07 February 2019

Zwischen modernem Sicherheitsrecht und klassischem Polizeirecht – Die Entscheidungen zur automatisierten Kenn­zeichen­kontrolle

Mit den beiden in dieser Woche veröffentlichten Entscheidungen zu automatisierten Kennzeichenkontrollen führt der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts seine Rechtsprechungslinie zu den verschiedenen Überwachungsmaßnahmen fort. Die durch das Gericht im Zuge dieser Rechtsprechung entwickelte Kasuistik ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass das Gericht sich nicht mehr nur auf einzelne Entscheidungen, sondern auf die Grundsätze eines „allgemeinen Sicherheitsrechts“ beziehen kann (Rn. I/105, I/128, I/131, I/133). Nach seiner Entscheidung aus dem Jahr 2007 äußert sich der Senat nun erneut zu der Thematik der automatisierten Kennzeichenkontrolle (bemerkenswerterweise hat er seine Entscheidung in den Leitsätzen auch selbst mit der Bezeichnung als „Kfz-Kennzeichenkontrollen 2“ versehen).

Die erste und sehr viel umfangreichere der beiden aktuellen Entscheidungen betraf eine Verfassungsbeschwerde, mit der mittelbar Art. 33 II i.V.m. Art. 13 Abs. 1 BayPAG a.F. angegriffen wurde. Seit der Anhängigkeit des Verfahrens wurde Art. 13 I BayPAG leicht geändert. Art. 33 Abs. 2 BayPAG wurde mit geringfügigen redaktionellen Änderungen in den neuen Art. 39 BayPAG übernommen. (Rn. I/2 ff.) Diese Änderungen waren ebenso wenig Gegenstand der vorliegenden Entscheidung wie die seitdem in Art. 13 I Nr. 1 b) BayPAG eingeführte Alternative der drohenden Gefahr. (Rn. I/105)

Die zweite Entscheidung betraf zwei Verfassungsbeschwerden, die jeweils direkt gegen § 22a i.V.m. § 26 I PolG BW bzw. § 14a i.V.m. § 18 I, II H(essisches)SOG gerichtet waren. (Rn. II/2 ff.)

Alle betreffenden Regelungen sind so aufgebaut, dass in der Ermächtigung zur Durchführung der Kennzeichenkontrolle auf die Voraussetzung der Identitätskontrolle verwiesen wird. Während das BVerfG die erste Entscheidung zum BayPAG auch dazu nutzt, die rechtlichen Voraussetzungen der automatisierten Kennzeichenkontrolle umfangreich zu entwickeln, beschränkt sich die zweite Entscheidung im Wesentlichen auf die Anwendung ebendieser Voraussetzungen. Soweit nicht anders vermerkt beziehen sich die folgenden Ausführungen deshalb auf die Entscheidung zum BayPAG.

Ein Inhaltsverzeichnis, das den Umgang mit der mit 176 Randnummern nicht unbedingt kurzen Entscheidung erleichtern würde, hat das BVerfG seinen LeserInnen dieses Mal nicht spendiert. Allerdings ist die Entscheidung so lehrbuchmäßig aufgebaut, dass die Orientierung dennoch leicht fällt.

Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – auch im Nichttrefferfall

Die Prüfung der Begründetheit beginnt mit der Frage, inwieweit die automatisierte Kennzeichenerfassung einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt. Hier setzt der Senat gleich zu Beginn einen Paukenschlag, nimmt er doch ausdrücklich Abstand von seiner früheren Rechtsprechung, in der er noch die Auffassung vertreten hatte, dass Datenerfassungen keinen Eingriff begründen würden, soweit sie „unmittelbar nach der Erfassung technisch wieder spurenlos, anonym und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, ausgesondert werden.“ Deshalb komme es in den Fällen der elektronischen Kennzeichenerfassung dann nicht zu einem Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, „wenn der Abgleich mit dem Fahndungsbestand unverzüglich vorgenommen wird und negativ ausfällt (sogenannter Nichttrefferfall) sowie zusätzlich rechtlich und technisch gesichert ist, dass die Daten anonym bleiben und sofort spurenlos und ohne die Möglichkeit, einen Personenbezug herzustellen, gelöscht werden“ (Rn. 68).

Nunmehr geht der Senat gerade vom Gegenteil aus, wonach auch in diesem Fall ein Eingriff vorliege. Ausgeschlossen werden könne ein Eingriff lediglich dann, „wenn Daten Dritter im Rahmen von elektronischen Datenverarbeitungsprozessen nur zufällig am Rande mit erfasst werden und unmittelbar nach der Erfassung technisch wieder anonym, spurlos und ohne Erkenntnisinteresse für die Behörden gelöscht werden.“ (Rn. I/48; man könnte auch sagen, der Senat kehrt hier zu seiner ursprünglichen Linie zurück, war dies doch im Wesentlichen die Auffassung der noch früheren Rechtsprechung, obwohl diese in BVerfGE 120, 378 in sehr großzügiger Auslegung als Nachweis der dort vertretenen Auffassung zitiert wurde.)

Maßgeblich für das Vorliegen eines Eingriffs bei der Kennzeichenerfassung sei, „dass Erfassung und Abgleich der Daten einen Kontrollvorgang begründen, der sich bewusst auf alle in die Kennzeichenkontrolle einbezogenen Personen erstreckt und erstrecken soll.“ Die Einbeziehung der Daten auch von Personen, deren Abgleich letztlich zu Nichttreffern führt, erfolge „nicht ungezielt und allein technikbedingt“, sondern sei notwendiger und gewollter Teil der Kontrolle und gebe ihr als Fahndungsmaßnahme erst ihren Sinn. Zu diesem Zweck würden die Daten gezielt erhoben. Dass deren Auswertung automatisiert erfolgt, stelle dies nicht in Frage; vielmehr würden damit die Kontrollmöglichkeiten der Polizei wesentlich erweitert (Rn. I/50).

Unabhängig davon, dass den Betroffenen im Nichttrefferfall weder Unannehmlichkeiten noch Konsequenzen erwachsen könnten, ändere dies nichts daran, „dass sie durch die Kennzeichenkontrolle einer staatlichen Maßnahme unterzogen werden, mit der sich ihnen gegenüber ein spezifisches Fahndungsinteresse zur Geltung bringt“. Mit ihr würde ihre ungehinderte Weiterfahrt unter den Vorbehalt gestellt, dass Erkenntnisse gegen sie nicht vorliegen. Eine solche Maßnahme sei nicht erst hinsichtlich ihrer Folgen, sondern als solche freiheitsbeeinträchtigend: „Zur Freiheitlichkeit des Gemeinwesens gehört es, dass sich die Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich fortbewegen können, ohne dabei beliebig staatlich registriert zu werden, hinsichtlich ihrer Rechtschaffenheit Rechenschaft ablegen zu müssen und dem Gefühl eines ständigen Überwachtwerdens ausgesetzt zu sein“ (Rn. 51).

Hierin unterscheide sich die Kennzeichenerfassung gerade von Kontrollen wie etwa Geschwindigkeits- oder Rotlichtkontrollen im Straßenverkehr, die „erst im Fall eines Treffers Daten zu einzelnen Personen erfassen.“ Im Übrigen ließen sich Verkehrskontrollen auch deshalb nicht mit Kennzeichenkontrollen vergleichen, weil sie an risikobehaftetes Tun anknüpften und damit materiell in anderem Umfang gerechtfertigt seien (Rn. I/52; I/94).

Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und der Länder

Im Anschluss an den Eingriff widmet sich das BVerfG der Frage der formellen Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Vorschriften, vor allem in Hinblick auf die Gesetzgebungskompetenzen. Im Ergebnis findet es dabei einige erstaunlich grobe Verstöße, die entsprechend von ihm aussortiert werden – allerdings nicht in den Regelungen zur Kennzeichenerfassung selbst, sondern in den in Bezug genommenen Normen zur Identitätsfeststellung.

Eine Kompetenzgemäßheit der Regelungen verneint das Gericht zunächst, soweit die Kennzeichenkontrollen gem. Art. 33 II i.V.m. Art. 13 I Nr. 5 BayPAG „zur Verhütung oder Unterbindung der unerlaubten Überschreitung der Landesgrenze“ erlaubt werden. Dies verstoße gegen die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes für den Grenzschutz aus Art. 73 I Nr. 5 GG. Dabei stelle insbesondere auch § 2 I, III BPolG keine Öffnungsklausel im Sinne des Art. 71 GG dar. Der Bundesgesetzgeber habe auch für den darin geregelten Fall, dass bestimmte Aufgaben des Grenzschutzes auf einzelne Länder übertragen werden, eine Verweisung auf das auch sonst für die Wahrnehmung allgemeinpolizeilicher Aufgaben geltende Landesrecht als ausreichend erachtet (Rn. I/57).

Auch § 26 I Nr. 4 u. 5 PolG BW sei nicht mit der Verfassung vereinbar. Die Vorschrift regele ihrem klaren Wortlaut nach nicht die Verhütung von Straftaten, sondern die Fahndung nach Straftätern. Eine Ermächtigung zur Fahndung nach Straftätern könne jedoch nicht als Regelung verstanden werden, die ihrem Schwerpunkt nach präventiven Zwecken dient (Rn. II/59).

Schließlich verstoße § 18 II Nr. 5 HSOG, soweit er polizeiliche Kontrollstellen zur Verhütung von versammlungsrechtlichen Straftaten vorsehe, als Eingriff in Art. 8 I GG gegen das Zitiergebot nach Art. 19 I 2 GG (Rn. II/61).

Im Übrigen bezieht sich die Prüfung auf das stets wiederkehrende Problem der Abgrenzung zwischen den Aufgaben der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr. Hier sieht das Gericht die Regelungen jedoch ansonsten vollumfänglich als durch die Gesetzgebungszuständigkeit zur Gefahrenabwehr gedeckt an. Die Kennzeichenkontrolle werde jeweils nur für die Fälle erlaubt, in denen auch eine Identitätsfeststellung zulässig sei. Mit dem Verweis auf die Identitätsfeststellung werde aber zugleich auf deren Zwecke verwiesen, die zumindest in ihrem Schwerpunkt alle eine präventive Zielrichtung besäßen (Rn. I/76; II/65).

Auch der sich anschließende Datenabgleich mit den genannten Datenbeständen sei auf diese präventiven Zwecke hin ausgerichtet. Er diene dazu, durch das Auffinden der gesuchten Personen die Erreichung dieser Zwecke zu unterstützen. Dass der Gesetzgeber dabei auch Datenbestände einbezogen habe, die auf strafrechtlichen Ausschreibungen beruhen, ändere nichts daran, dass der diesbezügliche Abgleich den zuvor genannten präventiven Zwecken diene (Rn. I/77). Allerdings müssten die Regelungen so ausgelegt werden, dass in eine Kontrolle jeweils nur solche Datenbestände einbezogen werden dürften, die potentiell hierfür geeignet, erforderlich und angemessen seien (Rn. I/79).

Verhältnismäßigkeit der Kennzeichenkontrolle

Den Zweck der Kennzeichenerfassung sieht das Gericht mit Blick auf die verschiedenen Varianten des § 13 I BayPAG (für Hessen und Baden-Württemberg gilt entsprechendes, Rn. II/70 ff.) in der Abwehr von Gefahren im Einzelfall (Nr. 1), der Eindämmung von Orten, die Rückzugs- und Ausgangspunkt für Kriminalität sind (Nr. 2), dem Schutz von gefährdeten Orten mit Bedeutung für das Gemeinwesen (Nr. 3), der Unterstützung polizeilicher Kontrollstellen in dem Schutz vor schweren Straftaten und der friedlichen Durchführung von Versammlungen (Nr. 4) sowie dem Schutz vor grenzüberschreitender Kriminalität oder der Verhinderung von Verstößen gegen das Aufenthaltsrecht mittels der Schleierfahndung (Nr. 5). Der Gesetzgeber verfolge hiermit legitime Zwecke. (Rn. I/84) Da die Kennzeichenerfassung helfe, Personen oder Sachen zu finden, deren Aufgreifen zur Erreichung der jeweiligen Zwecke beitragen könne, sei sie grundsätzlich auch geeignet. (Rn. I/85)

Allgemeine Anforderungen

In Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit i.e.S. stellt das Gericht verschiedene allgemeine Anforderungen auf, denen in der erforderlichen Gesamtabwägung grundsätzlich alle der genannten Varianten zu entsprechen haben.

In Bezug auf den bei der Kennzeichenkontrolle vorzunehmenden Datenabgleich wiederholt das Gericht nochmals seine Forderung – vgl. zuvor bereits in Hinblick auf die präventive Ausrichtung (Rn. I/79) und die Geeignetheit (Rn. I/87) der Maßnahmen – wonach die Regelungen zur Kennzeichenerfassung so auszulegen seien, dass die aus den verschiedenen Fahndungsbeständen einzubeziehenden Daten je nach Anlass zweckbezogen und nach pflichtgemäßem Ermessen auszuwählen seien. In der Praxis müsse zur Durchführung einer Kennzeichenkontrolle ohnehin jeweils eine eigene Abgleichdatei erstellt werden. Art. 33 II 4 BayPAG sei deshalb nicht als Sonderregelung, sondern als Ausdruck eines die Regelung insgesamt anleitenden Verständnisses zu verstehen (Rn. I/110 f.).

Die angegriffenen Vorschriften genügten im Wesentlichen auch den übergreifenden Maßgaben hinsichtlich Transparenz, individuellem Rechtsschutz und aufsichtlicher Kontrolle. Unbedenklich sei insbesondere, dass die Kennzeichenkontrollen grundsätzlich verdeckt durchgeführt werden. Anders als für heimliche Überwachungsmaßnahmen von höherer Eingriffsintensität bedürfe es – auch im Trefferfall – insoweit keiner Benachrichtigungspflicht. Vielmehr reiche es, wenn die Betroffenen von den Kontrollen nur im Rahmen von ihnen gegenüber ergriffenen Folgemaßnahmen erführen. (Rn. I/154) Nicht mit den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vereinbar sei hingegen, dass das Gesetz keine Pflicht zur Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen eines Einsatzes der automatisierten Kennzeichenkontrollen vorsehe. Denn die Maßnahme werde dem Betroffenen in der Regel nicht bekannt und auch nicht begründet. Die Ermächtigung zur Kennzeichenerfassung könne deshalb nur dann als verhältnismäßig angesehen werden, wenn die Entscheidungsgrundlagen für die Durchführung einer solchen Maßnahme nachvollziehbar und überprüfbar dokumentiert werden. Das betreffe insbesondere das in allen Tatbestandsvarianten geltende Erfordernis der „entsprechenden Lageerkenntnisse“, das erst durch eine behördliche Konkretisierung nähere Konturen erhalte, sowie die Auswahl der einbezogenen Fahndungsbestände. Dies rationalisiere und mäßige die Entscheidung der Behörde, ermögliche erst eine aufsichtliche Kontrolle und erleichtere die verwaltungsgerichtliche Kontrolle bei Bekanntwerden entsprechender Maßnahmen (Rn. I/156 f.).

Im Grundsatz seien auch die Regelungen zur Nutzung der Daten wie zur Datenlöschung verfassungsrechtlich tragfähig. Nicht hinreichend eingegrenzt sei allerdings die Verwendung der Daten für weitere Zwecke. Soweit der in Bezug genommene Art. 38 III 2 BayPAG. eine Nutzung der Daten für weitere Aufgaben, insbesondere hinsichtlich sogenannter Zufallserkenntnisse erlaube, liege hierin eine Zweckänderung. Gegen eine solche Öffnung sei verfassungsrechtlich grundsätzlich nichts zu erinnern. Eine Zweckänderung setze jedoch voraus, dass die entsprechenden Daten nach verfassungsrechtlichen Maßstäben neu auch für den geänderten Zweck mit vergleichbar schwerwiegenden Ermittlungsmaßnahmen erhoben werden dürften. Verhältnismäßig sei danach vorliegend eine weitere Nutzung nur, wenn sie dem Schutz von Rechtsgütern diene, die auch die Durchführung einer Kraftfahrzeugkennzeichenkontrolle rechtfertigen könnten. Da dies für Art. 38 III 2 BayPAG, soweit er eine Nutzung für weitere Zwecke vorsieht, nicht sichergestellt sei, sei die Vorschrift insoweit nicht mit der Verfassung vereinbar (Rn. I/162; vgl. Rn. II/89 ff.). Entsprechendes gelte auch für § 22a IV 4 PolGBW sowie § 14a IV 4 HSOG (II/90 f.).

Die einzelnen Varianten von Kennzeichenkontrolle bzw. Identitätsfeststellung

Um dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.e.S. zu genügen, sei im Übrigen erforderlich, dass die Kontrollen grundsätzlich jeweils durch einen hinreichend konkreten, objektiv bestimmten Grund veranlasst seien und dem Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichem Gewicht oder einem vergleichbar gewichtigen öffentlichen Interesse dienten. Anhand dieser Anforderungen prüft der Senat die einzelnen Varianten des Art. 13 I BayPAG – bzw. der parallelen Normen im hessischen und baden-württembergischen Landesrecht – der Reihe nach durch:

Art. 13 I Nr. 1 BayPAG – Abwehr einer Gefahr

In der Variante der Nr. 1 sieht das Gesetz Kennzeichenkontrollen zur Abwehr einer Gefahr vor (Rn. I/103 ff.). Nach Ansicht des Gerichts binde der Gesetzgeber damit die Kontrollen zwar an einen hinreichend konkreten Anlass. Allerdings eröffne die Vorschrift die Möglichkeit von Kennzeichenkontrollen zur Abwehr jeder Gefahr und damit allgemein zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. In Bezug genommen sei so die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung insgesamt, ohne hinsichtlich der in Frage stehenden Rechtsgüter Gewichtungen vorzunehmen. Dies genüge den Anforderungen an einen hinreichend gewichtigen Rechtsgüterschutz nicht. Angesichts des Eingriffsgewichts von automatisierten Kennzeichenkontrollen verlange das Übermaßverbot vielmehr, diese auf die Abwehr von Gefahren für Rechtsgüter von zumindest erheblichem Gewicht zu beschränken (Rn. I/106). Entsprechendes fordert das Gericht auch für § 18 I HSOG sowie § 26 I Nr. 1 PolG BW (Rn. II/72).

Art. 13 I Nr. 2 BayPAG – Gefährliche Orte

Gerechtfertigt sei die Variante Nr. 2 durch das Ziel, zur Sicherheit an den genannten Orten beizutragen, und zu verhindern, dass sie zum schutzbietenden Ausgangspunkt für die Verübung von Straftaten werden. Das Ziel, der Gefahr entgegenzuwirken, dass solche Orte zum Sammelpunkt von Straftätern oder Personen ohne Aufenthaltsrecht würden, knüpfe – unabhängig von dem Einzelgewicht der Rechtsverstöße – an ein strukturell erhöhtes Gefahrenpotential an und diene damit einem öffentlichen Interesse von erheblichem Gewicht (Rn. I/120).

Dabei knüpfe die Regelung nicht an eine bloß abstrakte Gefährlichkeit bestimmter Orte an, sondern begrenze die Kontrollen auf Orte, für die tatsächliche Anhaltspunkte bestünden, dass sie von den in der Vorschrift genannten Personen maßgeblich frequentiert werden. Sie enthalte damit nicht etwa eine Generalermächtigung für Kennzeichenkontrollen. Das gelte auch für die nähere Bestimmung der tatsächlichen Durchführung einer Kontrolle. Diese sei nicht etwa beliebig im weiteren Umfeld dieser Orte erlaubt, sondern nur dort, wo die gesetzlich bestimmten Voraussetzungen tatsächlich unmittelbar erfüllt seien. Durch die in allen Varianten geforderten „Lageerkenntnisse“ werde dies weiter abgesichert. Dabei müsse der nach polizeilichen Erkenntnissen gefährliche Ort gerade mit Kraftfahrzeugen aufgesucht werden (Rn. I/120).

Art. 13 I Nr. 3 BayPAG – Gefährdete Orte

In der Variante Nr. 3 erlaubt die Vorschrift Kennzeichenkontrollen an besonders gefährdeten Objekten oder in unmittelbarer Nähe hiervon. Die Begründung des Gesetzesentwurfs nenne als Beispiele Flughäfen, Bahnhöfe, öffentliche Verkehrsmittel, militärische Einrichtungen, Kernkraftwerke oder sonstige gefährdete Objekte wie Konsulate ausländischer Staaten. Sie ziele damit auf einen Schutz sowohl dieser Objekte selbst und ihrer Funktion für das öffentliche Leben sowie der in ihnen befindlichen Personen. Dies seien Schutzgüter von zumindest erheblichem Gewicht (Rn. I/124). Der Gesetzgeber habe für die Durchführung der Kontrollen auch eine verfassungsrechtlich hinreichende Eingriffsschwelle eingezogen. Erlaubt seien diese nur, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass in oder an Objekten dieser Art Straftaten begangen werden sollen, durch die in oder an diesen Objekten befindliche Personen oder die Objekte selbst unmittelbar gefährdet seien. Flankiert werde dies auch hier durch das Erfordernis des Vorliegens entsprechender Lageerkenntnisse (Rn. I/125).

Art. 13 I Nr. 4 BayPAG – Kontrollstellen

In der Variante Nr. 4 eröffne die Vorschrift Kennzeichenkontrollen zur Unterstützung von polizeilichen Kontrollstellen, soweit diese einerseits zur Verhinderung schwerer Straftaten sowie anderseits zur Verhinderung versammlungsrechtlicher Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten eingerichtet sind (Rn. I/128 ff.).

Das Ziel der Kennzeichenkontrollen liege nach der ersten Alternative – entsprechend dem Ziel der polizeilichen Kontrollstellen selbst – in der Verhinderung von schweren Straftaten, womit es um Rechtsgüter von zumindest erheblichem Gewicht gehe.

Nichts anderes gelte aber auch für die Verhinderung der genannten versammlungsrechtlichen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten. Zwar dienten diese nicht alle je für sich dem Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichem Gewicht. Jedoch gehe es nicht allein um die Verhinderung der einzelnen Delikte, sondern um den Schutz der Versammlungen als solchen. Hierin liege ebenfalls ein Schutzzweck von erheblichem Gewicht.

Angesichts der tatbestandlichen Offenheit der Vorschrift sei es verfassungsrechtlich geboten, die Durchführung solcher Kontrollen nach den Grundsätzen des allgemeinen Sicherheitsrechts auf eine im Einzelfall bestehende Gefahr zu beschränken, dass Straftaten, wie sie mit der Kontrollstelle verhindert werden sollen, tatsächlich bevorstünden. Soweit der Gesetzgeber Kontrollstellen auch unterhalb dieser Schwelle erlauben wolle, etwa zum Schutz von gefahrenträchtigen Großereignissen oder eingebunden in spezifische polizeiliche Ermittlungsstrategien, sei dies verfassungsrechtlich möglich. Er müsse dies aber in hinreichend klarer und begrenzter Form regeln (Rn. I/133).

Die Variante sei zudem auch mit Art. 8 GG vereinbar. Zwar liege in einer polizeilichen Kontrollstelle, die den Zugang zu einer Versammlung kontrolliert, ein Eingriff in Art. 8 I GG. Der Eingriff sei jedoch gerechtfertigt. Insbesondere seien solche Kontrollen nicht auf Situationen einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr zu beschränken. Diese Eingriffsschwelle sei von der Rechtsprechung für Verbote und Auflösungen von Versammlungen entwickelt worden. Gegenüber diesen hätten solche Kontrollen aber ein geringeres Gewicht, da sie die selbstbestimmte Durchführung der Versammlung als solche nicht beeinträchtigen und diese insbesondere auch schützten. Für die Rechtfertigung von solchen Kontrollen im Vorfeld genüge es daher, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es bezogen auf eine bestimmte Versammlung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu versammlungsrechtlichen Straftaten oder den in der Vorschrift genannten Ordnungswidrigkeiten kommen werde (Rn. I/136).

Art. 13 I Nr. 5 BayPAG – Schleierfahndung

Die Variante 5 ermächtigt zur sogenannten Schleierfahndung, d.h. Kontrollen im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 km, auf Durchgangsstraßen sowie in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs. Die Regelung reiche damit weit. Ihr Zweck liege allgemein in der Bekämpfung von Verstößen gegen das Aufenthaltsrecht und der grenzüberschreitenden Kriminalität, ohne die Kontrollen auf die Verhütung von erheblichen Straftaten oder sonst auf den Schutz von Rechtsgütern von irgendeinem spezifizierten Gewicht zu begrenzen. Auch beschränke sie die Kontrollen nicht auf objektiv bestimmte Anlässe. Bei dem Verweis auf entsprechende Lageerkenntnisse bleibe offen, nach welchen Kriterien diese die Kontrollen rechtfertigen sollen. Letztlich handele es sich um eine Befugnis, die allein final durch eine weit gefasste Zwecksetzung definiert sei. Eine solche Befugnis sei grundsätzlich mit verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht vereinbar. Eine Rechtfertigung komme daher nur unter besonderen Bedingungen in Betracht (Rn I/135 ff.).

Eine solche Rechtfertigung findet der Senat darin, dass die Regelung als Ausgleich für den Wegfall der innereuropäischen Grenzkontrollen diene. Für diese sei nach innerstaatlichem Recht anerkannt gewesen, dass sie ohne weiteren Anlass durchgeführt werden dürfen. Sie gehörten zum überlieferten Instrumentarium zur Sicherung der Territorialhoheit und zur Gewährleistung von Recht und Sicherheit auf dem jeweiligen Staatsgebiet. Wenn die Bundesrepublik nun auf der Grundlage des Unionsrechts die Grenzen öffne und auf Grenzkontrollen verzichte, sei es im Grundsatz gerechtfertigt, wenn als Ausgleich hierfür zur Gewährleistung der Sicherheit die allgemeinen Gefahrenabwehrbefugnisse spezifisch erweitert werden. Dem stehe auch nicht entgegen, dass die Kontrollen auch Personen beträfen, die die Grenze nicht überschritten haben. Denn die Kontrolle solle und könne nur ein die Sicherheit betreffender Ausgleich, nicht aber eine andere Form der Grenzkontrolle sein. Aus Gründen des Unionsrechts dürfe ein Ausgleich nur in Maßnahmen gesucht werden, die nicht den Charakter von Grenzkontrollen annehmen. Im Ergebnis sei die Entscheidung zu solchen Kontrollen nicht unverhältnismäßig, sondern liege in der politischen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (Rn. I/144 ff.).

Verhältnismäßig seien automatisierte Kennzeichenkontrollen deshalb aber nur in dem Umfang, in dem sie einen konsequenten Grenzbezug habe, der in einer den Bestimmtheitsanforderungen genügenden Weise gesichert sei. Unbedenklich sei danach, dass Kennzeichenkontrollen in einem Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 km durchgeführt werden dürfen. Keine Bedenken bestünden auch gegen die Ermächtigung zu Kennzeichenkontrollen an öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs. Diese wiesen ersichtlich einen örtlichen Grenzbezug auf. Nicht hinreichend bestimmt und begrenzt seien die Kennzeichenkontrollen demgegenüber für Orte, die außerhalb des 30 km-Gürtels vorgenommen werden dürften. Eine Befugnis zu Kontrollen allgemein auf Durchgangsstraßen im ganzen Land sei mit Bestimmtheitsanforderungen nicht vereinbar und reiche zu weit. (Rn. I/149) Nicht hinreichend begrenzt waren unter diesem Gesichtspunkt auch § 26 I Nr. 6 PolGBW, der Kennzeichenkontrollen allgemein auf Durchgangsstraßen im ganzen Land eröffnet, sowie § 18 Abs. II Nr. 6 HSOG, der Kennzeichenkontrollen ohne Beschränkung auf Durchgangsstraßen auf allen Straßen insgesamt eröffnet (Rn. II/76).

Bei der Gesamtabwägung falle dabei auch ins Gewicht, dass die Schleierfahndung durch die Maßgaben des Unionsrechts rechtsstaatlich weiter abgefedert werde. Das Unionsrecht stehe nach der Rechtsprechung des EuGH Regelungen wie der Schleierfahndung nur dann nicht entgegen, wenn gewährleistet sei, dass deren praktische Anwendung nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen habe. Nach dem Stand der fachgerichtlichen Rechtsprechung genügten Regelungen wie die angegriffenen diesen unionsrechtlichen Maßgaben nicht und dürften deshalb ohne konkretisierende, verbindliche und transparente Regelung zur Lenkung der Intensität, der Häufigkeit und der Selektivität der Kontrollen in dieser Form nicht angewendet werden. Insoweit werde durch die unionsrechtlichen Maßgaben die Handhabung der Kontrollbefugnisse weiteren Anforderungen unterworfen, die zu deren Verhältnismäßigkeit beitragen.

Nichtigkeit und Unvereinbarkeit

Im Ergebnis hat das BVerfG die beanstandeten Regelungen nur insoweit für nicht erklärt, als sie mit Vorgaben des Grundgesetzes zur Gesetzgebungszuständigkeit nicht im Einklang standen. Der Landesgesetzgeber könne die entsprechenden Regelungen mangels Kompetenz gerade nicht nachbessern. Dabei wurden nach § 78 S. 2 BVerfGG im Interesse der Rechtsklarheit auch die jeweiligen Neufassungen des BayPAG für nichtig erklärt. 

Die im Übrigen beanstandeten Vorschriften wurden lediglich für mit der Verfassung unvereinbar erklärt und ihre vorübergehende Fortgeltung bis zum Ablauf des 31. Dezember 2019 angeordnet. Die Gründe für die Verfassungswidrigkeit beträfen hier nicht den Kern der eingeräumten Befugnisse, sondern nur einzelne Aspekte ihrer rechtsstaatlichen Ausgestaltung. Angesichts der Bedeutung, die der Gesetzgeber der Kennzeichenkontrolle für eine wirksame Gefahrenabwehr beimessen dürfe, sei unter diesen Umständen deren vorübergehende Fortgeltung eher hinzunehmen als deren Nichtigerklärung (Rn. I/167 ff.; II/ 93 ff.).

Was bleibt von der Entscheidung? 

Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – auch im Nichttrefferfall

Dogmatisch ordnet sich die Entscheidung scheinbar mühelos in das vom Ersten Senat erfundene allgemeine Sicherheitsrecht ein. Bemerkenswert erscheint hier in erster Linie die vom Senat vorgenommene Korrektur seiner Rechtsprechung hinsichtlich der Eingriffsqualität der Maßnahme im Nichttrefferfall. Im Ergebnis führt dies zunächst zu einer Neubewertung der automatisierten Kennzeichenerfassung, die sich nunmehr als erheblich eingriffsintensiver als in der Vorgängerentscheidung präsentiert. An den Konsequenzen ändert sich hierdurch freilich wenig: Auch in der Vorgängerentscheidung wurde bereits betont, dass eine anlasslose oder gar flächendeckende Kennzeichenüberwachung nicht in Frage komme (Rn. 98 ff.). Ebenso wurden das sich einstellende Gefühl des Überwachtwerdens und sich daraus möglicherweise ergebende Einschüchterungseffekte in die Abwägung eingestellt (Rn. 78, 173). Freilich wurde in der damaligen Entscheidung ein Hauptaugenmerk darauf gerichtet, dass die Kennzeichenerfassung angesichts der Unbestimmtheit der zur überprüfenden gesetzlichen Regelungen ebenso wenig für Zwecke der Operation ausgeschlossen war wie ihr routinehafter und flächendeckender Einsatz (Rn. 171). Insofern fehlte es an einer vergleichbaren Auseinandersetzung mit konkreten Anlässen zur Überwachung. Es  spricht jedoch einiges dafür, dass dieselben inhaltlichen Vorgaben auch auf der Grundlage der alten Rechtsprechung möglich gewesen wären. Zum Teil sind sie dort sogar bereits angelegt (Rn. 170 ff.).

Möglicherweise kann die Entscheidung an dieser Stelle deshalb auch einfach als endgültiger Bruch mit dem Versuch gelesen werden, die Frage des Vorliegens eines Eingriffs von grundrechtsspezifischen Anforderungen abhängig zu machen. Einen solchen Versuch hatte in seiner Zeit am Gericht namentlich Wolfgang Hoffmann-Riem unternommen, am prominentesten wohl in den Entscheidungen Osho und Glykol. Mit der Bejahung des Eingriffs vermeidet das Gericht derartig starre Festlegungen und kehrt stattdessen vollumfänglich zur flexibleren Abwägungslösung zurück. 

Zugleich erweitert es hierdurch auch seine prozessualen Zugriffsmöglichkeiten, ist durch das Vorliegen eines Eingriffs doch nunmehr auch im Nichttrefferfall bei derart weitreichenden Überwachungsmaßnahmen praktisch für jeden Grundrechtsträger und jede Grundrechtsträgerin eine entsprechende Beschwer gegeben. Möglicherweise – so wird das Urteil jedenfalls bereits gedeutet – bringt sich das Gericht hier auch schon einmal für künftige Verfahren in Stellung. Schon allein aufgrund des – staatlicherseits großzügig geförderten – zu erwartenden technischen Fortschritts wird mit dem Einsatz weiterer Überwachungstechnologien zu rechnen sein, die mit großer Wahrscheinlichkeit allesamt ebenfalls vor dem BVerfG landen werden: Zu denken ist hier nicht nur an die mögliche Kennzeichenüberwachung zur Durchsetzung von Dieselfahrverboten, sondern auch an die automatisierte Gesichtserkennung – die durch den Feldversuch am Berliner Bahnhof Südkreuz einige Aufmerksamkeit erfahren hat – oder an den Einsatz von Körperscannern zur Detektion von Waffen und Sprengstoffen.

Dabei verwundert es auch nicht, dass dieser Teil der Entscheidung einer derjenigen war, die nicht einstimmig ergangen sind (5:2 Stimmen; Rn. I/176). Denn der Topos eines „Gefühls eines ständigen Überwachtwerdens“, mit dem die Senatsmehrheit argumentiert, um den Eingriff zu begründen, obwohl negative Folgen für die individuell Betroffenen ansonsten ausbleiben, gehört schon lange zu einer der umstrittensten Argumentationsfiguren des Gerichts und hat schon in der Vergangenheit viel Kritik erfahren. Insofern ist die Senatsmehrheit hier tatsächlich in die Offensive gegangen, wenn sie gar nicht erst auf mögliche Abschreckungseffekten abstellt, sondern derartige Maßnahmen ausdrücklich „nicht erst hinsichtlich ihrer Folgen, sondern als solche“ als freiheitsbeeinträchtigend bezeichnet.

Anlasslose Überwachung und Anlässe zur Überwachung

Inwieweit kann in dem Umstand, dass sich diese Auffassung und die damit verbundene nochmalige ausdrückliche Absage an eine anlasslose Massenüberwachung im Senat durchgesetzt hat, aber tatsächlich ein wichtiger Schritt zur Begrenzung staatlicher Überwachungsmaßnahmen gesehen werden? M.E. entpuppt sich die Entscheidung bei genauerem Hinsehen weniger als großer Wurf, als vielmehr als eine der typischen „sowohl-als-auch“-Entscheidungen, die zwar hehre Grundsätze propagieren, deren Bedeutung in der Anwendung aber weit zurücknehmen: 

Denn, auch wenn das Gericht sich eindeutig gegen eine anlasslose Überwachung ausspricht, erteilt es den verschiedenen Anlässen, zu denen eine solche Überwachung erfolgen soll, doch fast ausnahmslos seinen Segen. Augenfällig ist diese Diskrepanz etwa im Zusammenhang mit den in Art. 13 I Nr. 4 BayPAG geregelten Kontrollstellen. Obwohl die Kennzeichenerfassung zuvor abstrakt ausdrücklich davon abhängig gemacht wurde, dass sie dem Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichem Gewicht oder einem vergleichbar gewichtigen öffentlichen Interesse diene, und obwohl der Senat selbst einräumt, dass diese für sich nicht stets einem solchen Zweck diene, wird in der Anwendung dieses Maßstabs ohne Not die Verhinderung von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten des Versammlungsrechts als ausreichendes Ziel angesehen. (Rn. I/130) Die Begründung, hier gehe es um den Schutz der Versammlungen als solcher, bleibt in ihrer Bedeutung dunkel: Wenn bei der Versammlung allenfalls Ordnungswidrigkeiten zu erwarten sind, wogegen muss die Versammlung dann geschützt werden? Umso unverständlicher erscheint dieses Vorgehen vor dem Hintergrund, dass in § 13 I Nr. 4 BayPAG n.F. der Verweis auf bloße Ordnungswidrigkeitstatbestände ohnehin gestrichen wurde. Auch den – in der Literatur durchaus prominent vertretenen – Überlegungen doch immerhin aus Art. 8 I GG einen weitergehenden Schutz abzuleiten, wird ohne Not durch den Senat eine Absage erteilt.

Entgrenzte Identitätskontrolle

Ärgerlich ist dieser großzügige Umgang des Gerichts mit den einzelnen Varianten des Art. 13 I BayPAG vor allem auch deshalb, weil die Konsequenzen nicht nur weit über die Frage der Kennzeichenerfassung, sondern auch über die Frage der technologiebasierten Massenüberwachung hinausreichen. Den weitaus größten Raum nehmen in den Entscheidungen ja nicht die spezifischen Ermächtigungen zur Kennzeichenerfassung ein, sondern die verschiedenen Varianten der Ermächtigung zur Identitätskontrolle auf die erstere jeweils verweisen. Diese finden sich – in jeweils nur leicht veränderter Form – in allen Polizeigesetzen, gehen sie doch auf § 9 des Musterentwurfs zu einem Polizeigesetz aus dem Jahre 1976 zurück. Gerade diese Regelung trug aber dazu bei, die Befugnisse der Polizei in der alltäglichen Arbeit vor Ort – neben der Identitätsfeststellung etwa auch die Durchsuchung von Sachen und Personen – überhaupt erst vom Erfordernis der konkreten Gefahr zu befreien. Die entsprechenden Regelungen haben seitdem als Grundlage für unzählige Maßnahmen gedient, die für die Betroffenen – nicht zuletzt die Angehörigen von Minderheiten und bestimmten Randgruppen – mit sehr viel intensiveren Eingriffen verknüpft sind, als die Kennzeichenerfassung. Kritisiert weuden sie von Anfang an wegen der Reichweite und Unbestimmtheit der einzelnen Tatbestandsalternativen, die zu keiner relevanten Eingrenzung der entsprechenden Befugnisse führen und eine effektive gerichtliche Kontrolle des polizeilichen Handelns nahezu unmöglich machen. Diese Tatbestandsvoraussetzungen hat das BVerfG aber nun – en passant – nahezu vollumfänglich mit der Weihe der Verfassungsmäßigkeit versehen.

Besonders augenscheinlich wird die Problematik in Bezug auf die Variante, die an das Vorhandensein gefährlicher Orte anknüpft. Ursprünglich vor allem als Grundlage für sogenannte Razzien gedacht, dient sie heute an zahllosen Orten des Alltagslebens als Eingriffsgrundlage. Mit § 4 II HHPolDVG a.F. hatte das Hamburgische OVG eine Variante dieser Vorschrift, die entsprechende Kontrollen immerhin von der Feststellung eines sogenannten Gefahrengebiets abhängig gemacht hatte, u.a. deshalb als verfassungswidrig angesehen, weil sie zu unbestimmt sei und die polizeiliche Lagebeurteilung letztlich zum einzigen Maßstab für einen Eingriff mache, womit sie es dem Normadressaten in die Hand gebe, das Vorliegen der maßgeblichen Tatbestandsvoraussetzung selbst herbeizuführen. (Rn. 57) Vergleichbare Bedenken finden sich beim BVerfG nicht. Einzig die geforderten Dokumentationspflichten können hier als ein Schritt in die richtige Richtung angesehen werden.

Deutlich wird die Problematik schließlich auch in der Auseinandersetzung mit der – seit jeher umstrittenen – sogenannten Schleierfahndung. Vorliegend sieht der Senat hierin zu Recht eine Befugnis „zu praktisch anlasslosen, nur final angeleiteten Maßnahmen“, die nur aufgrund besonderer Umstände gerechtfertigt werden könnten. Diese Umstände sollen jedoch nun darin zu sehen sein, dass die Regelung als Kompensation für den Wegfall der innereuropäischen Grenzkontrollen dient. Für diese sei nach innerstaatlichem Recht gerade anerkannt gewesen, dass sie ohne weiteren Anlass durchgeführt werden dürften. Hier bedarf es schon eines gewaltigen argumentativen Sprungs, um aus dem Umstand, dass Maßnahmen, die nun nicht mehr anerkannt sind, ehemals anerkannt waren, darauf zu schließen, dass deshalb nun ganz andere Maßnahmen an ihre Stelle treten dürfen. Die Überzeugungskraft dieser Argumentation wird auch nicht dadurch erhöht, dass das BVerfG durchaus erkennt, dass nach der Rechtsprechung des EuGH Maßnahmen, die die Grenzkontrollen funktional ersetzen würden, unionsrechtlich gerade ausgeschlossen sind. Immerhin gibt der Senat einen deutlichen Hinweis darauf, dass das gegenwärtige Recht unanwendbar sein dürfte. Es stellt sich aber doch die Frage, ob dies eine fehlende verfassungsrechtliche Kontrolle tatsächlich rechtfertigt.

Schlussendlich lässt sich festhalten, dass die vorliegenden Entscheidungen – vergleicht man den gegenwärtigen Stand des Sicherheitsrecht mit dem sprichwörtlichen Wasserglas – an dessen Wasserstand eher nichts geändert haben: Je nach Sicht bleibt dieses auch weiterhin halb leer oder halb voll.


SUGGESTED CITATION  Rusteberg, Benjamin: Zwischen modernem Sicherheitsrecht und klassischem Polizeirecht – Die Entscheidungen zur automatisierten Kenn­zeichen­kontrolle, VerfBlog, 2019/2/07, https://verfassungsblog.de/zwischen-modernem-sicherheitsrecht-und-klassischem-polizeirecht-die-entscheidungen-zur-automatisierten-kennzeichenkontrolle/, DOI: 10.17176/20190211-213039-0.

7 Comments

  1. Fabian Michl Fri 8 Feb 2019 at 02:03 - Reply

    Vielen Dank für die konzise Darstellung und Einordnung! Ich habe etwas gebraucht, bis ich die mich besonders interessierenden Ausführungen des Gerichts zur Schleierfahndung verdaut habe. Auf die Spitze getrieben: Die Befugnisse zur Schleierfahndung sind verhältnismäßig, weil sie wegen ihrer Unionsrechtswidrigkeit ohnehin nicht angewendet werden dürfen. Darauf muss man erst einmal kommen.

  2. Matthias Bäcker Fri 8 Feb 2019 at 09:44 - Reply

    Vielen Dank für diese Analyse, die ich ganz weitgehend teile.

    Ein ergänzender Hinweis: Bemerkenswert finde ich noch die Zulässigkeitsprüfung der Rechtssatzverfassungsbeschwerden aus Hessen und Baden-Württemberg. Dort wird unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ein sehr weitreichender Vorrang eines (auch indirekten) fachgerichtlichen Rechtsschutzes statuiert, der sich so in der Rechtsprechung des Senats zum Sicherheitsverfassungsrechts m.E. nicht fand. Bisher wurden Rechtssatzverfassungsbeschwerden hier praktisch durchgewinkt, wenn die – großzügig gehandhabte – Voraussetzung einer eigenen, gegenwärtigen und unmittelbaren Beschwer gewahrt waren. Ausdrücklich werden die errichteten Erfordernisse denn auch gegen die Zulässigkeitsprüfung im ersten Kennzeichenverfahren abgegrenzt. Die Subsumtion macht dann ziemlich deutlich, dass der Senat die Verfassungsbeschwerden nur aufgrund besonderer Umstände des konkreten Verfahrens für zulässig hält.

    Je nachdem, wie diese Ausführungen in zukünftigen Verfahren gehandhabt werden, könnten sie weitgehend den Tod der unmittelbaren Rechtssatzverfassungsbeschwerde im Sicherheitsrecht bedeuten. Da gerade in diesem Gebiet fachgerichtliche Verfahren sehr selten sind, könnte der Senat sich hier angeschickt haben, eine langjährige Rechtsprechungslinie im Ergebnis weitgehend abzubrechen, weil es dann schlicht nicht mehr viele Verfassungsbeschwerden gegen Sicherheitsgesetze mehr geben dürfte. Jedenfalls weiß man, wenn man solche Textpassagen in die Welt setzt, nie, wie sie die eigenen Nachfolger handhaben werden. Ob das klug war?

  3. Benjamin Rusteberg Fri 8 Feb 2019 at 10:51 - Reply

    Lieber Herr Bäcker, haben Sie vielen Dank für den wichtigen Hinweis.

    Wenn ich das Gericht nicht falsch verstehe, wäre es potentiellen Beschwerdeführern ja aber auch weiterhin noch möglich, mittelbar verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen gesetzliche Regelungen zu suchen – etwa über die vorbeugende Unterlassungsklage wie in dem Verfahren bzgl. des BayPAG. Ausdrücklich auch ohne im Falle der Unzulässigkeit eine Verfristung befürchten zu müssen. Einen vorherigen Umsetzungsakt bräuchte es dann nach wie vor nicht – so würde ich jedenfalls auch die Ausführungen zur unmittelbaren Betroffenheit deuten, die ja ausdrücklich als gegeben angesehen wird. (Rn. II/35)

    Dies würde den verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen Gesetze zwar mit Sicherheit erheblich erschweren, aber wohl nicht unmöglich machen. Ein Abbrechen der Rechtsprechung zur Sicherheitsgesetzgebung würde ich hier deshalb eher nicht befürchten, ggf. aber eine erhebliche Verlangsamung.

  4. Matthias Bäcker Fri 8 Feb 2019 at 12:45 - Reply

    Das Problem dabei ist das Kostenrisiko. Die Rechtssatzverfassungsbeschwerden im Sicherheitsrecht kommen meistens von Aktivisten. Wenn die erst einmal einen Verwaltungsprozess durch schlimmstenfalls drei Instanzen durchziehen müssen, errichtet das eine beachtliche Hürde. Hinzu kommt, dass der vom Senat aufgezeigte Weg einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde nach Durchführung eines fachgerichtlichen Verfahrens dazu führt, dass der Beschwerdeführer selbst im Erfolgsfall auf den Kosten sitzenbleibt, weil die fachgerichtlichen Entscheidungen in dieser Konstellation nicht Beschwerdegegenstand sind und darum auch nicht aufgehoben werden. Wenn der Senat mit der Subsidiarität ernst macht, würde ich darum nicht nur mit einer Verlangsamung, sondern mit einer ganz erheblichen Ausdünnung des Verfahrensstoffs rechnen.

    Den Ertrag auf der anderen Seite sehe ich demgegenüber nicht. Ich gehe ja mit, dass es misslich ist, wenn das BVerfG ständig über Normen entscheiden soll, ohne Näheres über deren praktische Relevanz und Handhabung zu wissen. Eine konstruierte Unterlassungsklage erbringt diese Informationen aber in der Regel auch nur sehr begrenzt, weil sie gerade kein konkretes sicherheitsbehördliches Verfahren zum Gegenstand hat.

  5. Philipp Fri 8 Feb 2019 at 14:25 - Reply

    Super Lektürehilfe, danke sehr!

    Zur neuen, überspannten Subsidiaritätsprüfung: Neben dem in der Tat arg abschreckenden Kostenrisiko sehe ich auch die Gefahr der Verfristung, denn ganz “ohne im Falle der Unzulässigkeit eine Verfristung befürchten zu müssen” (Benjamin Rusteberg) scheint es ja nicht zu laufen, siehe Rn.II/48: “Dem kann nur in Fällen der Offensichtlichkeit entgegengehalten werden, dass der Beschwerdeführer hätte erkennen müssen, dass das fachgerichtliche Verfahren keine Aussicht auf Erfolg hatte.” Welche Klage, die “günstigstenfalls dazu führen kann, dass das angegriffene Gesetz gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt wird” (Rn. II/44) das Gericht für offensichtlich aussichtslos halten wird, dürfte niemand halbwegs sicher einschätzen können. Müsste man als Betroffener da nicht zweigleisig vorgehen, also sicherheitshalber die Jahresfrist einhalten?

  6. Benjamin Rusteberg Fri 8 Feb 2019 at 15:06 - Reply

    Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Einen Nutzen in der Sache sehe ich bei der Unterlassungsklage o.ä. grundsätzlich ebenfalls nicht. Insbesondere bieten ja auch die beiden Entscheidungen keine Anhaltspunkte dafür, dass das der ersten Entscheidung vorgeschaltete verwaltungsgerichtliche Verfahren irgendwelche weitergehenden Erkenntnisse gebracht hätte, die bei den beiden Rechtssatzverfassungsbeschwerden nicht gegeben gewesen wären.

    Insofern würde es in dem Fall, dass der Senat tatsächlich die Subsidiarität künftig stärker betonen sollte, auch aus meiner Sicht vor allem darum gehen, den Zugang zum BVerfG durch eine Erhöhung des Kostenrisikos zu erschweren. Sollte das nicht das Ziel sein, ließe sich natürlich auch überlegen, die Rechtsprechung dahingehend zu ändern, dass die Kosten aus derartigen Verfahren als Auslagen iSd § 34a BVerfGG anzuerkennen sind.

    Vollkommen ausschließen, dass die Beschwerdefrist dann als weitere Hürde aufgebaut würde, kann man vorab natürlich auch nicht. Bei einem zweigleisigen Vorgehen ginge man insofern wohl auf Nummer sicher. Dies würde ja aber auch wieder zusätzliche Kosten und Mühen bedeuten. Hier müsste man vielleicht noch mal genauer schauen, wie das BVerfG das in der Vergangenheit bei der zivilprozessualen Anhörungsrüge gehandhabt hat.

    Wobei das Gericht m.E. in der Praxis letztlich über so viele Möglichkeiten verfügt, eine Äußerung in der Sache zu vermeiden, dass man ohne ein Mindestmaß an Entgegenkommen wohl ohnehin nicht erfolgreich sein wird.

  7. Matthias Bäcker Fri 8 Feb 2019 at 15:14 - Reply

    Der sichere Weg bei der Anhörungsrüge ist, gleich VB einzulegen und darum zu bitten, dass die vorerst im Allgemeinen Register geführt wird (sog. Parken). Sobald über die Anhörungsrüge entschieden ist, reicht man die Entscheidung nach, ergänzt die Ausführungen und bittet um Übertragung ins Verfahrensregister. Würde hier dazu führen, dass Rechtssatzverfassungsbeschwerden über Jahre geparkt werden, um dann irgendwann hochzupoppen. Bei den üblichen Zyklen im Sicherheitsrecht wäre bis dahin typischerweise das Gesetz zwei-, dreimal geändert worden. Also ich weiß nicht, aber da sind wir uns ja einig.

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