16 March 2021

Wie wiegt man Corona?

Über Defizite und Fehlgewichtungen in der Lockdown-Judikatur

„Leben oder Freiheit?“ – das ist für manche Gerichte die Frage, auf die sie mit ihren Corona-Entscheidungen eine Antwort zu geben suchen. Und auf diese Frage antworten manche Politiker, wenn sie eine neue Lockdown-Verlängerung begründen. Stellt man die Frage so, kann es nur eine Antwort geben. Das Recht auf Leben ist das fundamentalste Grundrecht – wer nicht mehr lebt, kann nicht mehr an Demonstrationen teilnehmen, einen Beruf ausüben oder Kunstwerke schaffen. Also entscheiden Politiker wie Gerichte in der Corona-Pandemie für den Lebensschutz durch Einschränkung der Freiheit. Aber die abstrakte Gegenüberstellung der Rechtsgüter Leben und Berufs-, Religions- oder allgemeine Handlungsfreiheit verfehlt das bei der verfassungsrechtlichen Lockdownkontrolle zu bearbeitende Thema.

Die Verfassungsmäßigkeit von Grundrechtseinschränkungen hängt nicht davon ab, welches Rechtsgut bei einer abstrakten Güterabwägung überwiegt. Deshalb führt auch der in der Coronadebatte gelegentlich zu lesende Hinweis, die Menschenwürde sei durch das Grundgesetz stärker geschützt als das Leben, nicht weiter. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne erfordert vielmehr eine Abwägung der konkreten Vorteile, die die zu prüfende Maßnahme für das Gemeinwohl – hier für den Gesundheitsschutz – erbringt, mit den konkreten Nachteilen, die sie im Hinblick auf Freiheit und Folgeschäden hervorruft. Wie auch im Hinblick auf die Prüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit setzt dies voraus, dass nicht einfach der allgemeine „Schutz von Leben und Gesundheit“ als Ziel der Corona-Maßnahmen betrachtet, sondern dass das mit den Maßnahmen konkret angestrebte Ziel präziser benannt wird, wie Oliver Lepsius schon früh betont hat.

Offizielles Ziel der Corona-Maßnahmen war lange die Vermeidung der Überlastung des Gesundheitssystems, nämlich vor allem der Intensivstationen. Jetzt wird oft die Minimierung der Zahl der „Corona-Toten“ und der schweren Covid-19-Verläufe als selbständiges Ziel genannt. Während hinsichtlich des erstgenannten Ziels die Erforderlichkeit umso problematischer wird, je mehr zu den vulnerablen Gruppen gehörende Menschen geimpft sind und je besser man die Alten- und Pflegeheime schützt, ist hinsichtlich des Minimierungsziels die Verhältnismäßigkeit i.e.S., die Angemessenheit, der entscheidende Punkt. Hier einfach Leben und Freiheit gegenüberzustellen und zu argumentieren, der Schutz des Lebens sei wichtiger als zeitlich begrenzte Einschränkungen diverser Freiheiten, wird der Sache nicht gerecht, um die es hier geht:

Die SARS-CoV-2-Epidemie ist eine Seuche. Nicht der Staat tötet, sondern das Virus. Es geht um Maßnahmen der Gefahrenabwehr, also um Prävention gegen das Risiko, infiziert und schwer oder gar tödlich zu erkranken. Um eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vornehmen zu können, muss die Größe dieses Risikos zunächst ermittelt werden. Wie groß ist das Risiko, an Covid-19 zu sterben? Für den Einzelnen lag die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, im Jahr 2020 bei 0,05 Prozent. Das ist nicht sehr viel. Beispielsweise ist das Risiko, an Krebs zu sterben, in Deutschland mehr als fünfmal so groß. Allerdings wissen wir nicht, wie viele Menschen ohne die Lockdown-Maßnahmen gestorben wären. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung, die ja ex ante stattfindet, verlangt hier Prognosen, die aber nicht mit phantasierten Worst-Case-Szenarien arbeiten dürfen, sondern empirische abgestützte Modelle verwenden müssen. Je größer die Erkenntnisunsicherheit, desto größer der Prognosespielraum der Verordnungsgeber. Je genauer man die Pandemie versteht, je mehr empirisches Material vorhanden ist, desto mehr schrumpft dieser Spielraum. Verwaltungs- und Verfassungsgerichte dürfen nicht einfach unterstellen, ohne Lockdown wäre alles ganz, ganz schlimm, sondern müssen empirische Studien für die Wirksamkeit von Lockdown-Maßnahmen in ihre Gefahrenbeurteilung einbeziehen.

Zum Nutzen des Lockdown

Der Gemeinwohlvorteil, den Lockdown-Maßnahmen bezogen auf das Minimierungsziel bieten, besteht also darin, dass sie die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben oder schwer zu erkranken, verringern. Da der Lockdown nicht alle Infektionen und alle tödlichen Folgen verhindert, besteht sein Nutzen in der Minderung der Zahl der Todesfälle und schweren Erkrankungen im Vergleich zu der Zahl der Fälle, die ohne Lockdown zu erwarten wären. Exakt berechnen lässt sich das nicht, und die Ungewissheit schlägt auch insoweit in der gerichtlichen Praxis zugunsten der staatlichen Exekutive zu Buche. Aber warum eigentlich? Für die Rechtfertigung von Freiheitseinschränkungen trägt doch grundsätzlich der Staat die Argumentations- und Beweislast, wie der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes zu Recht betont hat.

Beurteilt ein Gericht die Verhältnismäßigkeit einer einzelnen Lockdown-Maßnahme, dann ist es falsch, auf der Nutzenseite den Erfolg des ganzen Lockdown (also der Summe aller Corona-Maßnahmen) auf die Waagschale zu legen, was Gerichte aber immer wieder tun. Wird beispielsweise eine strenge nächtliche Ausgangsbeschränkung ab 20 Uhr angeordnet, dann darf in der Abwägung als ihr Nutzen nur die Minderung der Todesfälle berücksichtigt werden, die darauf beruht, dass Menschen ab 20 Uhr das Haus grundsätzlich nicht mehr verlassen dürfen. Ein Gericht darf sich dann nicht damit begnügen festzustellen, dass es auch bei einem einsamen nächtlichen Spaziergang zu Kontakten und somit zu Infektionen und letztlich zu Todesfolgen kommen kann, sondern es muss auch sagen, wie wahrscheinlich das ist. Und es darf erst recht nicht die Gesamtzahl der ohne Lockdown zu erwartenden „Corona-Toten“ gegen die individuelle Betroffenheit des Klägers abwägen, der nicht sehr stark beeinträchtigt sei, wenn er daran gehindert werde, Zigaretten aus dem Automaten zu holen oder am Waldrand die Sterne zu betrachten. Das Gericht muss sich entscheiden, ob es bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit dem Individual- oder dem Kollektivrisiko argumentiert. Wird bei den Nachteilen auf die individuelle Betroffenheit allein des Klägers abgestellt, darf auf der Nutzenseite auch nur veranschlagt werden, wieviel es zur Minderung des Corona-Risikos beiträgt, wenn diese eine Person nach 20 Uhr zu Hause bleibt. Bei der Normenkontrolle kommt es auf das Kollektivrisiko an: Die Gerichte müssen auf der Nachteilsseite die Nachteile sämtlicher Betroffener in die Abwägung einstellen.

Corona-Maßnahmen haben einen abnehmenden Grenznutzen. Geht man davon aus, dass durch Social Distancing Infektionen und infolgedessen auch Todesfälle und schwere Krankheitsverläufe verhindert werden, so wird ein Lockdown im Falle sehr hoher Infektionszahlen einen relativ großen Nutzen haben. Je geringer die Zahl der aktuellen Infektionsfälle ist, desto geringer wird der Nutzen des Lockdown sein. Die Zahl der zusätzlich verhinderten Todesfälle und schweren Krankheitsverläufe, die durch den Lockdown verhindert werden können, wird immer geringer, je weiter die Infektionskurve sich nach unten geneigt hat. In der Abwägung kann also der Nutzen der Maßnahmen nicht abstrakt als „Vermeidung“ oder „Verminderung“ von Todesfällen auf die Waagschale gelegt werden, sondern es kann als Nutzen der Maßnahmen immer nur die Vermeidung derjenigen Zahl von Todesfällen in die Abwägung eingestellt werden, die in einer konkreten epidemischen Lage durch die geplanten Maßnahmen vermieden werden können.

Was die Gewichtung der Todesfälle angeht, kann nicht einfach auf die Zahl der „an oder mit“ Corona Gestorbenen abgestellt werden. Indem das Robert-Koch-Institut (RKI) alle positiv Getesteten als „Corona-Tote“ zählt, werden uns für die Risikoeinschätzung wesentliche Informationen vorenthalten. In wie vielen Fällen Covid-19 tatsächlich die Todesursache war, wissen wir nicht. Und in den Fällen, in denen Covid-19 zum Tod geführt hat, wissen wir nicht, wie groß der Kausalitätsanteil war. Die allermeisten „Corona-Toten“ sind sehr alt und multimorbid. Die Informationen über Alter und gesundheitliche Vorbelastung müssen in die Risikobeurteilung einfließen. .

Das heißt keineswegs, dass Covid-19 so harmlos ist wie eine „normale“ Grippe. Aber wer die weitreichendsten Freiheitseinschränkungen seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland mit der besonderen Gefährlichkeit der Epidemie rechtfertigen will, muss zeigen, um wieviel gefährlicher die Epidemie im Verhältnis zu einer größeren Grippe-Epidemie ist. Das aber ist nur möglich, wenn man nicht einfach Tote mit positivem PCR-Test zählt, sondern wenn man Alter und Vorerkrankungen berücksichtigt und dann auf die Verkürzung der Lebenserwartung abstellt. Die Verkürzung der (durchschnittlichen und der altersspezifischen) Lebenserwartung durch die Epidemie ist ein sehr viel präziserer und aussagekräftigerer Maßstab für den Vergleich mit anderen Risiken als die Zahl der Sterbefälle. Ist, wenn man dies berücksichtigt, die Epidemie dramatisch viel gefährlicher als die allgemein akzeptierten Risiken, mit denen wir seit eh und je leben? So gefährlich, dass dies Freiheitseinschränkungen rechtfertigt, die man noch vor einem Jahr ihrem Umfang und ihrer Breitenwirkung nach in einem Rechtsstaat für undenkbar gehalten hätte?

Die Schutzpflicht für Leben und Gesundheit in der Abwägung

Es gibt Gerichte, die diese Frage verdrängen, indem sie darauf hinweisen, dass der Staat zum Schutz von Leben und Gesundheit verpflichtet sei (Nachweise hier). Dies soll eine Abwägung zwischen Lebensschutz und durch den Lockdown betroffenen Freiheitsrechten zwar nicht ausschließen, motiviert aber die Gerichte, bei der Abwägung auf den konkreten Nutzen und die Nachteile der Maßnahmen nicht genauer hinzusehen und zugunsten des Lebensschutzes zu entscheiden. Dem ist folgendes entgegenzuhalten:

Die grundrechtliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG verpflichtet den Staat zum Schutz vor Eingriffen Dritter, nicht vor allgemeinen Lebensrisiken oder vor Naturkatastrophen. Zum Schutz vor Epidemien ist der Staat verfassungsrechtlich kraft des Sozialstaatsprinzips verpflichtet. Daraus ergibt sich nicht ein Optimal- sondern ein Minimalschutz, eine Pflicht zur Sicherung der Existenzgrundlagen. Auch wenn man eine prinzipielle Schutzpflicht bejaht, sagt dies nichts darüber, welche Mittel zum Schutz eingesetzt werden müssen und eingesetzt werden dürfen. Deshalb ist das Bestehen einer Schutzpflicht für die Abwägung im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Lockdown irrelevant. In der Abwägung kommt es nicht darauf an, ob der Staat zum Lebens- und Gesundheitsschutz prinzipiell verpflichtet ist, sondern darauf, wie groß die konkrete Lebens- und Gesundheitsgefahr ist, der mit den Freiheitseinschränkungen begegnet werden soll, und wieviel diese Freiheitseinschränkungen zur Zielerreichung beitragen.

Zu den Nachteilen und Kollateralschäden des Lockdown

Die Gewichtung der Freiheitseinschränkungen ist relativ einfach, sofern sie ökonomisch bewertet werden können. Die Schäden, die aus der Schließung von Geschäften, Hotels, Gaststätten und vielen anderen Betrieben resultieren, die Schäden aus Veranstaltungsverboten oder aus der Schließung von kulturellen Einrichtungen lassen sich im Hinblick auf die entstandenen Verluste, saldiert mit staatlichen Hilfstransfers, ausrechnen. Das gilt auch für Lohn- und Gehaltseinbußen infolge von Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit. Schwieriger ist es, die ökonomischen Folgen von Konkursen und Existenzvernichtungen zu erfassen. Und noch viel schwieriger ist es, die immateriellen Schäden des Lockdown zu analysieren und zu gewichten. Wie große Ängste, wieviel Leid allein aufgrund der ökonomischen Existenzbedrohung? Wieviel wiegt der Bildungsverlust bei vielen Millionen von Schülern? Wieviel die massiven psychischen Störungen, die bei Kindern durch Isolierung, durch den Verlust der für ihre Entwicklung notwendigen Kontakte zu andern Kindern, durch Ängste und existentielle Verunsicherung entstanden sind?

Wie lassen sich ideelle Schäden bewerten, die durch die Schließung der Kultureinrichtungen entstanden sind, durch die Verhinderung von Gemeinschaftserlebnissen im Kontakt mit Freunden, in Vereinen, in Kneipen usw.? Das alles ist nicht quantitativ exakt erfassbar, aber es darf auch nicht ignoriert werden – es gehört in die Stoffsammlung für eine Abwägung der Vor- und Nachteile des Lockdown.

Bei den Kollateralschäden der Corona-Pandemie sind auch die Toten zu berücksichtigen, die es ohne die Corona-Maßnahmen nicht gegeben hätte: Suizide aufgrund ökonomischer Existenzvernichtungen; Todesfälle aufgrund wegen Corona aufgeschobener Operationen; Todesfälle aufgrund unterbliebener Behandlung von Herzinfarkt- und anderen Patienten, die aus Angst vor Ansteckung mit SARS-CoV-2 nicht zum Arzt oder in die Klinik gegangen sind. Kollateralschäden haben auch die Opfer häuslicher Gewalt im Lockdown erlitten, meist Frauen und Kinder. Auch das gehört auf die Waage.

Auch die Folgekosten für die Allgemeinheit sind für die Abwägung relevant. Wieviele Generationen werden noch die Schulden abbezahlen müssen, die der Staat zur Kompensation der Lockdownkosten hat aufnehmen müssen? Wohl noch nie in Friedenszeiten ist der Staatshaushalt mit so exorbitant hohen Kosten belastet worden wie mit den Lockdown-Kosten.

Folgewirkungen und Kollateralschäden sind natürlich nicht nur bezüglich der Nachteile der Corona-Maßnahmen zu berücksichtigen. Auch die Pandemie selbst führt zu Folgeschäden, beispielsweise zu ökonomischen Schäden für Unternehmen infolge von Krankheits- und Todesfällen oder zur Belastung der Sozialsysteme. Die Corona-Maßnahmen können, soweit sie Krankheitsfälle verhindern, einen Folge- oder Kollateralnutzen haben, der ermittelt und auf der Nutzenseite in der Abwägung zu berücksichtigen ist.

Abwägung von Nutzen und Nachteilen

Leben, Gesundheit, ökonomische, psychische, ideelle Folgen sind inkommensurable Größen. Es ist nicht möglich, die richtige Abwägungsentscheidung mit den Computer auszurechnen. Aber eine Abwägung ist defizitär und deshalb juristisch falsch, wenn sie wesentliche relevante Abwägungsgrößen völlig außer Acht lässt.

Wenn es nicht möglich ist, die Vor- und Nachteile der Corona-Maßnahmen zu quantifizieren, ergibt sich daraus ein erheblicher Wertungsspielraum der zuständigen Staatsorgane, hier vor allem der exekutivischen Verordnungsgeber. Aber dieser Spielraum ist nicht unbegrenzt. Ein Korrektiv sind jedenfalls Risikovergleiche. Es ist nicht zumutbar, dass Freiheitseinschränkungen mit Schäden und Folgeschäden bisher in Friedenszeiten unbekannten Ausmaßes angeordnet werden, wenn die Risiken, die es abzuwehren gilt, nicht in Relation zu den Risiken, die wir herkömmlich ohne staatliche Interventionen hinnehmen, ganz exorbitant groß sind. Wer meint, dass diese Voraussetzung bei Covid-19 erfüllt sei, muss es beweisen.


SUGGESTED CITATION  Murswiek, Dietrich: Wie wiegt man Corona?: Über Defizite und Fehlgewichtungen in der Lockdown-Judikatur, VerfBlog, 2021/3/16, https://verfassungsblog.de/wie-wiegt-man-corona/, DOI: 10.17176/20210316-154218-0.

17 Comments

  1. Jessica Lourdes Pearson Tue 16 Mar 2021 at 09:35 - Reply

    Jaja, es wurde schon alles gesagt, aber eben noch nicht von allen und nicht überall.

  2. Henrik Eibenstein Tue 16 Mar 2021 at 10:58 - Reply

    Vielen Dank für den instruktiven Beitrag!
    Es entsteht bisweilen tatsächlich der Eindruck, dass eine echte Verhältnismäßigkeitsprüfung im Wesentlichen einer (vorweggenommenen) Folgenabwägung gleicht, bei der insbes. die Frage ausreichender Rechtfertigung einzelner Grundrechtsbeschränkungen mit dem einseitigen Fingerzeig auf das pandemische Geschehen nur umkreist wird. Insofern irritiert es auch, wenn der Einzelne die Ausübung seiner Freiheits- bzw. Teilhaberechte rechtfertigen soll (statt vieler jüngst VG Berlin (Beschl. v. 10.3.2021 – VG 3 L 51/21), das hervorhebt, die Antragstellerin hätte nicht glaubhaft gemacht, “dass die Beschränkungen des Schulbetriebes durch das Wechselmodell so gravierend sind, dass die Belange des Gesundheitsschutzes gegenüber ihrem Anspruch auf eine Regelbeschulung im Präsenzunterricht zwingend zurücktreten müssten.”).

  3. Johannes Baum Tue 16 Mar 2021 at 12:16 - Reply

    Sehr geehrter Herr Murswiek,

    vielen Dank für den Artikel. Ich will mich auf eine Frage beschränken: Selbst wenn man davon ausgeht, dass die staatliche Schutzpflicht sich nur auf den Schutz vor Handlungen Dritter bezieht, die meine Grundrechte beeinträchtigen – dienen Lockdown-Maßnahmen nicht genau diesem Ziel? Indem bestimmte Räumlichkeiten geschlossen, Aufenthaltsverbote erlassen werden etc., werden andere Privatpersonen daran gehindert, Handlungen vorzunehmen, durch die ich (mittelbar oder unmittelbar) infiziert werden könnte. Das ist offenkundig, wenn es um Personen geht, die infiziert oder konkret infektionsverdächtig sind. Aber m.E. lässt sich der Gedanke auch auf eine abstrakte Ansteckungsgefahr übertragen. Indem Person X verboten wird, ins Gasthaus zu gehen, wird Person Y (z.B. ein Arbeitskollege) davor geschützt, von X angesteckt zu werden, weil diese sich im Gasthaus infiziert hat. Es geht doch also sehr wohl um die Verhinderung von Grundrechtsbeeinträchtigungen, die im Verhalten Privater wurzeln. Hervorragend sichtbar an den Infektionen, die nach Querdenker-Versammlungen auftreten – nämlich auch bei Personen, die an den Versammlungen nicht teilgenommen haben. Es stimmt, dass das Virus tötet, und nicht der Staat – aber es sind Privatpersonen, die durch ihre Handlungen (natürlich in aller Regel nicht vorsätzlich, aber gefahrenabwehr-/risikorechtlich zurechenbar) andere mit dem Virus anstecken.

    All das ändert natürlich nichts daran, dass trotzdem ein angemessener Ausgleich zwischen Schutzpflicht und Eingriffsverbot hergestellt werden muss. Aber es verschiebt u.U. die Gewichte zu Gunsten des Eingriffs.

    Viele Grüße

  4. Katharina Mangold Tue 16 Mar 2021 at 18:31 - Reply

    Sehr geehrter Herr Murswiek,

    soweit Sie in diesem Blogpost andeuten und in Ihrem Artikel in NVwZ-extra explizit ausführen, es gäbe durch Corona keine Übersterblichkeit, so stehen Ihre Befunde in gewissem Kontrast zu einer statistischen Vergleichsstudie, die aktuell als Preprint erhältlich ist und für Deutschland eine Übersterblichkeit von 3% ausweist – und das trotz der Lockdown-Maßnahmen. Studie zu excess mortality rate und Covid-19 für 77 Länder:
    https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.01.27.21250604v1.full.pdf+html
    Das dazugehörige Dataset findet sich hier:
    https://github.com/akarlinsky/world_mortality
    Die Daten sind aktuell vom 13.3.2021.

    Sie scheinen mir auch die Gefahren für die Bevölkerung im Alter zwischen 50 und 79 etwas zu gering anzusetzen, wie ein Vergleich mit der Situation in Frankreich nahelegt. Dazu dieser Tweet eines Kölner Arztes, der intensiv zu Corona arbeitet: https://twitter.com/HallekMichael/status/1371189414546833416

    Schließlich sind die Gefahren von Long Covid zu berücksichtigen, dazu diese Studie für Kalifornien: https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.03.03.21252086v1?mc_source=MTEyNjQxNzM4NjMzNDg2MjM3NzEwOjo6YzVjN2E5OGQzNWQxNDllYWE2MDdjMzgyNmNkOTJlYWQ6OnY0OjoxNjE1MTMwNjcwOjox&referringSource=articleShare

    Soweit Sie schreiben, dass “an oder mit Corona Gestorbene” wegen Multimorbiditäten so oder so gestorben wären, möchte ich auf eine diesem Befund entgegenstehende pathologische Studie der Charité hinweisen, die für Fälle in Berlin nachgewiesen hat, dass keiner der dort untersuchten Todesfälle ohne Covid-19 eingetreten wäre (publiziert in Nature): https://www.nature.com/articles/s41598-021-82862-5

    So richtig ich es finde, dass wir die Wertungen, die wir in der Verhältnismäßigkeitsprüfung zugrundelegen, offenlegen müssen und selbstverständlich auch kritisch diskutieren können, so scheint es mir für die Debatte doch auch unerlässlich, von dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse auszugehen. Im Lichte dieses gegenwärtigen Standes der Forschung bin ich keineswegs überzeugt, dass die Gerichte zu gänzlich falschen Schlussfolgerungen in ihren Verhältnismäßigkeitsprüfungen gelangen, wie Sie in Ihren jüngeren Texten auf der Basis anderer faktischer Prämissen nahelegen.

    In Vorfreude auf den weiteren Austausch,
    Katharina Mangold

    • Anons Lauren Wed 17 Mar 2021 at 10:59 - Reply

      Sehr geehrte Frau Mangold,

      Sie schreiben, es gäbe eine Übersterblichkeit von 3 % “und das trotz der Lockdown-Maßnahmen”.

      Hierzu möchte ich darauf hinweisen, dass strenge Lockdowns keinen Effekt auf die Ausbreitung von Covid19 haben:

      https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/eci.13484

      Anders als die von Ihnen angeführten Studien hat diese im Übrigen bereits peer review durchlaufen. Desweiteren habe ich nach Überfliegen der von Ihnen angeführten Studie bzgl. Übersterblichkeit dieser nicht entnehmen können, dass die Alterspyramide (jedes Jahr mehr ältere Menschen, d.h. auch mehr Sterblichkeit jedes Jahr) ausreichend berücksichtigt wurde. Es empfiehlt sich generell abzuwarten, bis solche Studien peer review durchlaufen haben, bevor diese als Beleg für irgendeine Aussage herangezogen werden. Gleiches gilt für Behauptungen, die auf Twitter aufgestellt werden.

      Mit freundlichen Grüßen

      • Katharina Mangold Wed 17 Mar 2021 at 13:11 - Reply

        Guten Tag Anons Lauren,

        angesichts der Daten lässt sich eine Übersterblichkeit schlicht nicht leugnen. Hier aber noch ein paar weitere seriöse Quellen.

        Es gibt eine Übersicht der FT, welche die Anstiege der Todeszahlen im Vergleich zum Durchschnitt der letzten Jahre zeigt und auch die Unterschiede zwischen den Ländern berücksichtigt:
        https://www.ft.com/content/a2901ce8-5eb7-4633-b89c-cbdf5b386938

        Vergleichbare Daten sind in vielen Medien berichtet worden und verweisen ein ums andere Mal auf eine deutliche Übersterblichkeit im Jahr 2020 im Vergleich zum Durchschnitt der Vorjahre. Laut FT beträgt die Übersterblichkeit sogar 5%.

        Die Übersterblichkeit zwischen verschiedenen Ländern lässt sich nicht unmittelbar vergleichen. Zu berücksichtigen ist etwa das Durchschnittsalter bzw. der Altersmedian der Bevölkerung und die durchschnittliche Haushaltsgröße. Schweden mit der Strategie der Herdenimmunität z. B. hat eine deutlich jüngere Bevölkerung und die EU-weit kleinste Haushaltsgröße und weist dennoch +16% bei der Sterblichkeit im Vergleich zu Deutschland auf.

        In den auf Staatenebene aggreggierten Zahlen kann man nicht erkennen, dass sie in besonders betroffenen Regionen und während der Wellen sogar noch einmal deutlich höher waren, im Dezember 2020, auf der Höhe der Zweiten Welle, z. B. um 25% erhöht gegenüber dem Durchschnitt der Vorjahre, in Sachsen sogar verdoppelt:
        Quelle Ärztezeitung: https://www.aerztezeitung.de/Politik/Deutliche-Uebersterblichkeit-in-Deutschland-416279.html
        Quelle Wahlatlas mit Einzeldaten zu den deutschen Bundesländern: https://wahlatlas.net/experimente/excess/sterbefaelle_bundeslaender.html

        Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen ist schließlich nicht an den Menschen bemessen, die gestorben sind. Die richtige Bezugsgröße sind vielmehr jene Menschen, die nicht gestorben sind, aber gestorben wären, wenn keine Maßnahmen ergriffen worden wären und sich die Pandemie ungehindert ausgebreitet hätte. Schätzungen für die EU sind bereits im Mai 2020 davon ausgegangen, dass durch die Maßnahmen ca. 3 Millionen Tote verhindert worden sind. Man kann die Zahl für die weitere Entwicklung extrapolieren. Deswegen muss die Vergleichsgröße die Geretteten sein, nicht die Gestorbenen (auch wenn diese unmittelbar sichtbarer und zählbar sind). Zu berücksichtigen ist also im Grunde nicht einmal die trotz der Maßnahmen zu beobachtende Übersterblichkeit, sondern die Übersterblichkeit, die es ohne die Maßnahmen gegeben hätte. (Zu berücksichtigen ist zusätzlich, dass durch die Lockdowns nicht nur Coronatote verhindert wurden, sondern etwa auch Verkehrstote, ein Rückgang von 10% gegenüber 2019).
        Quelle National Institute for Health Research UK: https://www.nihr.ac.uk/news/large-scale-lockdowns-in-europe-saved-millions-of-lives/25046

        Ich freue mich auf Ihre Replik, denn ich denke, dass dieser faktenbasierte Austausch durchaus relevant ist für die Diskussion der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen.

        Mit freundlichen Grüßen,
        Katharina Mangold

    • Dietrich Murswiek Thu 18 Mar 2021 at 16:35 - Reply

      Liebe Frau Mangold,

      ich stimme Ihnen zu, dass wir „von dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse auszugehen“ haben. Ich erhebe nicht den Anspruch, mich in medizinische Fachdiskurse einzumischen, und was ich zur Veranschaulichung meiner juristischen Argumente an Hinweisen auf medizinische beziehungsweise epidemiologische Erkenntnisse und statistische Daten anführe, steht immer unter dem Vorbehalt, dass es keine neueren oder keine von vornherein besseren Erkenntnisse gibt. In meinen Aufsätzen zum Thema sage ich daher auch nicht, wie das Ergebnis der Verhältnismäßigkeitsprüfung sein müsste, sondern ich erkläre nur, wie man die Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen und was man dabei berücksichtigen müsste. Was wir als Rechtswissenschaftler meines Erachtens bezüglich medizinisch-naturwissenschaftlicher Beschreibung der Gefahrenlage aber tun können und müssen, ist es, die Stellungnahmen der Sachverständigen und sachverständigen Institutionen auf Konsistenz und auf Methodenmängel zu überprüfen. Wenn beispielsweise Inzidenzwerte ohne Rücksicht auf die Anzahl der Tests und ohne Rücksicht auf Umstände wie die Zahl intensivbehandlungsbedürftiger Patienten zur Grundlage von Risikobeurteilungen gemacht werden, ist das methodisch mangelhaft. Ebenso wenn die Zahl der „von und mit“ SARS-CoV-2 Gestorbenen als Meßzahl für die Größe des Risikos verwendet wird.

      Zu den Einzelfragen, die Sie ansprechen:

      Übersterblichkeit ist die Abweichung von der statistisch zu erwartenden durchschnittlichen Sterblichkeit. Ob die von Ihnen zitierte Studie den in Deutschland aufgrund der Altersstruktur seiner Bevölkerung durchschnittlichen Anstieg der Sterbefälle berücksichtigt, ist mir nicht klar. Aber Sie haben recht: Auch bei Berücksichtigung dieses Effekts zeigen die jetzt verfügbaren Zahlen wegen der hohen Zahl der Sterbefälle im November und Dezember eine Übersterblichkeit im Jahr 2020, die mit Covid-19 zusammenhängt. Abweichungen vom Durchschnitt gibt es freilich auch in anderen Kalenderjahren, so dass es für die Bewertung darauf ankommt, ob wir eine extrem starke Abweichung nach oben haben. Zum Vergleich: Im Jahr 2018 gab es 2,4 % mehr Sterbefälle als im Durchschnitt der Jahre 2015-2019 (Sterbefallstatistik: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/156902/umfrage/sterbefaelle-in-deutschland/). 3 % im Jahr 2020 wäre nicht extrem viel mehr. Grippewellen mit mehr als 20.000 Toten treten regelmäßig auf (https://influenza.rki.de/Saisonberichte/2018.pdf, S. 47). Abweichungen von 2-3 % und sogar bis zu 5 % vom Durchschnitt werden für frühere Wellen (Asiatische Grippe, Hongkong-Grippe) berichtet (https://www.welt.de/geschichte/plus225441725/Uebersterblichkeit-So-gefaehrlich-waren-fruehere-Epidemien.html?cid=onsite.onsitesearch).

      Natürlich muss man alle gesundheitlichen Effekte von Covid-19 berücksichtigen, also auch Long-Covid.

      Ich habe nicht geschrieben, dass alle oder die meisten „an oder mit Corona Gestorbenen“ wegen Multimorbiditäten so oder so gestorben wären. Sondern ich beanstande, dass das Politik und RKI nicht dafür gesorgt haben, dass die Todesursache ermittelt, sondern jeder Verstorbene, der vor oder nach seinem Tode auf SARS-CoV-2 positiv getestet wurde, als „Corona-Toter“ gezählt wird. Man muss annehmen, dass ein erheblicher Teil der mit positivem Corona-Test Gestorbenen an einer anderen Ursache gestorben ist, zumal der positive PCR-Test ja noch nicht einmal eine Erkrankung an Covid-19 anzeigt. Die von Ihnen zitierte Charité-Studie steht dieser Vermutung nicht entgegen, da sie auf der Autopsie von nur 26 auf Intensivstationen verstorbenen Patienten beruht. Dass diejenigen, die als diagnostizierte Covid-19-Patienten intensivmedizinisch behandelt werden und dabei versterben, an Covid-19 – im Sinne des letzten Kausalfaktors in der Kausalkette – versterben, ist nicht überraschend.

      Noch wichtiger scheint mir die Beantwortung der Frage zu sein, welchen Kausalanteil Covid-19 am Tod des Patienten hat. Die Charité-Studie zeigt, dass fast alle „Corona-Toten“ schwerwiegende Vorerkrankungen hatten. 88,5 % zeigten Prävalenz einer Lungenkrankheit, 57,7 % einer bakteriellen Pneumonie. Die Studie nimmt zwar an, dass in der Mehrzahl der Fälle Covid-19 die Todesursache gewesen sei und dass die Vorerkrankungen nicht unmittelbar ursächlich für den Tod gewesen seien, sondern nur „contributory implications“ gehabt hätten. Da offensichtlich nur sehr wenige Menschen ohne schwere Vorerkrankungen an Covid-19 sterben, wird man aber annehmen müssen, dass die meisten dieser Menschen ohne die Vorerkrankungen nicht gestorben wären.

  5. Albrecht Pohlmann Wed 17 Mar 2021 at 21:50 - Reply

    Als interessierter juristischer Laie habe ich solche Beiträge auf Verfassungsblog häufig vermißt und selten gefunden. Freilich gab es Beiträge, welche sich den Konsequenzen der Anti-Corona-Maßnahmen aus Sicht des Öffentlichen Rechts widmeten. Wenige dieser an sich schon wenigen Beiträge waren kritisch gegenüber der Exekutive. Warum? Dies wäre auch unter den Staatsrechtlern auf Verfassungsblog – dessen Nüchternheit ich nach wie vor schätze – aufzuarbeiten. – Als “normalem”, vor allem aber “betroffenem” Bürger geht es mir mit den “Anti-Corona-Maßnahmen” so: ich empfinde sie als grundsätzlich grundgesetzwidrig. Ich habe die DDR-Diktatur bekämpft, dafür einiges riskiert und war froh, als wir nach 1989 wenigstens die bürgerlichen Rechte und Freiheiten erkämpft hatten, auch wenn die BRD nicht meinem radikaldemokratischen Gesellschaftsideal entsprach. Diese Grundrechte betrachtete ich aber immerhin als Voraussetzung, um überhaupt für eine bessere Gesellschaft kämpfen zu können. Wir, die wir sie so schmerzlich entbehrt hatten, wußten sehr gut, was wir nach ’89 an ihnen hatten. Jetzt machen wir die Erfahrung, daß sich diese Grundrechte mit Videoschaltkonferenzen der Kanzlerin mit den 16 Länderchefs und -chefinnen so einfach einschränken lassen – und dies auf unbestimmte Zeit. – Genau deshalb stimme ich Herrn Murswiek zu: Wer solche Ungeheuerlichkeiten gegen uns Bürger unternimmt, sollte sie innerhalb kurzer Zeiträume immer wieder begründen können – und dies so evident, transparent und bürgernah, wie möglich. Nichts dergleichen ist allerdings bisher der Fall.

    • christoph Sat 20 Mar 2021 at 14:12 - Reply

      Ich bin, wie Herr Pohlmann, ebenfalls juristischer Laie und möchte ihm zustimmen. Ich bin ebenfalls perplex über die “Ungeheuerlichkeiten” und hätte mir nie vorstellen können, dass Grundrechte über so lange Zeit so einfach einzuschränken sind. All dies auf mehr oder weniger unbestimmte Zeit. Und von der Aussicht, die Grundrechte evtl. wieder mit einem Impfung zurückzuerhalten, möchte ich hier gar nicht erst anfangen sprechen…

  6. marco quadrelli Mon 22 Mar 2021 at 00:13 - Reply

    Sehr geehrter Herr Professor Murswiek,
    Ich habe Ihren Artikel mit großem Interesse gelesen. Soweit die diskriminierende Seite beruht, gibt es ein zusätzliches Profil in Bezug auf den Impfpass. Cordially, Dr. Marco Quadrelli (Katholische Universität des Heiligen Herzens, Mailand)

  7. Lasse Schuldt Tue 23 Mar 2021 at 13:32 - Reply

    Sehr geehrter Herr Professor Murswiek,

    Ihr Beitrag fasst juristische Eckpfeiler der tatsachenbasierten Grundrechts- und Interessenabwägung zusammen. Eines Ihrer Kernthemen ist der rechtliche Umgang mit Risiken. Bei Ungewissheit über die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß eines Schadenseintritts sollen, wenn ich Sie richtig verstehe, in der Regel nur leichte Grundrechtsbeschränkungen zulässig sein. Das ist im Allgemeinen nachvollziehbar.

    In der Coronapandemie haben viele westliche Länder unter dem Eindruck von Ungewissheiten zögernd und schrittweise reagiert, zu schnell gelockert, wieder verschärft usw.

    Die frühen eingriffsintensiven Maßnahmen in zahlreichen asiatischen Ländern (China, Japan, Korea, Singapur, Taiwan, Thailand, Vietnam) wurden als autoritär bezeichnet. Die strikten staatlichen Interventionen dort beruhten jedoch auf einer rationalen Risikobewertung. Vorsicht war eine Lektion aus früheren Epidemien und Pandemien.

    Dieser Ansatz hat sich ausgezahlt. Während sich in Deutschland das offenbar bis heute unterbewertete Risiko in immer neuen Wellen realisiert und Intensivstationen füllt, hat sich das öffentliche Leben in den meisten Teilen Asiens bereits Mitte letzten Jahres (!) wieder weitgehend normalisiert.

    Die asiatischen Risikobewertungen waren realistisch. Darauf basierende intensive aber vorübergehende Maßnahmen haben sich als von Anfang an verhältnismäßig herausgestellt. Soweit also, wie Sie fordern, die Angemessenheit von Risikobewertungen „bewiesen“ werden soll, ist der „Beweis“ längst erbracht.

    Selbstverständlich sind einzelne Maßnahmen auf ihre konkrete Verhältnismäßigkeit zu untersuchen. Weshalb Sie aber weiterhin einer generellen Risikounterbewertung das Wort reden und damit einen „slow burn“ inklusive regelmäßig überlaufender Intensivstationen in Kauf nehmen, erschließt sich mir nicht.

    Harte vorübergehende Maßnahmen sind in der COVID-19-Pandemie im Ergebnis erheblich weniger eingriffsintensiv, weil sie das Infektionsgeschehen nachhaltig beruhigen, und weitere/dauerhafte Grundrechtseingriffe dann nur noch vereinzelt erforderlich sind.

    • Dietrich Murswiek Tue 23 Mar 2021 at 21:25 - Reply

      Sehr geehrter Herr Schuldt,

      Ungewissheit über die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß eines Schadenseintritts lässt nicht in jedem Fall nur leichte Freiheitseinschränkungen zu. Besteht bei einem neuartigen Risiko ein empirisch gestützter Grund zur Befürchtung, dass es ohne drastische Abwehrmaßnahmen zu einem außerordentlichen großen Schaden kommen wird, kann dies vorläufig weitreichende Maßnahmen rechtfertigen, damit Zeit gewonnen wird für die Verbesserung der Erkenntnisgrundlagen und für die Entwicklung einer weniger freiheitseinschränkenden Abwehrstrategie.

      Mein Text setzt sich für eine realistische Bewertung aller Risiken – der Covid-Risiken und der Risiken der Covid-Bekämpfungsmaßnahmen – ein. Weder das eine noch das andere darf „unterbewertet“ werden. Ich nehme auch nicht „regelmäßig überlaufende Intensivstationen“ in Kauf. Mein Text erörtert unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn die Abwägungsgesichtspunkte, die für das „Minimierungsziel“ eine Rolle spielen, also für das Ziel, die Zahl der Todesfälle und schweren Krankheitsverläufe auch dann noch weiter zu vermindern, wenn aufgrund der epidemischen Lage und der zur Sicherung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems schon ergriffenen Maßnahmen das Risiko einer Überlastung der Intensivstationen sehr gering ist.

      Richtig ist, dass man sich hinsichtlich erfolgversprechender Eindämmungsmaßnahmen auch in anderen Ländern umschauen sollte. Aber so einfach, wie Sie annehmen, scheint es mir nicht zu sein. Die von Ihnen genannten asiatischen Länder weisen vermutlich einige Unterschiede zu westlichen Ländern (im Hinblick auf politische Systeme, Lebensgewohnheiten, Mentalitäten, Klima usw.) auf, die epidemiologisch relevant sein könnten. Auch müsste man sich die dort getroffenen Maßnahmen genauer ansehen. Jedenfalls in Japan und Südkorea hat es keinen umfassenden Lockdown gegeben. Besonders gut scheint Taiwan die Epidemie gemeistert zu haben – ebenfalls ohne Lockdown (https://www.focus.de/perspektiven/bekaempfen-corona-schon-seit-2004-das-land-das-nie-einen-lockdown-brauchte-im-grunde-bekaempfen-wir-corona-seit-2004_id_13115083.html).

      Was theoretisch einleuchtet – sehr scharfer Shutdown, und dann hat man nach kurzer Zeit die Epidemie bewältigt –, kann wohl allenfalls in Staaten funktionieren, die ihre Grenzen scharf unter Kontrolle haben und entweder niemanden einreisen lassen oder alle Einreisenden in Quarantäne schicken. In einem Staat mit offenen Grenzen ist der Effekt einer solchen Maßnahme schnell verflogen. Eine nachhaltige Beruhigung des Infektionsgeschehens ist in offenen Staaten durch einen drastischen Lockdown wohl kaum zu erwarten – erwartbar ist eher der Jojo-Effekt, den man in etlichen europäischen Ländern beobachten kann. Es spricht viel dafür, sich nach wirklich nachhaltigen, differenzierten und zugleich freiheitsschonenden Strategien umzusehen (vgl. etwa die Vorschläge der Arbeitsgruppe Schrappe, http://www.matthias.schrappe.com/akt24.htm, oder das Tübinger Modell).

  8. Gregor Albers Wed 28 Apr 2021 at 15:23 - Reply

    Sehr geehrter Herr Professor Murswiek, vielen Dank für den Beitrag! Ihre Argumentation bestärkt mich in dem Eindruck, dass es ein Fehler ist, über die Rechtmäßigkeit von Eingriffen auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit und damit letztlich über eine Interessenabwägung zu entscheiden. Denn Rechte einzelner Bürger dürfen nicht ohne weiteres gegen Interessen anderer oder Interessen des Kollektivs aufgewogen werden. Die Rechte sind ja nicht für die Gemeinschaft da, sondern für den Einzelnen; sie stehen ihr daher auch nicht zur Disposition. Die herrschende Grundrechtsdogmatik sieht das, fürchte ich, anders; und mir ist nicht recht klar, an welcher Stelle sie in die Irre geht (oder wo ich irre). Aus Ihrem Beitrag sind für mich Kernsätze: “Nicht der Staat tötet, sondern das Virus”, und: “Auch wenn man eine prinzipielle Schutzpflicht bejaht, sagt dies nichts darüber, welche Mittel zum Schutz eingesetzt werden müssen und eingesetzt werden dürfen.” Sonderopfer zum Wohle der Allgemeinheit müssen wenigstens entschädigt werden.

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