Wieviel Gemeinsinn verträgt die Gesellschaft?
Was die Thierse-Debatte von der Weimarer Staatsrechtslehre lernen kann
Unter der Überschrift „Wieviel Identität verträgt die Gesellschaft“ hat Wolfgang Thierse in der FAZ zu der Frage Stellung bezogen, wie sich gesellschaftliche Pluralität mit dem für sozialen Zusammenhalt erforderlichen Gemeinsinn verträgt. Er wendet sich gegen eine subjektive Betroffenenperspektive, die der Gesellschaft ihre Sichtweise gewisser Dinge auferlegen wolle. Die Konturen des Gemeinsinns seien im demokratischen Diskurs zu verhandeln, der mit den Anerkennungsansprüchen einzelner gesellschaftlicher Gruppen in Konflikt geraten könne. Gleichzeitig konzediert er allerdings die Notwendigkeit, erfahrene Benachteiligungen zu überwinden. Wie aber lassen sich erfahrene Benachteiligungen überwinden, die der Gemeinsinn billigt oder gar erzeugt?
Hier berührt Thierse einen zentralen Streitpunkt der Weimarer Staatsrechtslehre. Ein Rückblick darauf kann für die heutige Debatte lehrreich sein. In der neu gegründeten Republik stellte sich das Problem von Gemeinsinn und Pluralität zum ersten Mal mit voller Wucht. War es bis zur Reformation die Religion, die für soziale Integration sorgte, so bildete danach bis zur Achsenzeit die Unterordnung unter einen souveränen Fürsten den notwendigen Referenzpunkt. Mit der französischen und amerikanischen Revolution setzte sich die Idee der Volkssouveränität unaufhaltsam in den Köpfen durch, wenngleich ihre Anerkennung in der Verfassungswirklichkeit gerade in Deutschland zunächst noch auf sich warten ließ. Die Aufgabe, Gemeinsinn zu stiften, übernahm nun der Begriff der Nation. Im Kontext des 19. Jahrhunderts konnte die Idee der Nation aber nur integrierend wirken, indem sie die grassierenden sozialen Konflikte ausblendete und sich eine kulturelle Färbung gab. Oft genug glitt dies ins Rassistische ab.
In der Weimarer Republik ließ sich die soziale Frage nicht mehr unter den Teppich der Verfassung kehren. Der Verfassungsgeber übertrug dem Staat die Aufgabe, für mehr materielle Gleichheit zu sorgen. Die damit verbundene Umverteilung erforderte ein hohes Maß an Gemeinsinn. Zugleich aber garantierte die neue Verfassung auch denjenigen die volle Gleichberechtigung, die bisher sozial marginalisiert oder von der Zensur unterdrückt waren. Die kulturelle Vielfalt der Weimarer Zeit legt bis heute davon ein beeindruckendes Zeugnis ab. Doch was, wenn diese Vielfalt mit dem Gemeinsinn kollidierte?
Carl Schmitt löste den Konflikt zu Lasten der Pluralität. Ein Volk halte zusammen dank seiner „substanziellen Gleichartigkeit“. Sie gehe der Verfassung voraus und sei durch Glaube, „Rasse“, Schicksal oder Tradition bestimmt. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme ersetzte Schmitt „Gleichartigkeit“ durch „Artgleichheit“, womit alles über diese Begrifflichkeit gesagt ist. Heute folgt die identitäre Rechte in diesen Fußstapfen. Dagegen verwahrt sich Thierse zu Recht.
Den entgegengesetzten Weg wählten Hans Kelsen und die Wiener Schule des Rechtspositivismus. Sie trennten strikt die rechtliche Form des Staats von seinem sozialen Substrat und befreiten damit die Rechtsordnung von jeglichem Bezug zum Gemeinsinn. Eine Bresche für einen übersteigerten Individualismus schlugen sie damit zwar nicht. Als Sympathisant der Sozialdemokratie und Republikaner in der Tradition von Rousseau ist Kelsen solcher Umtriebe unverdächtig. Die Frage aber bleibt, was den Staat dann noch zusammenhält.
Rudolf Smend, prägende Gestalt für das Verfassungsrecht der Weimarer Zeit wie der frühen Bundesrepublik, verwies auf die integrierende Kraft des Führungspersonals, institutioneller Strukturen und staatlicher Symbole. Für einen freiheitlich-demokratischen Staat erscheint es aber unangebracht, der Gesellschaft die Denkrichtung vorzugeben. Der Schmitt-Schüler und Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde bezeichnete daher 1964 den gesellschaftlichen Zusammenhalt als jene Voraussetzung des Staats, die dieser selbst nicht garantieren könne. Er lasse sich nur um den Preis eines Abgleitens in den Totalitarismus erzwingen. Freiheit allein garantiere jedoch keinen Gemeinsinn. Ein scheinbar unlösbarer Konflikt. Doch gerade durch den Hinweis auf die Unlösbarkeit gelang es Böckenförde, Teile der mit der säkularen Bundesrepublik und besonders der Emanzipationsbewegung hadernden Bevölkerung mit dem Grundgesetz zu versöhnen. Er entwertete ihre Forderung nach einem geistig-moralischen Kompass nicht, verwies sie aber ins Gesellschaftliche, rechtlich Unerzwingbare. Gegenüber einem totalitären Staat war das die vorzugswürdige Alternative.
Nun aber geraten zunehmend einzelne Aspekte dieses gesellschaftlichen Gemeinsinns in die Kritik. Auch ohne rechtliche Verbindlichkeit tragen sie zur fortgesetzten Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen bei. Das Ergebnis sind vielfältige Forderungen nach kultureller Anerkennung, die auch die Sprachpraxis betreffen. Man kann darin durchaus eine Neuauflage des Weimarer Konflikts zwischen Gemeinsinn und Pluralität sehen.
Wie lässt sich diese Spannung auflösen? Eine Tendenz in der derzeitigen Debatte weist das Verlangen nach kultureller Anerkennung weitgehend zurück, weil es dem Gemeinsinn gefährlich werden könne. Das scheint auch Thierse umzutreiben. Zwar seien sozioökonomische Benachteiligungen zu beheben. Forderungen auf kulturelle Anerkennung, wie etwa nach geschlechtergerechter Sprache, könnten aber „gemeinschaftsbildende Kommunikation“ bedrohen. Denkmäler in Frage zu stellen laufe gar auf eine „Liquidation von Geschichte“ hinaus. Sofern dabei auch noch die Situation der Sprecher*innen problematisiert wird, sehen manche gar das Ende der Aufklärung gekommen. Doch eigentlich leisten die selbsternannten Retter*innen der Aufklärung ihr damit einen Bärendienst. Kritik im besten aufklärerischen Sinn lässt sich nicht an einem bestimmten Punkt anhalten. Man muss keiner postmodernen Theorie anhängen, um den Versuch, den Rahmen zulässiger Kritik enger abzustecken, als Gefahr für das kantische Projekt der Befreiung des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit zu werten. Dadurch würde Aufklärung zum Mythos, wie bereits Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ angemahnt haben.
Kritik an den bestehenden Zuständen ist also legitim, auch wenn sie schmerzt, auch wenn manches Verlangen nach Anerkennung als demokratische Zumutung empfunden wird. Doch die Spannung zwischen Gemeinsinn und Pluralismus hat sich damit nicht erledigt. Die Maßgeblichkeit des subjektiven Betroffenheitsgefühls würde in den umgekehrten Mythos münden.
An dieser Stelle hilft das Werk desjenigen Weimarer Staatsrechtslehrers weiter, der dem Sozialmodell der Bundesrepublik gedanklich am nächsten steht. Die Rede ist von dem bereits 1933 verstorbenen Hermann Heller. Nach ihm bilde ein Staat eine Kulturgemeinschaft, aus der sie ihren Gemeinsinn beziehe. Heller grenzt die Kulturgemeinschaft gegen völkische Anwandlungen scharf ab. Sie sei keinesfalls homogen oder statisch, sondern von Konflikten durchzogen, wodurch sie sich ständig fortschreibe. Das versetze den Staat in der Lage, Neuankömmlinge zu integrieren. Diesen Schritt geht Thierse mit, wenn er konzediert, dass der Gemeinsinn in der demokratischen Öffentlichkeit neu verhandelt werden könne.
Die erfolgreiche Integration in die Kulturgemeinschaft steht aber nach Hermann Heller unter der Voraussetzung sozioökonomischer Homogenität. Sie erst schaffe ein „Wirbewusstsein“, das gesellschaftliche Konflikte zu bewältigen in der Lage sei. Gemeinsinn ist demnach nicht die Voraussetzung, sondern bestenfalls die Folge sozioökonomischer Integration. Daraus lässt sich ein von subjektiver Betroffenheit abstrahierender Maßstab für die Grenzen des Gemeinsinns gewinnen: Sofern Elemente des Gemeinsinns einschließlich sprachlicher Praktiken der sozioökonomischen Integration gewisser Bevölkerungsgruppen im Weg stehen, hat der Staat sie zu hinterfragen und gegebenenfalls auf ihre Änderung hinzuwirken. Das kann der Fall sein, wenn diese Praxis nachweisbar zu Rollenzuschreibungen führt, die dem beruflichen Erfolg der Betroffenen im Weg stehen können. Wer Betroffenen zuhört, wird übrigens feststellen, dass ihr Kampf um kulturelle Anerkennung meist kein Selbstzweck ist, sondern von der Hoffnung auf bessere sozioökonomische Integration zehrt.
Diese Integration kann das freie Spiel demokratischer Kräfte, auf das Thierse verweist, oft nicht mehr bewirken. Die Funktionsbedingungen demokratischer Repräsentation haben sich seit Heller erheblich verändert. Heller geht von leistungsfähigen intermediären Institutionen wie insbesondere Parteien aus, die den Unterprivilegierten Mehrheiten sichern. Die von Andreas Reckwitz beschriebene Singularisierung der Gesellschaft im 21. Jahrhundert hat die großen Intermediäre der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts in ihrer Wirkung eingeschränkt. Viele gesellschaftliche Gruppen sind in das institutionelle Räderwerk der Demokratie nur unzureichend eingebunden.
Aus dieser Einsicht folgt keine Absage an die Demokratie zugunsten einer Diktatur der Partikularinteressen. Wohl aber die Notwendigkeit einer ethischen Politik, einer sozial-moralischen Wende, die das Diktum Böckenfördes umdreht: Der demokratische Rechtsstaat kann die Voraussetzungen seiner Existenz garantieren, soweit er für umfassende sozioökonomische Integration sorgt. Gewiss, der Staat kann sich wirtschaftlich getriebenen Dynamiken wie der Singularisierung nur in Grenzen entziehen. Auch soll er um der sozialen Integration willen nicht zum paternalistischen Tugendwächter degenerieren. Dazwischen gibt es aber unendlich viele Möglichkeiten, sozialer Exklusion entgegenzuwirken und dadurch Gemeinsinn zu stiften. Ihr Spektrum reicht von attraktiven, inklusiven öffentlichen Schulen über die Gewährleistung fairer Arbeits-, Aufstiegs- und Entlohnungsbedingungen bis zur Förderung von Sport und Kultur. Gerade Kultur ist kein Luxus, der sich in der Krise dezimieren oder privatisieren lässt, sondern in ihrer ganzen Vielfalt ein essentielles Feld gesellschaftlicher Selbstverständigung. Sie verleiht auch Stimmlosen eine Stimme, die wiederum deren sozioökonomische Integration fördern kann. Nur ein derart gestärkter, integrativer Staat mag sich in den Konflikten bewähren, die ihm globale Krisen wie Pandemien und Klimawandel oder eine veränderte geopolitische Lage aufbürden. Wer im Kampf um Anerkennung den status quo ängstlich verteidigt, hat hier bereits verloren.
„Sofern Elemente des Gemeinsinns einschließlich sprachlicher Praktiken der sozioökonomischen Integration gewisser Bevölkerungsgruppen im Weg stehen, hat der Staat sie zu hinterfragen und gegebenenfalls auf ihre Änderung hinzuwirken.“
Die „Hinterfragung“ bzw. „Hinwirkung“ für den Staat kann aber nicht durch das „das freie Spiel demokratischer Kräfte“ geleistet werden, sondern kann (nur) durch Staatsrechtler geleistet werden, die im Verfassungsblog publizieren? Und wesentliche Teile der Staatstätigkeit sind daher der demokratischen Entscheidungsfindung entzogen, weil sich das Alles aus dem GG alles herauslesen lässt?
Die Antwort steht im letzten Absatz des Texts.
Vielen Dank für diesen interessanten Beitrag.
Das Problem, welches ich in Ihrem Text sehe, ist die fehlende Auseinandersetzung mit der Bedeutung, Entstehung und Anerkennung dessen, was als “benachteiligte Bevölkerungsgruppe” gilt, bzw gelten darf.
Auf erster Ebene stellt sich die Frage, wann überhaupt eine Benachteiligung vorliegt. Hier scheint der gesellschaftliche Diskurs (und leider auch Teile der Rechtswissenschaft) nicht mehr die Feststellung von Diskriminierung für nötig zu halten, sondern begnügt sich mit der Feststellung von Unterrepräsentation.
Daran anknüpfend stellt sich die Frage (insbesondere im Hinblick auf Intersektionalität) welche Gruppenzugehörigkeit man gelten lässt und welche nicht. Die Gruppe der benachteiligten Linkshänder? Unterrepräsentation von Menschen mit Pigmentstörung in Führungspositionen? Benachrichtigung von Menschen mit einem längeren Ring- als Zeigefinger? Diese Beispiele sind keineswegs scherzhaft gemeint sondern sollen die Frage aufwerfen, was wir überhaupt als benachteiligte Gruppe gelten lassen.
Über eine Antwort würde ich mich sehr freuen.