Ganz Gallien? Fehlschlüsse aus dem wallonischen CETA-Veto
Wallonien lässt die westliche Welt zappeln – und wird dafür je nach politischem Standpunkt des Betrachters als einzig aufrechtes gallisches Dorf besungen oder als eigennützige Erpresserbande geschmäht. Stutzig macht jedoch die prompte Reaktion, man hätte CETA besser doch nicht als „gemischtes Abkommen“ einstufen sollen, sondern als Abkommen zwischen der EU und Kanada ohne direkte Beteiligung der Mitgliedstaaten.
Man muss diese Reaktion zwar vom Vorwurf der Rechtsverachtung freisprechen, da die Frage der Einstufung von Handelsabkommen derzeit im Hinblick auf ein anderes Abkommen vor dem Gerichtshof anhängig ist. Sie ist jedoch rechtlich höchst bedenklich. Dabei gäbe es auch die Möglichkeit, CETA als gemischtes Abkommen ohne Beteiligung Belgiens abzuschließen, wie Franz Mayer hier ausgeführt hat. Was mich beschäftigt, ist hingegen die durch diese Reaktion bezeugte Demokratieverachtung. Erstens macht sie politisch gesehen alles nur noch schlimmer. Zweitens ignoriert sie, worin das demokratische Problem im konkreten Fall eigentlich besteht.
Kein Übermaß, sondern Mangel an Teilhabe
Zum Ersten: Die Reaktion ist aus politischen Gründen zu bedauern, weil sie verkennt, dass der Abschluss internationaler Handelsabkommen in der Europäischen Union nicht an einem Übermaß, sondern einem Mangel demokratischer Teilhabe leidet.
Die Motive der wallonischen Entscheidungsträger dürften zwar durchaus nicht ganz uneigennützig sein. Praktischerweise kann die sozialistische Regierung von Wallonien durch ihren Widerstand gegen CETA der bürgerlichen belgischen Bundesregierung die Butter vom Brot nehmen. Doch solche Machtspielchen sind Teil der Demokratie. Auch bei rein innerstaatlichen Sachverhalten soll es schon vorgekommen sein, dass sich eine zweite Kammer, ein Koalitionspartner oder gar ein Landesverband der Regierungspartei quergestellt haben.
Das Entscheidende ist, dass der Inhalt des Abkommens sowie die Art und Weise der Verhandlungsführung es dem Parlament und der Regierung von Wallonien denkbar leicht machen, dem Gegenwind standzuhalten und ihn guten Gewissens gegenüber ihren Wählern zu vertreten, ja sogar noch Beifall aus allen Ecken einzuheimsen. Sie machen sich ein weit verbreitetes Misstrauen gegenüber weitgehend geheim ausgehandelten Handelsabkommen zunutze, die ganz erhebliche Auswirkungen auf das Leben der Bürger haben. Das Misstrauen ist zudem nicht völlig abwegig. Selbst wenn man unterstellt, dass Handelsabkommen im Aggregat allen Vertragsparteien zum Vorteil gereichen, profitieren nicht alle Bevölkerungssegmente gleichermaßen davon – wenngleich die negativen Auswirkungen von CETA vergleichsweise gering ausfallen dürften. Doch bei den ganzen Handelsabkommen, die derzeit zur Verhandlung anstehen, mögen solche Differenzen verwischen; das Unbehagen kulminiert in einem Gefühl der Machtlosigkeit, auf dem die wallonische Regierung schwimmt.
Die Strategie, gemischte Abkommen künftig zu vermeiden, wird dagegen das Misstrauen nicht zum Erliegen bringen. Es wäre allenfalls eine Frage der Zeit, bis es sich im nächsten Gremium Bahn bräche, gegebenenfalls im Europäischen Parlament. Besser wäre es, nach Alternativen zu suchen, die Verhandlungen transparent zu gestalten und beteiligte Mitgliedstaaten, Regionen und Verbände rechtzeitig und ernsthaft einzubinden.
Entry, Voice, Loyalty
Zum Zweiten: Die Reaktion blendet die spezifisch belgische Situation aus. Nicht ein mitgliedstaatliches Parlament, sondern ein Regionalparlament leistet hier Widerstand, welches trotz seiner Entscheidungsgewalt in keiner Weise in die Verhandlungen involviert war oder darauf ausreichend Einfluss ausüben konnte.
Als gemischtes Abkommen bedarf CETA einerseits der Zustimmung von Rat und Europäischem Parlament, andererseits der nach den mitgliedstaatlichen Verfassungen für die Ratifikation zuständigen Organe. Die Verhandlungen über CETA wurden gemäß Art. 207 AEUV von der Kommission aufgrund einer Ermächtigung des Rates geführt. Dies muss nicht so sein – schließlich könnten sich die ebenfalls vertragsschließenden Mitgliedstaaten auch selbst vertreten. Es ist aber nicht unüblich, insbesondere wenn das Abkommen wie im Fall von CETA im Schwerpunkt die Handelspolitik und damit eine ausschließliche Kompetenz der Union betrifft. Ohnehin gebietet die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit eine enge Abstimmung zwischen Union und Mitgliedstaaten im Rahmen der Verhandlung.
Eine Alleinverhandlung durch die Kommission lässt die mitgliedstaatlichen Parlamente zumindest der Theorie nach nicht notwendigerweise im Dunkeln. Je weniger geheimniskrämerisch sich die Kommission zeigt, desto eher können die mitgliedstaatlichen Parlamente über den Rat eingebunden werden können, und zwar durch die ihnen rechenschaftspflichtigen Regierungen der Mitgliedstaaten (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 5 EUZBBG). Dies führt nicht nur zu diskursiver Teilhabe seitens der mitgliedstaatlichen Parlamente; es hat auch ganz handfeste politökonomische Vorteile: stellt sich ein mitgliedsstaatliches Parlament hinterher quer, blamiert es zugleich sich selbst und die in der Regel von seiner Mehrheit gewählte mitgliedstaatliche Regierung – hätten sie doch rechtzeitig Einfluss genommen! Mitgefangen, mitgehangen. Wer an einem Verhandlungsprozess beteiligt ist, kann am Ende schwer ausscheren, insbesondere nicht aus eigennützigen Gründen. Der österreichische Bundeskanzler hat dies für CETA gerade eindrücklich bezeugt. In Anlehnung an Hirschman kann man damit von einem Gleichschritt von „Entry und Voice“ sprechen, der in den allermeisten Fällen auch zu „Loyalty“ führt, d.h. in die Ratifikation des Verhandlungsergebnisses mündet.
Im Fall der belgischen Regionalparlamente funktioniert allerdings weder die diskursive, noch die politökonomische Inpflichtnahme der entscheidungsberechtigten Parlamente. Es besteht eine Inkongruenz von „Entry“ und „Voice“. Das Regionalparlament und seine Regierung sind nicht im Rat vertreten. Die belgische Bundesregierung scheint nicht daran interessiert gewesen zu sein, den Zugang auf informellem Wege herzustellen.
Abhilfemaßnahmen sollten sich am Gleichklang von Entry und Voice orientieren. Mitspracherechte müssen mit Beteiligungschancen einhergehen. Dies erfordert zunächst eine stärkere Zusammenarbeit innerhalb des grotesk zersplitterten belgischen Staatswesens. Darüber hinaus lehrt CETA, dass Alleinverhandlungen der Kommission bei gemischten Abkommen problematisch sein können. Gemischte Delegationen sind ihnen vorzuziehen, denn sie erlauben den mitgliedstaatlichen Regierungen die Einbeziehung des innerstaatlichen Anderen, bzw. erschweren es ihnen, sich Letzterem gegenüber hinter der Kommission zu verstecken. Die gegenwärtige Hängepartie bei CETA resultiert damit allenfalls aus zu wenig, nicht aus zu viel demokratischer Partizipation.
Vielen Dank für diesen schönen Beitrag zur Demokratiefrage bei CETA. Ich finde diese hängt noch mit einer vielleicht etwas weniger beachteten Fragestellung zusammen: Für gewöhnlich haben wir bei CETA ja die Frontstellung zwischen der Kommission, die stets für das (freilich auch von ihr ausgehandelte) Abkommen ist und diversen anderen, die Bedenken haben, die dann in der Regel als europaskeptisch charakterisiert werden. Was dabei zu kurz kommt, ist m.E. die Frage, welchen Freihandel der AEUV überhaupt anvisiert. Denn die Kommission wird im Rahmen der GHP nicht einseitig auf Ricardos Prinzip komparativer Kostenvorteile verpflichtet (auch wenn sie das vielleicht manchmal denkt). Das Handeln der Union auf internationaler Ebene wird vielmehr gemäß Art. 205 AEUV „von den Grundsätzen bestimmt, von den Zielen geleitet und an den allgemeinen Bestimmungen ausgerichtet, die in Titel V Kapitel 1 des Vertrages über die Europäische Union niedergelegt sind.“ Das sind nach Art. 21 Abs. 1 EUV u.a. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschenrechte, die Grundsätze des Völkerrechts, nachhaltige Entwicklung und Umweltschutz. Diese Vorgaben sind, dies hat jüngst Markus Krajewski umfassend und überzeugend ausgearbeitet, rechtlich verbindlich (Krajewski, Normative Grundlagen der EU-Außenwirtschaftsbeziehungen: Verbindlich, umsetzbar, und angewandt?, EuR 2016, 235 (243f.)). „Die damit systemisch angelegte Politisierung der Gemeinsamen Handelspolitik wird durch das durch den Vertrag von Lissabon deutlich aufgewertete Kohärenzgebot in Art. 21 Abs. 3 Unterabs. 3 EUV n.F. nochmals intensiviert“ (Tietje, Die Außenwirtschaftsverfassung der EU nach dem Vertrag von Lissabon. Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, Heft 83, 2009, S.19f.).
Angesichts dieses klaren Befundes sollten wir vielleicht jenseits der Kompetenzfragen und jenseits von Wallonien, die Debatten um den freien Handel auch nach Europa selbst tragen. Denn heterodox informierte Meinungen zur ökonomischen Sinnhaftigkeit von Schiedsklauseln haben nach dem AEUV dort ebenso Platz wie liberalere Positionen.
Vielen Dank Herr Goldmann für diesen Beitrag. Eine Labsal, nachdem was man so alles in den Mainstream- Medien zu lesen kriegt. Eine Frage zum Verständnis: Der Ministerrat muss dem Vertrag zustimmen, egal ob es sich um eine EU-only oder gemischtes Abkommen handelt? So verstehe ich die Einschätzung von Patrik Holterhus vom 30.Jan. 2016 in diesem Forum: “….Im Anschluss beschließt der EU-Ministerrat über die Unterzeichnung des ausgehandelten Vertragstextes sowie (in der Praxis gemeinsam mit dem EU-Parlament) unter Umständen über dessen vorläufige Anwendbarkeit. Im Regelfall wird das Handelsabkommen nun dem EU-Parlament zur Zustimmung vorgelegt. Soweit es sich um einen gemischten Vertrag handelt, also auch die Mitgliedstaaten Vertragsparteien werden, führen diese nun gleichsam die nach ihrem jeweiligen Verfassungsrecht zur Ratifikation eines völkerrechtlichen Vertrages vorgesehenen Verfahrensschritte durch.” https://verfassungsblog.de/ceta-bundestag-juncker/
Wenn ich das richtig sehe, würde sich bei der Einstufung des CETA als EU-only Abkommen das aktuelle Verfahren, der Beschluss des Ministerrates über die vorläufige Anwendung, nicht ändern und die Situation könnte theoretisch die gleiche sein? Die Forderung”.. man hätte CETA besser doch nicht als „gemischtes Abkommen“ einstufen sollen..” die man z.Z. auch dauernd in der Presse liest, wäre demnach zum jetzigen Zeitpunkt irrelevant?
@ Johann Horst: Besten Dank für Ihren Kommentar und die Literaturhinweise. Stimme vollkommen zu.
@ Maria Dewes: Die vorläufige Anwendung betrifft nur diejenigen Vertragsbestandteile, für die die EU unstrittig die alleinige Zuständigkeit hat. Die EU kann nicht über die vorläufige Anwendung derjenigen Vertragsbestandteile entscheiden, die in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fallen. Entschließt man sich nun, das Abkommen doch als EU-only-Abkommen einzustufen, erstreckt sich die vorläufige Anwendbarkeit auch auf die Teile, die man bisher in der Kompetenz der Mitgliedstaaten wähnte.
Danke auch von mir. Endlich ein Beitrag, der auf einem erkennbaren Denkprozess beruht. Die “Leitmedien” hingegen haben erst eher kritisch über CETA berichtet, verdammen nun aber Wallonien für die Ablehnung. “Wenn hier einer Abkommen ablehnt, dann ich!”?
Dieser Satz gibt Rätsel auf: “Entschließt man sich nun, das Abkommen doch als EU-only-Abkommen einzustufen, erstreckt sich die vorläufige Anwendbarkeit auch auf die Teile, die man bisher in der Kompetenz der Mitgliedstaaten wähnte.”. Wer ist “man”?? Richtet sich die Einstufung als “EU-only” oder als “gemischt” nach dem Willen der Kommission (man?) oder nach dem Inhalt des Vertragesentwurfes im Vergleich mit den Rechten aus den Lissaboner Verträgen?
So eine grundsätzliche Frage kann doch nicht “man” beschließen.
@ Herrn Goldmann
Ergänzung zu eben: Das war natürlich ein erfrischend von Nachdenken und logischem Argumentieren geprägter Beitrag zu den Vorgängen in der EU.
Was mir fehlt sind die aus der gedanklichen Schärfe abzuleitenden Hinweise darauf, dass man mit diesen Verträgen versucht, Rechte mit quasi Verfassungsrang in Handelsverträge einzubauen, die bei einer Laufzeit von 20 und mehr Jahren mindestens eine Generation binden. Mithilfe der Schmähungen gegen den belgischen Regierungschsf versucht man zudem, das Recht in gutes Recht und schlechtes Recht zu unterteilen. Gutes Recht dient dem Markt, schlechtes Recht dient der Demokratie, die sich also dem Markt unterzuordnen hat. Ein großer Teil der Stimmungen und Gründe, die zum Brexit geführt haben, werden erneut massiv bestätigt. Will man in Brüssel schneller sein als die Menschen in Europa? Will man ihnen bei zu befürchtenden weiteren Austritten so viele Rechtsansprüche übergestülpt haben, dass ihnen auch der Austritt aus der EU nichts mehr hilft?
Sehr geehrter Herr Liebers, Sie haben Recht – ob EU-only oder gemischtes Abkommen ist eine Rechtsfrage, keine politische Entscheidung. Da die Rechtsfrage aber noch nicht vom Gerichtshof entschieden ist – siehe das verlinkte Verfahren, besteht derzeit faktisch eine Ungewissheit, welche der Kommission politische Handlungsspielräume eröffnet.
Nein, Matthias, es kann auch eine politische Frage sein, wenn die EU alleine könnte, aber aus politischen Gründen die geteilten Zuständigkeiten, die vielleicht nötig sind (Verkehr) mit dem MS gemeinsam ausüben will. Nur wenn ausschließliche MS-Kompetenzen berührt sind ist mixity zwingend.
Lieber Christoph, hab besten Dank für den Hinweis. Ich stimme in der Sache zu – ich hatte mich hier jedoch der Einfachheit halber auf den vorliegenden Fall bezogen, in dem sich die Kommission ja allein aufgrund der unklaren Rechtslage – und vorbehaltlich ihrer Auffassung, es hier mit ausschließlichen EU-Zuständigkeiten zu tun zu haben – zu einem mixed agreement durchrang. Hier nochmal die Presseerklärung: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-2371_en.htm
[…] country might be able to have a significant impact on the EU’s trade and investment policy as the veto of the Wallonian parliament to the CETA agreement has […]