Zurückweisungen vor Gericht
Über den Beschluss (VG 6 L 191/25 u.a.) des VG Berlin
Das Verwaltungsgericht Berlin hat mit Beschluss vom 2.6.2025 im Eilverfahren entschieden (hier im Volltext), dass drei somalischen Asylsuchenden der Grenzübertritt nach Deutschland zu gestatten ist, um im Anschluss ein Dublin-Verfahren durchzuführen. Der Beschluss betrifft die zentrale migrationspolitische Maßnahme der neuen Bundesregierung: Zurückweisungen an den Grenzen auch bei Asylsuchenden. Diesbezüglich hat die behandelte Rechtsfrage (anders als von Dobrindt impliziert) eine über die Einzelfälle hinausgehende Ausstrahlungswirkung. Aus dem Beschluss geht nun gerichtlich bestätigt hervor, was die ganz überwiegende Mehrheit der Migrationsrechtswissenschaft seit Jahren wiederholt betont: Zurückweisungen an der Grenze sind europarechtswidrig. Auch die Argumente für eine angebliche Notlage sind erst einmal abgeräumt. An der jetzigen Praxis festzuhalten ist daher inakzeptabel.
Was bei einer Zurückweisung alles schiefgehen kann
In dem Eilverfahren ging es um drei somalische Asylsuchende, die über Polen nach Frankfurt (Oder) eingereist sind und bereits am 9. Mai 2025 von dort in den Nachbarstaat zurückgewiesen wurden. Es handelte sich also um einen sehr frühen Fall, nachdem Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) am 7. Mai der Bundespolizei die Möglichkeit eingeräumt hatte, Asylsuchende auf Grundlage von § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG zurückzuweisen. Was in der Berichterstattung gerade etwas unterzugehen droht: Bei einer Asylsuchenden handelt es sich offenbar um ein minderjähriges Mädchen. Das ist bemerkenswert, denn der Innenminister hatte in der Weisung ausdrücklich klargestellt, man wolle Minderjährige und Vulnerable von den Zurückweisungen ausnehmen. Auch das Argument, man könne Zurückweisungen erstmal bei ausgewählten, „offensichtlichen“ Gruppen ausprobieren, geht fehl. Denn an der Grenze, auf der Autobahnraststätte oder im Wald, lassen sich Menschen nicht in 5 Minuten durch die Bundespolizei kategorisieren. Besondere Schutzbedarfe sind oft erst in komplizierten Gesprächen mit Fachpersonal verlässlich erkennbar. Auch bei der Minderjährigkeit ist die Prüfung, zum Beispiel wegen fehlenden Papieren oder Papieren, die von den Behörden angezweifelt werden, nicht trivial. In einem regulären Verfahren hätte die Betroffene vorläufig durch das zuständige Jugendamt in Obhut genommen werden müssen, um ihr Alter im Rahmen einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen (§ 42a SGB VIII). Dieser Fall zeigt damit eindrücklich, wie die Rechte von Schutzsuchenden bei schnellen Verfahren an der Grenze unter die Räder geraten.
§ 18 Abs 2 Nr. 1 AsylG kommt als Rechtsgrundlage nicht in Betracht
Dem VG Berlin wurde die Rechtssache zugewiesen, nachdem sich das VG Frankfurt (Oder) für unzuständig erklärt hatte. Das Berliner Gericht sei für die Berliner Bundespolizei zuständig, die an der brandenburgischen Grenze zu Polen eingesetzt wird. Das Gericht prüfte zwar den konkreten Einzelfall, nahm aber zugleich umfassend zu den grundsätzlichen rechtlichen Fragen Stellung. In deutlicher Klarheit sagt das VG Berlin: „Die Vorschrift des § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG, auf welche die Antragsgegnerin die am 9. Mai verfügte Einreiseverweigerung gestützt hat, kommt als Rechtsgrundlage für die Zurückweisung aufgrund vorrangigen Unionsrechts nicht in Betracht“ (S. 9). Die Vorschrift ist „totes Recht“, wie Farahat und Steurer es treffend auf diesem Blog formulierten. Und auch das VG Berlin bestätigt den Anwendungsvorrang der Dublin-III-VO, nach der die Zuständigkeit des Mitgliedstaats bestimmt werden muss. Das VG Berlin hält fest, dass „kein Mitgliedstaat eine rein negative Zuständigkeitsentscheidung treffen darf, sondern stets die Zuständigkeit des anderen Staates positiv begründen muss (…)“ (S.15). Und im Hinblick auf die europäische Zusammenarbeit, die Deutschland gerade aktiv missachtet, führt das Gericht aus, dass Dublin-III auf dem „Konsensprinzip“ beruht, also der zuständige Mitgliedstaat auch aktiv der Überstellung zustimmen muss (S. 15). Die Erwägungen des Gerichts sind an dieser Stelle sehr lang und grundsätzlich, betreffen also generell Zurückweisungen an der Grenze. Der seit 10 Jahren populistisch und missverständlich geführten Debatte über diese Rechtsfrage ist damit die Grundlage entzogen.
Keine substanzielle Begründung einer Notlage
Schließlich diskutierte das VG Berlin die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland ausnahmsweise von den Dublin-Regeln abweichen darf. Es ging also um die berühmte Ausnahmeregelung oder die Notlage nach Art. 72 AEUV. Der Beschluss ist hier sehr interessant, weil die gesamte medial inszenierte Argumentation der Regierung von einer Überlastung wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Das VG Berlin referiert hier die Rechtsprechung des EuGH, wonach Art. 72 AEUV eng auszulegen ist: „Daraus folgt, dass er nicht als eine Ermächtigung eines Mitgliedstaats dazu ausgelegt werden kann, durch bloße Berufung auf diese Zuständigkeiten von den Bestimmungen des Vertrags abzuweichen“ (S. 17). Der Mitgliedstaat muss daher immer konkrete und valide Gründe angeben, warum die Ausnahmeregelung greift – möglicherweise sogar in einem parlamentarischen Verfahren. Eine solche Abweichung vom EU-Recht ist im Asylrecht eigentlich ein Akt der Unmöglichkeit, weil es sich um ein Rechtsgebiet handelt, das seit Anfang der 2000er Jahre sehr engmaschig durch europäische Verordnungen, Richtlinien und eine begleitende Rechtsprechung geprägt ist und es nur noch wenige Räume für rein nationale Handlungen gibt. Europäische Instrumentarien sind immer vorrangig auszuschöpfen.
Bemerkenswert ist, dass die Bundespolizei und das Bundesinnenministerium gegenüber dem VG Berlin kaum Argumente für ihren nationalen Ansatz genannt haben. Das ergibt sich freilich aus der Natur der Sache selbst, denn die Berufung auf die Notlage war schon immer ein „Mythos“, der im Widerspruch zur empirischen Wirklichkeit steht. Interessant ist dennoch, dass die Bundesregierung bei ihrer zentralen migrationspolitischen Maßnahme gegenüber der Gerichtsbarkeit wie der „nackte Kaiser“ aus Hans Christian Andersens Märchen dasteht. Offenbar bezog sich die Regierung auf die Asylantragszahlen aus dem Jahr 2024 und nicht auf die aktuellen rückläufigen Zugangszahlen von Asylsuchenden. Das VG Berlin sagt hierzu: „Es ist auch weder vorgetragen, noch sonst ersichtlich, dass sich aus diesen Zahlen einerseits eine Situation ergibt, die für die deutschen Behörden nicht zu bewältigen wäre und auf Grund derer die Funktionsfähigkeit staatlicher Systeme und Einrichtungen akut gefährdet wäre, und wie sich andererseits gerade Zurückweisungen an der Grenze auf diese Situation auswirken würden“ (S. 18).
Nicht europäisch abgestimmt
Die Regierung hatte noch angeführt, das derzeitige Dublin-System sei dysfunktional und die anderen Staaten würden Überstellungen nicht akzeptieren. Die Krise des Dublin-Systems ist seit langem bekannt, erst in der kürzlich beschlossenen Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems hält die EU aber an dem umstrittenen Ersteinreiseprinzip fest und hat nur einen flexiblen Solidaritätsmechanismus eingeführt, der ab 2026 in Kraft tritt. Das Dysfunktionalitätsargument verwirft das VG Berlin aber zutreffend mit dem Hinweis, dass auch Zurückweisungen nichts an dem Unwillen mancher EU-Mitgliedstaaten ändern würden, sich am Dublin-System zu beteiligen. Der kalkulierte Rechtsbruch und der Domino-Effekt sind, wen wundert es, kein tragfähiges Argument im Recht. Außerdem hatte die Bundesregierung eine mögliche Instrumentalisierung von Migrant:innen ins Spiel gebracht – die Asylsuchenden sind über Belarus in die EU eingereist. In diesem Zusammenhang verwies die Bundesregierung auf eine angebliche Rückendeckung durch die EU-Kommission mit ihrer Mitteilung vom Dezember 2024. Diese Mitteilung hat aber laut dem VG Berlin keine Rechtsverbindlichkeit. Sie bezog sich zudem auf Außen- nicht auf Binnengrenzen (S. 20).
Der SPD war es stets wichtig zu betonen, dass Zurückweisungen nur in Abstimmung mit anderen EU-Mitgliedstaaten durchgeführt werden sollen. Doch schon in den letzten Wochen sah man duldend zu, wie die Bundesregierung überall in Europa Porzellan zerschlug und wegen der Grenzkontrollen den polnischen Präsidentschaftswahlkampf vermutlich negativ mitbeeinflusste. Das VG Berlin weist in dem Beschluss deutlich darauf hin, dass die Bundesregierung und die Bundespolizei gar nicht erst den Versuch gemacht haben, eine europäische Koordination der Maßnahmen anzustrengen (S. 20 f.). Der Grundsatz der „loyalen Zusammenarbeit“ (S. 21) wurde offensichtlich missachtet. Der Beschluss zeigt deutlich, dass der Bundesregierung selbst keine tragfähigen Argumente einfallen, wie sie die Ausnahme vom Europarecht begründen könnte.
Wie geht es nun weiter?
Der Beschluss hat zunächst zur Folge, dass die Betroffenen ein Dublin-Verfahren in Deutschland durchführen können. Inwiefern dies auch an der Grenze rechtlich möglich ist, wie das VG Berlin nahelegt, soll hier zwar nicht näher diskutiert werden. Aber der Aufbau von europarechtskonformen Unterbringungszentren an der Grenze mit Sprachmittlern lässt sich in der Praxis wohl kaum umsetzen. Auffällig ist, dass das VG Berlin die Prozesskosten vollständig der Bundespolizei auferlegt, obwohl die Antragssteller:innen im Rechtssinne teilweise unterlegen waren (sie begehrten auch das Recht auf Einreise in das Bundesgebiet).
Was folgt nun aus diesem Beschluss? Innenminister Dobrindt, Unionspolitiker:innen und auch Teile der Rechtswissenschaft haben sich seit Montag auf den Standpunkt gestellt, dies sei ja nur ein Einzelfall in einem Eilrechtsverfahren. Richtig ist, dass unser Rechtssystem in aller Regel Einzelfallentscheidungen kennt, dieser Beschluss also inter partes zwischen der Bundespolizei und den Betroffenen gilt. Aber die zuständige Einzelrichterin hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Entscheidung der gesamten Kammer übertragen; es waren also drei Richter:innen beteiligt. Das Asylrechtprozessrecht ist ohnehin ein Sonderprozessrecht, in dem die höheren Instanzen nur noch in Ausnahmefällen eine Rolle spielen und den Entscheidungen der Verwaltungsgerichte eine besondere Bedeutung zukommt. Fast 30 Seiten lang ist der Beschluss und nur an wenigen Stellen geht es überhaupt noch um den Einzelfall, sondern um die grundlegenden Fragen in Bezug auf Zurückweisungen. Das VG Berlin hat zudem, was nicht häufig vorkommt, eine Vorwegnahme der Hauptsache aufgrund der hohen Erfolgsaussichten vorgenommen (S. 8 f., 28). In einem etwaigen Hauptsacheverfahren käme deswegen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nichts anderes heraus. Das VG Berlin hielt es auch nicht für nötig, die Sache im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens dem EuGH vorzulegen, weil die europäischen Rechtsfragen ebenfalls hinreichend geklärt sind. Ob es überhaupt noch zu einem Hauptsacheverfahren kommt, ist fraglich, denn mit der Einreise der Betroffenen und der Durchführung des Dublin-Verfahrens haben die Antragssteller:innen ihr wesentliches Ziel erreicht. Wenn Innenminister Dobrindt in der Pressekonferenz daher erklärt, er strebe ein Hauptsacheverfahren an, um Klarheit über die rechtlichen Gegebenheiten zu erlangen, entbehrt dies nicht einer gewissen Absurdität. Dass die Bundesregierung in diesem zentralen Verfahren weder rechtliche noch empirische Argumente auf ihrer Seite hat, ist bereits jetzt offensichtlich. Der Kaiser ist nackt.
Rechtsstaatlichkeit statt „Law and Order“
Dieser Einzelfall hat also eine grundlegende Ausstrahlungswirkung auf die gesamte Regierungspraxis der Zurückweisungen. Diese müssen also umgehend gestoppt werden. Die Beharrlichkeit, mit der die Bundesregierung (nun auch in Person des Kanzlers) sich bislang mit einer „Law and Order“-Rhetorik gegen das Europarecht stellt, ist besorgniserregend. Ein exekutiver Ungehorsam der Regierung gegenüber dem Recht hat langfristige Folgen, die am Ende vor allem autoritäre und populistische Akteure stärken, wie wir das in ganz Europa beobachten können. Das zugrunde liegende Problem hat man sich freilich bereits dadurch geschaffen, seit Längerem in die realitätsferne Krisenrhetorik der extremen Rechten bezüglich „Migration“ einzustimmen und dadurch deren Potenzial zu vergrößern. Hier erntet man nun die Früchte dieses politischen Fehlers. Nicht nur in den USA sind aktuell rechtsstaatliche Krisen möglich. Wenn Teile der Regierungsfraktion sogar Angriffe auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unterstützen, sollten alle Alarmglocken angehen. Das von der SPD geführte Justizministerium wäre jedenfalls innerhalb des Regierungskabinetts in der Pflicht, auf die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit zu pochen.
Vielen Dank für die Ausführungen!
Das trifft meine Interpretation und ich bin über das verhalten des Innenministers (aber auch des Bundeskanzlers) entsetzt.
Für eine deutsche Bundesregierung hätte ich mir ein besonneneres Vorgehen vorgestellt und mir einen Aufschrei der SPD gewünscht!
Ich bin kein Jurist, habe aber gern zu Zeiten der Corona-Pandemie die (kritischen) Artikel zu den freiheitseinschränkenden Maßnahmen gelesen. Im Falle des aktuellen Beschlusses des VG Berlin, das sich auf die Rechtsprechung des EUGH stützt, scheint mir ein gewisser Realitätsverlust Einzug zu halten. Konkret: Eine stabile Mehrheit des Staatsvolks ist gegen weitere Zuwanderung und im nächsten Jahr wird die AfD bei Landtagswahlen wahrscheinlich noch stärker werden. Wenn das so weiter geht, werden Verwaltungsgerichte ( in wie vielen Ländern der Welt kann man gegen den Staat klagen?) irgendwann Geschichte sein., leider!!