Zur Einführung: Verfassungsrechtliche Expertise im politischen Raum
Dass die „Konstitutionalisierung der Rechtsordnung“ in Deutschland besonders ausgeprägt ist, ist keine neue Erkenntnis, ebensowenig, dass dieser Umstand vor allem auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurückzuführen ist. Die Grundrechte begründen dadurch nicht nur eine umfassende (Smend’sche) Werteordnung, die in sämtliche Bereiche der Rechtsordnung ausstrahlt (Lüth), zugleich unterliegt seit Elfes jede staatliche Intervention einem Rechtfertigungserfordernis. Dadurch aber wird es möglich, praktisch jede politische Fragestellung in eine verfassungsrechtliche umzucodieren (die damit potenziell auch bis nach Karlsruhe getragen werden kann). Tatsächlich werden zahlreiche politische Debatten jedenfalls auch, bisweilen sogar vornehmlich aus einer verfassungsrechtlichen Perspektive geführt.
Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass ein beachtlicher Bedarf des politischen Raumes an verfassungsrechtlicher Expertise besteht, der auf ein entsprechendes (und stetig wachsendes) wissenschaftliches Angebot zurückgreifen kann. In der Coronapandemie hat sich diese verfassungsrechtliche Aufladung des politischen Diskurses in besonderer Weise offenbart: Grundrechtliche Fragestellungen nehmen einen erheblichen Raum in der medialen Berichterstattung ein, die Bundeskanzlerin hat in einer Regierungserklärung die Elemente der Verhältnismäßigkeit zitiert und praktisch täglich erscheinen Stellungnahmen von VerfassungsrechtlerInnen, die einzelne, teileweise grundsätzliche Aspekte der offiziellen Corona-Strategie verfassungsrechtlich einordnen und bewerten.
Das Ausmaß dieser verfassungsrechtlichen Stellungnahmen ist bereits kritisiert worden (siehe hier), und tatsächlich lässt sich nicht bezweifeln, dass das verfassungsrechtliche Argument dadurch in einen Raum getragen (oder gezogen) wird, der jedenfalls anderen Rationalitäten folgt, als der rein wissenschaftsinterne Diskurs. Damit aber droht nicht nur die Verfälschung wissenschaftlicher Aussagen und Ergebnisse, sondern auch deren parteipolitische Instrumentalisierung – ein Umstand, der in der Causa Hirte/Kießling (siehe u.a. hier und hier) unlängst sichtbar wurde. Was aber lässt sich daraus für die Art und Weise verfassungsrechtlicher Expertise folgern, die dem politischen Raum angetragen wird? Wie sollte diese eingespeist, wie formuliert, wie vom politischen Raum rezipiert und wie medial präsentiert werden?
In der Ökonomie wurden diese Fragen schon vor einigen Jahrzehnten breit diskutiert, wie Thomas Biebricher zuletzt für den neoliberalen Diskurs aufgezeigt hat. Eine einheitliche Linie lässt sich indes auch hier kaum ausmachen: Während James Buchanan jeder Form der politischen Beratung skeptisch gegenüberstand und explizit davor warnte, die dem Reich des Relativen und des Verhandelns zugehörige Politik mit wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen zu konfrontieren (und zu überfordern), träumte Walter Eucken ganz offen den Traum einer interessenlos und insofern letztlich entpolitisierten Politik, die sich allein an eindeutigen wissenschaftlichen Vorgaben orientiert. In der Praxis wirkten sich diese unterschiedlichen theoretischen Vorstellungen freilich kaum aus – Buchanan betrieb selbstverständlich vielfältige Formen der Politikberatung und Eucken musste einsehen, dass es die Wissenschaft nicht gibt, hier also konkrete Interessen durchaus eine Rolle spielen.
Interessant ist dennoch, dass eine vergleichbar breite Debatte im Hinblick auf die Verfassungsrechtswissenschaft bisher allenfalls partiell stattgefunden hat, obwohl sie hier vielleicht noch dringlicher erscheint (siehe allerdings zuletzt hier). Denn das Verfassungsrecht gibt den politischen Akteuren (und hier liegt ein signifikanter Unterschied zur Ökonomie) den zwingend zu beachtenden Handlungsrahmen vor und denkt insoweit vornehmlich in der binären Kategorie verfassungsgemäß/verfassungswidrig. Zwar ist es richtig, wie Patrick Bahners in unserem Workshop zu dem Thema ausführte, dass das Grundgesetz vielfältigen Interpretationen und Verständnissen offen steht. Peter Häberle spricht bekanntlich von der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Einem „anything goes“ in dem Sinne, dass die Verfassung dadurch auch normativ letztlich alles zulasse, erteilte Anna Katharina Mangold jedoch zu Recht eine Absage. Aus der jeweils herrschenden Verfassungsdogmatik (die, wie Jens Kersten zuletzt betont hat, allerdings ihrerseits veränderbar ist) folgen also durchaus konkrete und bisweilen auch in der Verfassungsrechtswissenschaft mehr oder weniger unumstrittene normative Vorgaben für das politische Handeln. Selbst unter Berücksichtigung der Funktion des Bundestages als Erstinterpret der Verfassung ist die verfassungsrechtliche Beratung im Hinblick auf diese Vorgaben insofern wichtig und für den politischen Raum nachgerade unverzichtbar. Zugleich steigert sich dadurch jedoch zweifellos die Gefahr, dass verfassungsrechtliche Argumente für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Das ist insbesondere der Fall, wenn durch die behauptete Verfassungswidrigkeit die eigentliche Debatte über die politische Zweckmäßigkeit einer Maßnahme behindert oder sogar vollständig beendet wird. Entsprechende Ablenkungsmanöver zeigten sich bereits im Zusammenhang mit dem umstrittenen Vorgehen der EZB in der Eurokrise, aber auch bei den aktuellen Diskussionen über den Corona Hilfsfonds der EU – wenig überraschend sind bereits Verfassungsbeschwerden gegen dessen Umsetzung angekündigt worden. Mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit sollte man in entsprechenden Beratungsverfahren insofern schon deshalb zurückhaltend umgehen und jedenfalls offenlegen, dass und inwiefern man das möglicherweise auch anders sehen kann. Entrüstet vorgetragene Empörung ist hier prinzipiell fehl am Platz.
In unserem unlängst abgehaltenen Workshop zu diesem Thema (den man sich hier noch einmal anschauen kann) wurde deutlich, dass in dieser Angelegenheit bei allen Beteiligten aktuell noch zahlreiche Fragen unbeantwortet sind: Das betrifft zunächst die VerfassungsrechtlerInnen selbst, bei denen schon keine Einigkeit darüber besteht, in welcher Form und in welchem Umfang verfassungsrechtliche Expertise überhaupt angeboten werden sollte. Symptomatisch für diese Unsicherheit steht ein Beitrag von Klaus Ferdinand Gärditz, der unlängst vorgetragen hat, dass, wer ernsthaft forsche und lehre, keine Zeit habe, „sich in Talkshows herumzutreiben und Gedankenfetzen in die Welt zu twittern“ – ein Satz, der im Übrigen ausgerechnet im FAZ-Feuilleton als „Beitrag von etwa 3000 Zeichen“ (Frank Schorkopf) verfasst wurde. Auf Twitter (ausgerechnet!) fand diese Aussage anschließend zwar große Verbreitung, dass sie in ihrer Pauschalität aber an den Erfordernissen einer modernen Wissenschaftskommunikation im Zeitalter der sozialen Medien vorbeigeht – erwähnt sei nur die universitäre „third mission“ –dürfte unmittelbar einleuchten. Dass eine breite öffentliche Wirksamkeit im Übrigen nicht mit defizitärer Forschung und Lehre einhergehen muss, belegen gerade in der Pandemie VirologInnen wie Christian Drosten oder Sandra Cisek, die soeben unter anderem wegen ihres erfolgreichen Podcasts zu „HochschullehrerInnen des Jahres“ gekürt wurden. Warum aber sollte eine entsprechende Kommunikation ausgerechnet in der Verfassungsrechtswissenschaft nicht möglich sein? Zeigt sich in dieser pauschalen Bewertung vielleicht eher ein etwas verstaubtes Verständnis wissenschaftlicher Tätigkeit, die den erklärenden Kontakt mit der Außenwelt allzu schnell als unwissenschaftlich brandmarkt – eine Frage, die sich aktuell (neben nachgerade klassisch Kuhn’schen Paradigmenkämpfen) übrigens auch in der Geschichtswissenschaft zu stellen scheint.
Auch auf Seiten der Medien offenbarte sich eine gewisse Verunsicherung im Umgang mit verfassungsrechtlicher Expertise und deren Verarbeitung, und schließlich monierten praktisch alle VertreterInnen des politischen Raumes (namentlich Renate Künast, Konstantin Kuhle und Günther Krings) strukturelle Defizite schon in der Form, wie der Bundestag verfassungsrechtliche Expertise gegenwärtig in Anspruch nimmt: Die Anhörungen seien allzu ritualisiert, eine ernsthafte Debatte komme nicht auf, da die geladenen ExpertInnen von Anfang an in die parteipolitische Auseinandersetzung hineingezogen würden. Braucht es hier möglicherweise eine stärkere institutionelle Einbettung der Beratung, wie sie sich etwa in den USA aber auch in Großbritannien zeigt?
Vor diesem Hintergrund wollen wir in den nächsten Tagen an dieser Stelle unterschiedliche Perspektiven zu diesem Komplex zu Wort kommen lassen und eine erste Debatte anstoßen. Dabei sollen diese Fragen zugleich aus unterschiedlichen Disziplinen, mithin nicht nur verfassungswissenschaftlich beleuchtet werden. Wir hoffen auf eine angeregte Diskussion, die die ersten Erkenntnisse unseres Workshops ergänzt und vertieft und vielleicht auch einige erste Antworten auf manche der offenen Fragen formuliert.