Zum Sozialstaatsprinzip bei Ernst-Wolfgang Böckenförde
Ernst-Wolfgang Böckenförde hat den Sozialstaat als historisch zwingende Weiterentwicklung des bürgerlichen Rechtsstaats verstanden und daraus weitreichende Folgerungen für die Interpretation des Grundgesetzes gezogen, die bis heute von nicht zu unterschätzender Aktualität sind. Böckenförde führt damit Gedanken von Lorenz von Stein und Karl Marx fort. Er geht davon aus, dass die bürgerliche Gesellschaft auf den Ordnungsprinzipien Rechtsgleichheit, Erwerbsfreiheit und Eigentumsgarantie beruht. Die Gewährleistung dieser Prinzipien durch den Staat führt notwendig zu einer „besitzbestimmten sozialen Ungleichheit“. Die Eigentumsgarantie verfestigt diese Ungleichheit und schreibt sie fort. Wenn der Staat nicht lenkend und steuernd eingreift, wird die von ihm gewährleistete rechtliche Freiheit und Gleichheit für eine ständig zunehmende Zahl von Menschen zur leeren Form. Rechtliche Freiheit und Gleichheit führen zu materieller Unfreiheit und letztlich zur Selbstzerstörung der Gesellschaft, die an der stetig zunehmenden sozialen Ungleichheit scheitert.
Diese Entwicklung haben zunächst Karl Marx und Lorenz von Stein in der Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben. Sie lässt sich aber durchaus auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Deutschland und anderen Ländern beobachten. Die rechtsstaatlichen Garantien von Freiheit und Eigentum führen dazu, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse zwischen arm und reich sich immer mehr auseinanderentwickeln. Die Zahl der Reichen und die Zahl der Armen nehmen gleichzeitig zu, die Mittelschicht wird ausgedünnt und hat Abstiegsängste. 70 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes stellt sich die Frage, ob der soziale Rechtsstaat seiner Aufgabe noch gerecht wird und gerecht werden kann oder ob die Gesellschaft an der wachsenden sozialen Ungleichheit scheitern wird.
Lorenz von Stein hat 1850 in seiner „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage“ aufgezeigt, dass die industrielle Gesellschaft den sozialen Staat erfordert, der der gesellschaftlichen Ungleichheit im Sinne der Gleichheit entgegenwirkt. Wenn der Staat nicht zum Königtum der sozialen Reform wird, wird das Königtum verschwinden und muss der Republik Platz machen. Entscheidend sind die Ordnung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit sowie die Möglichkeit der Arbeit, durch Erwerb zu Besitz zu gelangen. Damit dieses Ziel erreicht und eine soziale Revolution vermieden werden kann, ordnet das Grundgesetz den Rechtsstaat und den Sozialstaat einander zu. Sie sind rechtlich verknüpft und begrenzen sich gegenseitig. Der Sozialstaat zielt auf Daseinsvorsorge, sozialen Ausgleich und Umverteilung. Dabei ist er an die rechtsstaatlichen Garantien und Freiheitsverbürgungen gebunden.
Böckenförde weist zu Recht darauf hin, dass der Sozialstaat soziale Sicherheit, wachsenden Wohlstand und gesellschaftlichen Fortschritt, die seine Legitimität begründen, nur erreichen kann, wenn das Sozialprodukt wächst. Das zwingt ihn, eine Erhaltungsfunktion für den Wirtschaftsprozess und den wirtschaftlichen Fortschritt zu übernehmen. Dazu kann er sich aber im Rechtsstaat nicht seiner Hoheitsmacht bedienen, sondern muss auf die indirekte Steuerung der Wirtschaft durch Anreize und Erleichterungen setzen. So gerät er in eine dienende Funktion gegenüber dem Wirtschaftsprozess. Er ist nicht länger „höherer Dritter“, sondern erfüllt eine Komplementärfunktion für die Wirtschaft. Ihr gegenüber agiert er als „Erfüllungsgehilfe“, der „Ausfallbürgschaften“ leisten muss. Böckenförde hat den sich aus der Identifikation von Staat und Wirtschaft ergebenden inneren Widerspruch 1972 in der Festgabe Hefermehl (Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, 1972, S. 11 ff.) mit noch heute zutreffenden Worten umschrieben: „Einerseits wird dem Staat sowohl die Verantwortung für die Regulierung der Gesamtnachfrage (Konjunktursteuerung) als auch die für die Daseinsvorsorge und gesellschaftlichen Fortschritt übertragen; andererseits bleibt ihm eine verbindliche Einflussnahme auf die Entscheidungen über Investitionen und Investitionsprioritäten sowie über die tarifvertragliche Vorverteilung des Sozialprodukts, die beide unüberholbare Daten für Konjunkturentwicklung, Zielausrichtung der Wirtschaftsproduktivität und möglichen staatlichen Ausgabenrahmen setzen, verschlossen.“
In Anlehnung an Hermann Heller (Staatslehre, S. 137 f.) arbeitete Böckenförde heraus, dass am Anfang der gesellschaftlichen Freiheit die Reduzierung der Funktionen des Staates gestanden hat. Wird sie rückgängig gemacht, nimmt die gesellschaftliche Freiheit ab. Wenn der Staat soziale Sicherheit, wirtschaftliches Wachstum und die Steigerung des Lebensstandards nicht nur ermöglichen, sondern unmittelbar verwirklichen soll, muss er den wirtschaftlichen Gesamtprozess und die Verteilung des Sozialprodukts in seine eigene Lenkung und Regie übernehmen. Böckenförde weist darauf hin, dass die Frage der Übernahme maßgeblicher Industrien in staatliche Hand dann nicht mehr eine Frage des Prinzips, sondern der Zweckmäßigkeit ist, deren Realisierung Art. 15 GG ermöglicht: „Die mit dem liberalen Zeitalter begonnene Trennung von staatlicher Macht und Wirtschaftsmacht ist dann an ihr Ende gekommen“ (Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: Festgabe Hefermehl, 1972, S. 36).
Um eine solche Entwicklung zu vermeiden und die Entscheidung für die soziale Marktwirtschaft abzusichern, bedarf es der – auch umverteilenden – Besteuerung und der Sozialbindung des Eigentums. Forsthoff hat bereits 1953 festgestellt, dass der Rechtsstaat Sozialstaat in seiner Funktion als Steuerstaat ist. Dementsprechend umfasse der Schutz des Eigentums nicht den Schutz vor der Besteuerung, weil sonst dem Sozialstaat die verfassungsrechtliche Grundlage entzogen werde (VVDStRL 12, 8, 31 f.). Diese Erkenntnis droht in Vergessenheit zu geraten. Das deutsche Steuerrecht ist in Gefahr, seine sozialstaatliche Umverteilungswirkung einzubüßen: Die Vermögensteuer wird nicht mehr erhoben. Die Erbschaftsteuer kommt in über 90 Prozent der Nachlassfälle nicht mehr zur Anwendung, der Übergang von Unternehmenseigentum bleibt praktisch stets steuerfrei. Der Spitzensatz der Einkommensteuer ist von 53 Prozent unter der Regierung Kohl auf 45 Prozent gesunken. Beträchtlich gestiegen ist dagegen das Aufkommen der Umsatzsteuer, die regressiv wirkt und Leistungsschwächere, die praktisch ihr gesamtes Einkommen für den Konsum benötigen, relativ stärker belastet als Leistungsstärkere. Schließlich führt der Steuerwettbewerb in Europa, den der EuGH durch seine Interpretation der Grundfreiheiten fördert, zu einem stetigen Sinken der Unternehmenssteuern. Wenn aber der Sozialstaat im Wesentlichen aus dem Aufkommen der Umsatzsteuer finanziert wird, entfällt jegliche steuerliche Umverteilung.
Gleichzeitig nimmt die Sozialbindung des Eigentums ab. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat nachdrücklich betont, dass die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes sich als eine wechselseitige Balancierung von liberaler Eigentumsgewährleistung und möglicher sozialer Eigentumsbegrenzung darstellt. Er hat nachgewiesen, dass nach dem wiederholt bekräftigten Normierungswillen des Parlamentarischen Rates Art. 14 GG bei einer Enteignung gerade keine volle Verkehrswertentschädigung vorschreibt. Wichtig war ihm, dass die Eigentumsgarantie breiten Raum für Neugestaltungen des Bebauungsrechts und die Bauplanung sowie für eine striktere Regelung der baulichen Ausnutzbarkeit von Grundstücken und für die Abschöpfung von Planungsgewinnen lässt. Die rechtliche Nutzbarkeit des Bodens hat für ihn den Charakter einer staatlichen Zuteilung. Dem widerspricht es, wenn der Eigentümer nicht angemessen zu den allgemeinen Infrastrukturkosten herangezogen wird, die erst den sozialen Kontext der Qualität eines Baugrundstücks herstellen. Der Zuteilungscharakter der Bebauungsregelungen führt zu einer stark gewachsenen Intensität der Sozialbindung des Bodeneigentums. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen gehalten, den sozialen Gestaltungsauftrag des Art. 14 Abs. 2 GG zu erfüllen. Böckenförde hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass die Handhabung der Enteignungsentschädigung selbst ein die Bodenspekulation antreibender Faktor ist, der die Gleichheitswidrigkeit des Bodenrechts verstärkt. Gefordert hat er auch eine sinnvolle, am Wohl der Allgemeinheit ausgerichtete Bodenvorratspolitik der Gemeinden (Böckenförde, Eigentum, Sozialbindung des Eigentums, Enteignung, 1972).
Betrachtet man den Wohnungsmarkt in deutschen Städten, wünscht man sich, dass Böckenfördes Worte mehr Widerhall gefunden hätten. Es ist aber auch heute noch nicht zu spät, die Sozialbindung des Grundeigentums wieder stärker in das Bewusstsein zu rücken. Auch hier gilt, dass der soziale Rechtsstaat zwar das Grundeigentum anerkennt und schützt, aber auch die Realisierung seiner Sozialbindung fordert. Die Zuteilung, die in der Regelung der Bebaubarkeit von Grundstücken liegt, eröffnet dem Staat und den Gemeinden vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten, die bislang nicht nur nicht genutzt werden, sondern den Verantwortlichen regelmäßig nicht einmal bewusst sind. Die krisenhafte Zuspitzung der Lage auf dem Wohnungsmarkt ist die Folge. Der soziale Rechtsstaat und die Sozialbindung des Eigentums schaffen hier nicht nur genügend Raum für politische Gestaltung, sondern fordern sie. Böckenfördes Schriften bleiben aktuell.