Zugang zum Gericht für Folteropfer: Scheut Straßburg die Konsequenzen?
Können Folteropfer in einem Konventionsstaat eine zivilrechtliche Entschädigungsklage gegen einen Drittstaat einreichen, ohne dass der Fall einen direkten Zusammenhang mit dem betroffenen Konventionsstaat hat? Die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) hat dies im Urteil Naït-Liman gegen die Schweiz vom 15. März 2018 verneint und damit einen Kammerentscheid aus dem Jahr 2016 bestätigt. Zum heutigen Zeitpunkt könne aus Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention keine Verpflichtung abgeleitet werden, die Zuständigkeit für Entschädigungsklagen von Folteropfern gegen Drittstaaten zu bejahen.
Ein tunesisches Folteropfer in der Schweiz
Worum ging es in der Sache? Der Beschwerdeführer, ein tunesischer Staatsangehöriger, war 1992 in Italien festgenommen und nach Tunesien überstellt worden, wo er während mehreren Wochen im Innenministerium willkürlich festgehalten und schwer gefoltert wurde. 1993 floh er in die Schweiz, wo er zunächst Asyl erhielt und später eingebürgert wurde. Als sich der damalige tunesische Innenminister 2001 in der Schweiz aufhielt, erstattete Naït-Liman Strafanzeige gegen diesen. Das Strafverfahren wurde jedoch eingestellt, da der Innenminister die Schweiz bereits wieder verlassen hatte.
2004 erhob der Beschwerdeführer im Kanton Genf in eine Schadenersatzklage gegen den tunesischen Staat und den Innenminister. Das kantonale Gericht, genauso wie die Beschwerdeinstanz und das in letzter Instanz das Bundesgericht verneinten jedoch die Zuständigkeit und traten nicht auf die Klage ein. Der Beschwerdeführer habe zum Zeitpunkt der Folterhandlungen keinen genügenden Anknüpfungspunkt zur Schweiz gehabt, um dort ein Zivilverfahren einleiten zu können. Dass er später in der Schweiz Wohnsitz nahm und mittlerweile die Staatsangehörigkeit habe, könne daran nichts ändern. Für eine Notzuständigkeit– ein sog. forum necessitatis, gestützt auf Artikel 3 des schweizerischen Gesetzes über das Internationale Privatrecht (IPRG) –bestehe kein ausreichender Zusammenhang zwischen dem Fall und der Schweiz.
Legitime Interessen, universelle Gerichtsbarkeit und Notzuständigkeit
Die Große Kammer des EGMR, genauso wie zuvor schon die Kammer, verneinte eine Verletzung von Artikel 6 EMRK. Während das Urteil der Kammer mit vier zu drei Stimmen noch knapp ausfiel, sprachen sich in der Großen Kammer 15 von 17 Richter*innen gegen eine Verurteilung aus.
Nachdem das Gericht zunächst feststellte, dass Artikel 6 Absatz 1 EMRK im vorliegenden Fall anwendbar (paras. 106 ff.) und auch berührt sei, war im Weiteren zu prüfen, ob die Schweiz das Recht auf Zugang zum Gericht verletzt hat (para. 117). Ohne große Mühe kommen die Richter*innen zum Schluss, dass die Schweizer Behörden durchaus ein legitimes öffentliches Interesse daran gehabt hätten, nicht auf die Klage des Beschwerdeführers einzutreten. Entscheidend sei das Interesse an der Aufrechterhaltung einer geordneten Rechtspflege und eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. So hätten sich bei einem Eintreten auf die Klage nicht nur schwierige Beweisfragen gestellt, auch die Durchsetzung eines Urteils wäre eine Herausforderung gewesen. Des weiteren könnte ein Eintreten weitere ähnliche Verfahren auslösen, was zu einer Überlastung der Gerichte führen würde. Schließlich sei es legitim, dass die Schweiz allfällige diplomatische Spannungen als Folge einer solchen Klage nicht ignorieren wolle (paras. 122 ff.).
Im Zentrum stand dann die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Unzuständigkeitsentscheidung. Bei der Prüfung, ob die Schweiz ihren Handlungsspielraum im Rahmen von Artikel 6 EMRK verletzt habe, führte der EGMR eine umfassende Auslegung der einschlägigen völkerrechtlichen Vorgaben durch – einerseits des Prinzips der universellen Zivilgerichtsbarkeit bei Verletzung des Folterverbots und andererseits des Grundsatzes des forum necessitatis. Weder aus Völkergewohnheitsrecht noch aus Völkervertragsrecht ergebe sich im Moment eine Pflicht für die Staaten auf Wiedergutmachungsklagen von Folteropfern einzutreten, die sich gegen einen Drittstaat richten (paras. 187-188). Die bestehenden Softlaw-Instrumente, darunter der General Comment Nr. 3 des UN-Antifolterausschusses und die Resolution des Institut de Droit international vom 30. August 2015, seien als lex ferenda zu qualifizieren und nicht als «positives Recht» und begründeten daher keine Bindungswirkung für die Staaten (para. 195). Deren Handlungsspielraum sei folglich groß:
(…) international law did not impose an obligation on the Swiss authorities to open their courts with a view to ruling on the merits of the applicant’s compensation claim, on the basis of either universal civil jurisdiction in respect of acts or torture, or forum of necessity. It follows that the Swiss authorities enjoyed a wide margin of appreciation in this area (para. 203).
Die Kriterien, die das Schweizer Recht für eine Notzuständigkeit aufstellt seien vor diesem Hintergrund weder willkürlich noch offensichtlich unvernünftig. Die Verweigerung der schweizerischen Gerichte auf die Klage des Beschwerdeführers einzutreten stehe in einem angemessenen Verhältnis zu den verfolgten öffentlichen Interessen. Artikel 6 EMRK sei nicht verletzt (para. 217).
Im Ergebnis hat sich der EGMR damit für einen sehr konventionellen, positivistischen Zugang zur Frage des universellen Rechtsschutzes für Folteropfer entschieden. Dabei vermögen die Ausführungen des Gerichtshofes – insbesondere bezüglich der legitimen öffentlichen Interessen – nicht zu überzeugen. Wieso beispielsweise Schwierigkeiten bei der Beweiserhebung ein legitimes Interesse darstellen, gar nicht erst auf eine Klage einzutreten, bei der die Beweislast bei der klagenden Partei liegt, ist fraglich (unter anderem dazu auch die Dissenting Opinion von Richter Serghides).
Insgesamt erweckt das Urteil den Eindruck, dass Straßburg sehr darauf bedacht war, den Handlungsspielraum der Staaten nicht zu beschneiden und die eigene subsidiäre Stellung zu betonen. Die Perspektive des betroffenen Individuums scheint dabei keine große Rolle gespielt zu haben. In der Praxis bedeutet das Urteil, dass es für Opfer von Folter und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen weiterhin ausgesprochen schwierig bleibt, erlittene Verletzungen einzuklagen, wenn sie nicht gegen den Folterstaat selbst vorgehen können – was in den wenigsten Fällen möglich sein dürfte. Das ist zu bedauern.
Nicht jetzt, aber vielleicht in Zukunft?
Den Richter*innen scheint bewusst zu sein, dass der Schutz der Rechte des Individuums durch den Entschied geschwächt wird, wenn sie zum Schluss des Urteils betonen, dass dieser nicht als Infragestellung des Rechts von Folteropfern auf Zugang zu effektivem Rechtsschutz und Wiedergutmachung verstanden werden soll und:
(…) efforts by States to make access to a court as effective as possible for those seeking compensation for acts of torture are commendable (para. 218). (…) Given the dynamic nature of this area, the Court does not rule out the possibility of developments in the future (para. 220).
Wie diese Entwicklung herbeigeführt jedoch werden soll und wann sie erreicht wäre, bleibt angesichts der Zurückhaltung des Gerichtshofes im Fall Naït-Liman gegen die Schweiz unklar. Vorderhand scheint der EGMR den Konsequenzen einer entsprechenden Rechtsentwicklung ausweichen zu wollen.
Es kann streitentscheidend um öffentliches Völkerrecht gehen. Dafür international zuständig kann im Grunde nur der Staat der öffentlichen Gewalt sein, welche streitig ist. Wenn dort trotz Zuständigkeit national kein Rechtschutz besteht, kann nicht ohne weiteres ein anderer Staat möglich (not-)zuständig sein. Es kann derzeit schwer Frankreich zuständig geordnet über Todesstrafen in Saudi-Arabien urteilen etc.