16 March 2021

Wie wiegt man Corona?

Über Defizite und Fehlgewichtungen in der Lockdown-Judikatur

„Leben oder Freiheit?“ – das ist für manche Gerichte die Frage, auf die sie mit ihren Corona-Entscheidungen eine Antwort zu geben suchen. Und auf diese Frage antworten manche Politiker, wenn sie eine neue Lockdown-Verlängerung begründen. Stellt man die Frage so, kann es nur eine Antwort geben. Das Recht auf Leben ist das fundamentalste Grundrecht – wer nicht mehr lebt, kann nicht mehr an Demonstrationen teilnehmen, einen Beruf ausüben oder Kunstwerke schaffen. Also entscheiden Politiker wie Gerichte in der Corona-Pandemie für den Lebensschutz durch Einschränkung der Freiheit. Aber die abstrakte Gegenüberstellung der Rechtsgüter Leben und Berufs-, Religions- oder allgemeine Handlungsfreiheit verfehlt das bei der verfassungsrechtlichen Lockdownkontrolle zu bearbeitende Thema.

Die Verfassungsmäßigkeit von Grundrechtseinschränkungen hängt nicht davon ab, welches Rechtsgut bei einer abstrakten Güterabwägung überwiegt. Deshalb führt auch der in der Coronadebatte gelegentlich zu lesende Hinweis, die Menschenwürde sei durch das Grundgesetz stärker geschützt als das Leben, nicht weiter. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne erfordert vielmehr eine Abwägung der konkreten Vorteile, die die zu prüfende Maßnahme für das Gemeinwohl – hier für den Gesundheitsschutz – erbringt, mit den konkreten Nachteilen, die sie im Hinblick auf Freiheit und Folgeschäden hervorruft. Wie auch im Hinblick auf die Prüfung der Geeignetheit und Erforderlichkeit setzt dies voraus, dass nicht einfach der allgemeine „Schutz von Leben und Gesundheit“ als Ziel der Corona-Maßnahmen betrachtet, sondern dass das mit den Maßnahmen konkret angestrebte Ziel präziser benannt wird, wie Oliver Lepsius schon früh betont hat.

Offizielles Ziel der Corona-Maßnahmen war lange die Vermeidung der Überlastung des Gesundheitssystems, nämlich vor allem der Intensivstationen. Jetzt wird oft die Minimierung der Zahl der „Corona-Toten“ und der schweren Covid-19-Verläufe als selbständiges Ziel genannt. Während hinsichtlich des erstgenannten Ziels die Erforderlichkeit umso problematischer wird, je mehr zu den vulnerablen Gruppen gehörende Menschen geimpft sind und je besser man die Alten- und Pflegeheime schützt, ist hinsichtlich des Minimierungsziels die Verhältnismäßigkeit i.e.S., die Angemessenheit, der entscheidende Punkt. Hier einfach Leben und Freiheit gegenüberzustellen und zu argumentieren, der Schutz des Lebens sei wichtiger als zeitlich begrenzte Einschränkungen diverser Freiheiten, wird der Sache nicht gerecht, um die es hier geht:

Die SARS-CoV-2-Epidemie ist eine Seuche. Nicht der Staat tötet, sondern das Virus. Es geht um Maßnahmen der Gefahrenabwehr, also um Prävention gegen das Risiko, infiziert und schwer oder gar tödlich zu erkranken. Um eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vornehmen zu können, muss die Größe dieses Risikos zunächst ermittelt werden. Wie groß ist das Risiko, an Covid-19 zu sterben? Für den Einzelnen lag die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, im Jahr 2020 bei 0,05 Prozent. Das ist nicht sehr viel. Beispielsweise ist das Risiko, an Krebs zu sterben, in Deutschland mehr als fünfmal so groß. Allerdings wissen wir nicht, wie viele Menschen ohne die Lockdown-Maßnahmen gestorben wären. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung, die ja ex ante stattfindet, verlangt hier Prognosen, die aber nicht mit phantasierten Worst-Case-Szenarien arbeiten dürfen, sondern empirische abgestützte Modelle verwenden müssen. Je größer die Erkenntnisunsicherheit, desto größer der Prognosespielraum der Verordnungsgeber. Je genauer man die Pandemie versteht, je mehr empirisches Material vorhanden ist, desto mehr schrumpft dieser Spielraum. Verwaltungs- und Verfassungsgerichte dürfen nicht einfach unterstellen, ohne Lockdown wäre alles ganz, ganz schlimm, sondern müssen empirische Studien für die Wirksamkeit von Lockdown-Maßnahmen in ihre Gefahrenbeurteilung einbeziehen.

Zum Nutzen des Lockdown

Der Gemeinwohlvorteil, den Lockdown-Maßnahmen bezogen auf das Minimierungsziel bieten, besteht also darin, dass sie die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben oder schwer zu erkranken, verringern. Da der Lockdown nicht alle Infektionen und alle tödlichen Folgen verhindert, besteht sein Nutzen in der Minderung der Zahl der Todesfälle und schweren Erkrankungen im Vergleich zu der Zahl der Fälle, die ohne Lockdown zu erwarten wären. Exakt berechnen lässt sich das nicht, und die Ungewissheit schlägt auch insoweit in der gerichtlichen Praxis zugunsten der staatlichen Exekutive zu Buche. Aber warum eigentlich? Für die Rechtfertigung von Freiheitseinschränkungen trägt doch grundsätzlich der Staat die Argumentations- und Beweislast, wie der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes zu Recht betont hat.

Beurteilt ein Gericht die Verhältnismäßigkeit einer einzelnen Lockdown-Maßnahme, dann ist es falsch, auf der Nutzenseite den Erfolg des ganzen Lockdown (also der Summe aller Corona-Maßnahmen) auf die Waagschale zu legen, was Gerichte aber immer wieder tun. Wird beispielsweise eine strenge nächtliche Ausgangsbeschränkung ab 20 Uhr angeordnet, dann darf in der Abwägung als ihr Nutzen nur die Minderung der Todesfälle berücksichtigt werden, die darauf beruht, dass Menschen ab 20 Uhr das Haus grundsätzlich nicht mehr verlassen dürfen. Ein Gericht darf sich dann nicht damit begnügen festzustellen, dass es auch bei einem einsamen nächtlichen Spaziergang zu Kontakten und somit zu Infektionen und letztlich zu Todesfolgen kommen kann, sondern es muss auch sagen, wie wahrscheinlich das ist. Und es darf erst recht nicht die Gesamtzahl der ohne Lockdown zu erwartenden „Corona-Toten“ gegen die individuelle Betroffenheit des Klägers abwägen, der nicht sehr stark beeinträchtigt sei, wenn er daran gehindert werde, Zigaretten aus dem Automaten zu holen oder am Waldrand die Sterne zu betrachten. Das Gericht muss sich entscheiden, ob es bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit dem Individual- oder dem Kollektivrisiko argumentiert. Wird bei den Nachteilen auf die individuelle Betroffenheit allein des Klägers abgestellt, darf auf der Nutzenseite auch nur veranschlagt werden, wieviel es zur Minderung des Corona-Risikos beiträgt, wenn diese eine Person nach 20 Uhr zu Hause bleibt. Bei der Normenkontrolle kommt es auf das Kollektivrisiko an: Die Gerichte müssen auf der Nachteilsseite die Nachteile sämtlicher Betroffener in die Abwägung einstellen.

Corona-Maßnahmen haben einen abnehmenden Grenznutzen. Geht man davon aus, dass durch Social Distancing Infektionen und infolgedessen auch Todesfälle und schwere Krankheitsverläufe verhindert werden, so wird ein Lockdown im Falle sehr hoher Infektionszahlen einen relativ großen Nutzen haben. Je geringer die Zahl der aktuellen Infektionsfälle ist, desto geringer wird der Nutzen des Lockdown sein. Die Zahl der zusätzlich verhinderten Todesfälle und schweren Krankheitsverläufe, die durch den Lockdown verhindert werden können, wird immer geringer, je weiter die Infektionskurve sich nach unten geneigt hat. In der Abwägung kann also der Nutzen der Maßnahmen nicht abstrakt als „Vermeidung“ oder „Verminderung“ von Todesfällen auf die Waagschale gelegt werden, sondern es kann als Nutzen der Maßnahmen immer nur die Vermeidung derjenigen Zahl von Todesfällen in die Abwägung eingestellt werden, die in einer konkreten epidemischen Lage durch die geplanten Maßnahmen vermieden werden können.

Was die Gewichtung der Todesfälle angeht, kann nicht einfach auf die Zahl der „an oder mit“ Corona Gestorbenen abgestellt werden. Indem das Robert-Koch-Institut (RKI) alle positiv Getesteten als „Corona-Tote“ zählt, werden uns für die Risikoeinschätzung wesentliche Informationen vorenthalten. In wie vielen Fällen Covid-19 tatsächlich die Todesursache war, wissen wir nicht. Und in den Fällen, in denen Covid-19 zum Tod geführt hat, wissen wir nicht, wie groß der Kausalitätsanteil war. Die allermeisten „Corona-Toten“ sind sehr alt und multimorbid. Die Informationen über Alter und gesundheitliche Vorbelastung müssen in die Risikobeurteilung einfließen. .

Das heißt keineswegs, dass Covid-19 so harmlos ist wie eine „normale“ Grippe. Aber wer die weitreichendsten Freiheitseinschränkungen seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland mit der besonderen Gefährlichkeit der Epidemie rechtfertigen will, muss zeigen, um wieviel gefährlicher die Epidemie im Verhältnis zu einer größeren Grippe-Epidemie ist. Das aber ist nur möglich, wenn man nicht einfach Tote mit positivem PCR-Test zählt, sondern wenn man Alter und Vorerkrankungen berücksichtigt und dann auf die Verkürzung der Lebenserwartung abstellt. Die Verkürzung der (durchschnittlichen und der altersspezifischen) Lebenserwartung durch die Epidemie ist ein sehr viel präziserer und aussagekräftigerer Maßstab für den Vergleich mit anderen Risiken als die Zahl der Sterbefälle. Ist, wenn man dies berücksichtigt, die Epidemie dramatisch viel gefährlicher als die allgemein akzeptierten Risiken, mit denen wir seit eh und je leben? So gefährlich, dass dies Freiheitseinschränkungen rechtfertigt, die man noch vor einem Jahr ihrem Umfang und ihrer Breitenwirkung nach in einem Rechtsstaat für undenkbar gehalten hätte?

Die Schutzpflicht für Leben und Gesundheit in der Abwägung

Es gibt Gerichte, die diese Frage verdrängen, indem sie darauf hinweisen, dass der Staat zum Schutz von Leben und Gesundheit verpflichtet sei (Nachweise hier). Dies soll eine Abwägung zwischen Lebensschutz und durch den Lockdown betroffenen Freiheitsrechten zwar nicht ausschließen, motiviert aber die Gerichte, bei der Abwägung auf den konkreten Nutzen und die Nachteile der Maßnahmen nicht genauer hinzusehen und zugunsten des Lebensschutzes zu entscheiden. Dem ist folgendes entgegenzuhalten:

Die grundrechtliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG verpflichtet den Staat zum Schutz vor Eingriffen Dritter, nicht vor allgemeinen Lebensrisiken oder vor Naturkatastrophen. Zum Schutz vor Epidemien ist der Staat verfassungsrechtlich kraft des Sozialstaatsprinzips verpflichtet. Daraus ergibt sich nicht ein Optimal- sondern ein Minimalschutz, eine Pflicht zur Sicherung der Existenzgrundlagen. Auch wenn man eine prinzipielle Schutzpflicht bejaht, sagt dies nichts darüber, welche Mittel zum Schutz eingesetzt werden müssen und eingesetzt werden dürfen. Deshalb ist das Bestehen einer Schutzpflicht für die Abwägung im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Lockdown irrelevant. In der Abwägung kommt es nicht darauf an, ob der Staat zum Lebens- und Gesundheitsschutz prinzipiell verpflichtet ist, sondern darauf, wie groß die konkrete Lebens- und Gesundheitsgefahr ist, der mit den Freiheitseinschränkungen begegnet werden soll, und wieviel diese Freiheitseinschränkungen zur Zielerreichung beitragen.

Zu den Nachteilen und Kollateralschäden des Lockdown

Die Gewichtung der Freiheitseinschränkungen ist relativ einfach, sofern sie ökonomisch bewertet werden können. Die Schäden, die aus der Schließung von Geschäften, Hotels, Gaststätten und vielen anderen Betrieben resultieren, die Schäden aus Veranstaltungsverboten oder aus der Schließung von kulturellen Einrichtungen lassen sich im Hinblick auf die entstandenen Verluste, saldiert mit staatlichen Hilfstransfers, ausrechnen. Das gilt auch für Lohn- und Gehaltseinbußen infolge von Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit. Schwieriger ist es, die ökonomischen Folgen von Konkursen und Existenzvernichtungen zu erfassen. Und noch viel schwieriger ist es, die immateriellen Schäden des Lockdown zu analysieren und zu gewichten. Wie große Ängste, wieviel Leid allein aufgrund der ökonomischen Existenzbedrohung? Wieviel wiegt der Bildungsverlust bei vielen Millionen von Schülern? Wieviel die massiven psychischen Störungen, die bei Kindern durch Isolierung, durch den Verlust der für ihre Entwicklung notwendigen Kontakte zu andern Kindern, durch Ängste und existentielle Verunsicherung entstanden sind?

Wie lassen sich ideelle Schäden bewerten, die durch die Schließung der Kultureinrichtungen entstanden sind, durch die Verhinderung von Gemeinschaftserlebnissen im Kontakt mit Freunden, in Vereinen, in Kneipen usw.? Das alles ist nicht quantitativ exakt erfassbar, aber es darf auch nicht ignoriert werden – es gehört in die Stoffsammlung für eine Abwägung der Vor- und Nachteile des Lockdown.

Bei den Kollateralschäden der Corona-Pandemie sind auch die Toten zu berücksichtigen, die es ohne die Corona-Maßnahmen nicht gegeben hätte: Suizide aufgrund ökonomischer Existenzvernichtungen; Todesfälle aufgrund wegen Corona aufgeschobener Operationen; Todesfälle aufgrund unterbliebener Behandlung von Herzinfarkt- und anderen Patienten, die aus Angst vor Ansteckung mit SARS-CoV-2 nicht zum Arzt oder in die Klinik gegangen sind. Kollateralschäden haben auch die Opfer häuslicher Gewalt im Lockdown erlitten, meist Frauen und Kinder. Auch das gehört auf die Waage.

Auch die Folgekosten für die Allgemeinheit sind für die Abwägung relevant. Wieviele Generationen werden noch die Schulden abbezahlen müssen, die der Staat zur Kompensation der Lockdownkosten hat aufnehmen müssen? Wohl noch nie in Friedenszeiten ist der Staatshaushalt mit so exorbitant hohen Kosten belastet worden wie mit den Lockdown-Kosten.

Folgewirkungen und Kollateralschäden sind natürlich nicht nur bezüglich der Nachteile der Corona-Maßnahmen zu berücksichtigen. Auch die Pandemie selbst führt zu Folgeschäden, beispielsweise zu ökonomischen Schäden für Unternehmen infolge von Krankheits- und Todesfällen oder zur Belastung der Sozialsysteme. Die Corona-Maßnahmen können, soweit sie Krankheitsfälle verhindern, einen Folge- oder Kollateralnutzen haben, der ermittelt und auf der Nutzenseite in der Abwägung zu berücksichtigen ist.

Abwägung von Nutzen und Nachteilen

Leben, Gesundheit, ökonomische, psychische, ideelle Folgen sind inkommensurable Größen. Es ist nicht möglich, die richtige Abwägungsentscheidung mit den Computer auszurechnen. Aber eine Abwägung ist defizitär und deshalb juristisch falsch, wenn sie wesentliche relevante Abwägungsgrößen völlig außer Acht lässt.

Wenn es nicht möglich ist, die Vor- und Nachteile der Corona-Maßnahmen zu quantifizieren, ergibt sich daraus ein erheblicher Wertungsspielraum der zuständigen Staatsorgane, hier vor allem der exekutivischen Verordnungsgeber. Aber dieser Spielraum ist nicht unbegrenzt. Ein Korrektiv sind jedenfalls Risikovergleiche. Es ist nicht zumutbar, dass Freiheitseinschränkungen mit Schäden und Folgeschäden bisher in Friedenszeiten unbekannten Ausmaßes angeordnet werden, wenn die Risiken, die es abzuwehren gilt, nicht in Relation zu den Risiken, die wir herkömmlich ohne staatliche Interventionen hinnehmen, ganz exorbitant groß sind. Wer meint, dass diese Voraussetzung bei Covid-19 erfüllt sei, muss es beweisen.