell sind es deutlich unter 3 Millionen. Von diesen will laut einer noch unveröffentlichten Umfrage des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) die Mehrheit nicht nach Europa. Im Libanon leben weitere 900.000, in Jordanien 650.000 im Exil, meist seit vielen Jahren. Mit der Bereitschaft der EU, für fast ein Viertel all jener Flüchtlinge einen Aufnahmeplatz bereit zu stellen, wären ausreichend Aufnahmekapazitäten gegeben. Die Option legaler Wege würde die Notwendigkeit irregulärer Migration obsolet machen.
Für Europa ergäben sich ganz entscheidende Vorteile aus einem solchen Programm: Mit Anreizen anstelle von Abwehr ließe sich Fluchtmigration weitgehend regularisieren und besser regeln. Die für Flüchtende gefährliche Überfahrt kann durch die Ausweitung existierender administrativer Systeme (relocation innerhalb der EU, resettlement aus Drittstaaten) abgelöst werden. Flüchtlinge würden so registriert, auf Status, Sicherheit und Gesundheit überprüft, und bei positivem Bescheid erhalten sie humanitäre Visa. Nicht nur würde die Türkei ihre mächtige Position als Türsteher Europas verlieren, Griechenland würde als Zugang zu Europa entlastet. Die EU würde die Souveränität über ihre Grenzen zurück erlangen.
Die Ausgestaltung des EU-Schutz-Plans
Die Aufnahme von jährlich 200.000 Flüchtlingen, also 1 Million über 5 Jahre, liegt höher als die aktuellen Ankunftszahlen in Griechenland, die 2019 bei knapp 75.000 lagen. Doch angesichts von 590.000 Asylerstanträgen in der gesamten EU in 2018 sind dies überschaubare und durch die Registrierungen handhabbare Zahlen. Wichtig ist, dass das Programm für alle Nationalitäten offensteht, die über die Türkei zur Schutzsuche einreisen. Stichtagsregelungen können einen Nachzug vermeiden, sollten aber auf erneute Vertreibungen wie jetzt in Idlib flexibel reagieren können. Ein solches Programm hat in der Neuansiedlung von über einer halben Million südostasiatischer Flüchtlinge zwischen 1989 und 1996 ein sehr erfolgreiches Vorbild, wie langanhaltende Vertreibungskrisen beendet werden können.
Eine wichtige Neuerung in diesem EU-Flüchtlingsplan ist ihre grenzübergreifende Geltung: auch Asylbewerber, die in Griechenland sind oder dort ankommen, werden über das gleiche Programm in der EU verteilt. Dies kann Vorteile durch eine irreguläre Einreise ausschließen. Eine Registrierung und positive Bescheinigung garantiert Flüchtlingen eine Aufnahme in der EU zu einem bestimmten Zeitpunkt in den 5 Jahren des Programms, egal in welchem der beteiligten Länder sich die Person aufhält. So kann die EU mittelfristig planbar zur Lösung der regionalen Flüchtlingssituation wesentlich beitragen und ihren Ruf als Menschenrechte respektierende Institution wiederherstellen.
Die Koalition der Willigen sitzt in den Kommunen
Die Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen war schon 2015 fester Bestandteil einer EU-Migrationsagenda. Diese scheiterte an der Weigerung einiger Mitgliedsstaaten, sich an einem solchen Mechanismus zu beteiligen. Um eine solidarische Flüchtlingspolitik nicht wieder scheitern zu lassen, ist ein Verteilungsmechanismus diesmal nicht national, sondern kommunal zu organisieren. Als Solidarity Cities haben sich Städte in ganz Europa zusammengeschlossen, die sich im Flüchtlingsschutz engagieren wollen. Allein in Deutschland haben sich 120 Gemeinden, kleinere, mittlere und Großstädte, bereit erklärt, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. An vielen Orten ist nach wie vor die Zivilgesellschaft in der Flüchtlingshilfe engagiert. Im Lokalen, wo Flüchtlinge tatsächlich ankommen und zum Teil der Gesellschaft werden, liegt das Potential für eine europäische Flüchtlingspolitik.
Im Rahmen des EU Asylum, Migration and Integration Fund (AMIF) ist für Staaten, die Flüchtlingen durch ein Aufnahmeprogramm Schutz gewähren, eine Pauschale von 6.000 € vorgesehen. Wenn diese Unterstützung direkt an aufnehmende Gemeinden ausgezahlt würde, zusätzlich zu weiteren Integrations-Mitteln der EU, könnte dies sogar ein lohnender Anreiz für strukturschwache Regionen sein. Sechs Familien ein neues Zuhause zu bieten würde rund 150.000 € in die Gemeindekasse spülen. Eine Stadt, die jährlich 100 Personen aufnimmt, könnte sich im Verlauf von fünf Jahren über 3 Millionen Euro freuen. Die Gesamtausgaben für das Programm würden sich auf 6 Milliarden Euro summieren – exakt der Betrag, den die EU im Abkommen mit der Türkei für Programme dort veranschlagt hat. Anstatt die Gelder also zur Abwehr auszugeben, können sie in Europa eingesetzt werden, um das Leben nicht nur von Flüchtlingen zu verbessern.
Der Weg zu einem Europa, das Menschenrechte wieder ins Zentrum stellt
Eine kommunen-basierte Aufnahme würde wichtige Reformschritte für das Gemeinsame Europäische Asylsystem erfordern. Das Europäische Asylunterstützungsbüro EASO müsste mehr Kompetenzen erhalten, wie von der EU Kommission früher schon angedacht, um einen europäischen Schutzstatus vergeben zu können – ein Privileg, das noch Mitgliedsstaaten vorbehalten ist. So könnten Kommunen Flüchtlinge aufnehmen, auch wenn ihre Staatsregierungen dies nicht unterstützen. Deutschland sollte während der kommenden EU-Ratspräsidentschaft mit seinen Reformvorschlägen für das europäische Asylsystem Grundlagen hierfür legen. In der Kombination aus europäischem Schutzstatus und kommunaler Aufnahme liegt letztlich auch die Überwindung der politischen Blockade in der Flüchtlingspolitik, von der bislang nur illiberale Regierungen profitiert haben.
Der EU-Schutz-Plan ist allerdings keine Antwort auf den grundlegenden Reformbedarf der europäischen Flüchtlingspolitik und auch kein Modell, das unmittelbar auf andere Regionen angewandt werden kann. Es ist ein längst überfälliger Plan für die größte Vertreibungskrise seit dem Zweiten Weltkrieg in und um Syrien. Das Versagen Europas, in fast 10 Jahren keine adäquate und menschenrechts-basierte Antwort auf diese Herausforderung vor unserer Haustür gefunden zu haben, ist das anhaltende Problem, dem wir uns wiederholt ausgesetzt sehen, unter dem aber vor allem die Vertriebenen leiden. Der Umgang mit dieser speziellen Situation darf nicht mit der Bemühung um eine generelle Flüchtlingspolitik Europas verwechselt werden. Im Gegenteil schafft der EU-Schutz-Plan die notwendige Voraussetzung, unter der ein allgemeines, solidarisches und langfristiges Asylsystem in Europa neu gestaltet werden kann. Der Plan ist darin zugleich ein Gegenmodell zu Orbáns Europa, indem er die Stärke der europäischen Demokratie unter Beweis stellt, die ihre Souveränität nicht zuletzt aus dem Schutz für Flüchtlinge bezieht.
Was soll bitte der Mehrwert dieses Beitrags abseits der Darstellung einer bloßen Meinung sein?
Verfassungsrechtlich ohne Substanz, politisch nicht durchsetzbar, im Übrigen ohne Relevanz.
Sehr gee