23 October 2016

Wallonien, CETA und die Tyrannei der Minderheit

Wenn der Einsatz politischer Energie sich in Wärmeenergie umwandeln ließe, dann hätte CETA große Teile von EU-Europa in den letzten beiden Jahren ganz erheblich aufgeheizt. In Wallonien würden nach den Ereignissen der letzten Tage dann wohl demnächst Kakteen wachsen. All diese politische Energie, Tausende von Stunden von Verhandlungen mit Kanada und über Kanada, in Parteien, in Parlamenten, vor dem Bundesverfassungsgericht – alles umsonst?

So ist Demokratie, hört man von den Globalisierungs- und CETA-Gegnern. Die können ihr Glück kaum fassen, dass im allerletzten Moment, aus wohl doch eher CETA-fernen, innerbelgischen Motiven oder vielleicht auch nur wegen des Karrierekalküls eines Regionalpolitikers das verhasste CETA doch noch vor dem Aus zu stehen scheint. Übersehen wird wohl, dass kompromisslose Vetopositionen einer regionalen Gruppierung sich gegen alles Mögliche an Abkommen richten könnten, auch gegen Abkommen zum Umwelt-, Verbraucher- oder Menschenrechtsschutz.

Demokratie ist deswegen für die Vorgänge in Wallonien nicht das richtige Stichwort. Zu besichtigen ist eine Überföderalisierung mit der Folge einer Handlungsblockade nicht nur Belgiens, sondern der gesamten Europäischen Union. Eine Minderheit beherrscht die Mehrheit. Mit der Folge einer Blamage des gesamten europäischen Projekts nach innen und nach außen. Wen das nicht zumindest beunruhigt, der hat den Wert der europäischen Integration für das friedliche Zusammenleben in Europa nicht verstanden.

Wo liegt der Fehler? Einmal mehr – wie schon so oft in der CETA-Debatte – sind die Vereinfacher besonders schnell in ihrer oberflächlichen Analyse. CETA überhaupt als gemischtes Abkommen schließen zu wollen sei der Fehler gewesen, so hört man. Man hätte auf die Kommission hören sollen, die bis zum Juli 2016 ein EU-only-Abkommen wollte. Viel kürzer kann man intellektuell nicht springen. Es geht ja nicht nur um eine politische Frage, die man völlig beliebig so oder so entscheiden kann. CETA erfasst nun einmal Materien, für die die Union keine Zuständigkeit hat. Daher das gemischte Abkommen, bei dem auch die Mitgliedstaaten als Vertragsparteien auftreten und Kompetenzlücken schließen.

Darüber hinaus denke ich nach wie vor, dass für ein gemischtes Abkommen gerade auch gute politische Gründe sprechen. Die mitgliedstaatliche Beteiligung hat einen Eigenwert. Der Legitimationsvorrat alleine der europäischen Ebene trägt offenbar ein Abkommen wie CETA (noch) nicht – wenn eine kritische Diskussion erst einmal begonnen hat. Die Europäische Kommission hat das völlig unterschätzt. Dass unterdessen das mit CETA weitgehend vergleichbare Freihandelsabkommen mit Südkorea unbeanstandet in Kraft getreten ist und unbeanstandet läuft, ist eines der vielen irrationalen Elemente in der ganzen Geschichte.

Gleichwohl: Die wegen der mitgliedstaatlichen Beteiligung (gemischtes Abkommen) sehr intensive Debatte der letzten Monate hat das Abkommen mit Kanada an verschiedenen Stellen letztlich entscheidend verbessert. So gesehen war CETA auf einem guten Weg zu einem Beispiel für einen intensiven und gelungenen, wenn auch sehr aufwändigen demokratischen Mehrebenenprozess. Bis die Wallonen kamen. Wenn es nicht mehr um Verbesserung geht, sondern um Blockade, dann ist der besagte demokratische Prozess am Ende und der demokratische Mehrwert gemischter Abkommen verpufft. Aus Wallonien sind keinerlei Argumente gegen CETA zu vernehmen, die wallonienspezifisch wären oder noch nicht ausführlich diskutiert und durch Erklärungen und Klarstellungen gegenstandslos geworden sind.

Dann eben ohne Belgien

Es gibt aber noch einen Ausweg, falls Wallonien nicht einlenkt.

Warum nicht das Abkommen einfach ohne Belgien abschließen? CETA als gemischtes Abkommen zwischen der Kanada, der EU und 27 von 28 Mitgliedstaaten.

Nirgendwo steht geschrieben, dass gemischte Abkommen von allen Mitgliedstaaten geschlossen werden müssen. Ein Beispiel: Würde die EU mit einem Drittstaat ein Abkommen über meeresstrandnahe Dienstleistungen abschließen wollen, für das es im EU-Kompetenzbestand Lücken gäbe, so wäre doch denkbar und plausibel, dass nur die Mitgliedstaaten, die auch über Meeresstrand verfügen, beteiligt würden.

CETA ohne Belgien: Vertragstechnisch wäre das rasch umgesetzt. Es geht ja nicht um das Inkrafttreten sondern um bereits um die Mitwirkung am Abkommen. Man müsste das „Königreich Belgien“ aus dem Vorspruch nehmen und bei Art. 1.1 CETA (Vertragsparteien) vermerken, dass „Mitgliedstaaten“ im Abkommen die Mitgliedstaaten der EU meint, die sich am Abkommen beteiligen. Die Belgien betreffenden Passagen aus den Anhängen müsste man auskoppeln und für einen möglichen künftigen Beitritt Belgiens vorhalten. Und in Art. 30.10 CETA, der von möglichen künftigen EU-Mitgliedstaaten handelt, könnte man einen Satz anfügen, der einen künftigen Beitritt eines aktuellen Mitgliedstaats vorsieht.

Für Belgien würden dann die Teile des CETA-Abkommens in mitgliedstaatlicher Zuständigkeit nicht gelten. Die Teile in Unionszuständigkeit dagegen schon. Da der weit überwiegende und wohl auch wichtigere Teil von CETA in Unionszuständigkeit liegt, hielten sich die Folgen in Grenzen. Voraussetzung wäre freilich die Bereitschaft Kanadas für diese eigentümliche Konstruktion.

Letztlich würde nur gespiegelt, dass auf der europäischen Ebene für die weitaus wichtigeren, europäischen Teile des Freihandelsabkommens im Ministerrat mit Mehrheit entschieden werden kann und kein Veto für einen Mitgliedstaat besteht. Entsprechend könnte Belgien bei der Beschlussfassung über CETA im Ministerrat überstimmt werden.

Diese Lösung ist keine Zauberformel für die schwierige Suche nach Handlungsfähigkeit in der Gemeinsamen Handelspolitik. Sie kann nur ultima ratio sein. Es würde weiter über solche Abkommen gestritten und innerunional verhandelt, nach Einmütigkeit gesucht.

Aber, um die berühmte Formel von Joseph Weiler zu zitieren: es würde beraten und diskutiert „under the shadow of the vote“, nicht „under the shadow of the veto“. Im Sinne europäischer Demokratie.

Der Verfasser ist im Verfahren über CETA vor dem Bundesverfassungsgericht Bevollmächtigter der Bundesregierung. Er gibt hier seine persönliche Meinung wieder.


SUGGESTED CITATION  Mayer, Franz C.: Wallonien, CETA und die Tyrannei der Minderheit, VerfBlog, 2016/10/23, https://verfassungsblog.de/wallonien-ceta-und-die-tyrannei-der-minderheit/, DOI: 10.17176/20161024-111458.

45 Comments

  1. FDominicus Sun 23 Oct 2016 at 12:45 - Reply

    Man mag auch die Frage stellen, warum können Parlamente so etwas alleine bestimmen. Warum gibt es insgesamt keine EU-weiten Abstimmungen über EU-weite Themen?

  2. Maria Anna Dewes Sun 23 Oct 2016 at 12:52 - Reply

    Die Haltung Walloniens ist durchaus nicht kompromisslos. Paul Magnette hat wohl schon vor einem Jahr die EU-Kommission auf seine Bedenken hingewiesen. Das Ergebnis der Kommunikationsunfähigkeit, wenn nicht gar Ignoranz der Kommission ist jetzt zu besichtigen: Zusatzprotokolle (Rumänien und Bulgarien), im letzten Moment zu erfüllende Auflagen (BRD) sowie das Veto Walloniens kurz vor Unterzeichnung ist ein ziemlich unwürdiges Schauspiel. Das hat allein die Kommission zu verantworten, da alle Kritikpunkte zu CETA ausreichend öffentlich diskutiert, doch von der Kommission einfach ignoriert wurden. Einen völkerrechtlichen Vertrag der EU einfach ohne Belgien abzuschließen, mag rechtlich abgesichert sein, wird die mangelnde Fähigkeit der EU- Kommission, Handelsverträge für die Gesamtheit der Mitgliedsstaaten zu aus zu handeln (was doch ihre Aufgabe ist, oder nicht?) schwarz auf weiß festschreiben.

  3. zombienation Sun 23 Oct 2016 at 13:04 - Reply

    Feindhandelsabkommen

    so die MDR-Nachrichtensprecherin im Bericht über die überstürzte Abreise der wohl brüskierten kanadischen Unterhändlerin. Sie korriegierte ihren wohl freudschen Versprecher umgehend, aber als Meme bleibt es in Erinnerung und findet hoffentlich seinen Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch, entlarvt es doch den unsäglichen Euphemismus des geheim verhandelten ‘freien Handels’.

  4. Tyrann Sun 23 Oct 2016 at 14:39 - Reply

    ***Bitte beim Kommentieren zumindest so viel Mühe investieren, dass die Regeln der Grammatik eingehalten sind. Und bevor man dem Autor im Indikativ unterstellt, sich mit dem Beitrag um ein Gutachten zu bewerben, bitte beachten, dass er bereits ein solches geschrieben hat, wie im Text verlinkt. Bei Nichtbeachtung wird der Kommentar, wie dieser hier, gelöscht. Danke, d.Red.***

  5. Matthias Goldmann Sun 23 Oct 2016 at 14:58 - Reply

    Danke für den Kommentar – sehe das v.a. als innerbelgisches Problem. Selbst ohne wallonischen Politikern eigennützige Motive unterstellen zu wollen, muss eine Konstellation schief gehen, in der ein Regionalparlament über die Ratifikation eines Abkommens entscheidet, das die ihm verantwortliche Regierung gar nicht mit aushandelt. Es muss ein Gleichgewicht bestehen zwischen Entscheidungsmacht und Verhandlungspartizipation, zwischen Entry (oder Exit) und Voice.

  6. Tyrann Sun 23 Oct 2016 at 15:24 - Reply

    Es ist schon ein starkes Stück, mit welcher Affinität und fadenscheiniger Begründung hier zensiert wird.

    1. Danke für das Tone Argument. Mit dem Hinweis, der Nichteinhaltung der Grammatik. Sagt viel über die Kreativität und den Stil der Redaktion aus, mit welcher sie Zensur zu begründen versucht.

    2. Der regierungstreue Autor hat, so hat wohl der Redakteur nicht ganz begriffen, nicht direkt über die Möglichkeit ein Gutachten geliefert, ohne Belgien ein Abkommen abschließen zu können. Sondern zum Charakter des Abkommens, woraus sich das allenfalls ableiten ließe.

    Mit dem Beitrag kann ihm also durchaus unterstellt werden, für ein solches, weiteres Gutachten /Rat sich zu bewerben. Selbst wenn der Redakteur das für illegtim hält, ist es etwas anderes, so Zensur zu begründen.

    Es bleibt jedenfalls immer noch, auf unheimlich vielen Ebenen unfassbar und im Übrigen auch peinlich, wie der Autor von der “Tyrannei der Minderheit”, in dieser Konstellation sprechen kann.
    Als Prof und regierungstreuer Bevollmächtigte betrifft ihn eben nicht die tatsächlich von Ceta oder TTIP ausgehende drohende “Tyrannei der Minderheit”, dieser Konzernschutzabkommen.

  7. Tyrann Sun 23 Oct 2016 at 15:30 - Reply

    Der Hinweis der Grammatik hätte wahlweise übrigens auch mit “Der Pöbel bleibt draußen”. Oder: “Der nicht in 3. Generation akademisch und muttersprachlich deutsch aufgewachsene bleibt draußen” begründet werden können.

  8. andere Ansicht Sun 23 Oct 2016 at 16:18 - Reply

    Ich halte die Aussagen von Herrn Mayer nur für bedingt überzeugend. Ist es nicht das erklärte Anliegen der EU, das Denken in nationalstaatlichen Egoismen zu beenden? Dass also jeder Mitgliedstaat (und dessen Gliedstaaten) nicht nur das eigene Interesse im Auge hat, sondern zugleich das Gesamtinteresse aller Bürger der Union? Herr Mayers Vorwurf, dass Walonnien keine “wallonienspezifichen” Argumente vorträgt, ist dann wenig zielführend. Es läuft auf einen Zwang der Mitgliedstaaten hinaus, sich bei ihren Entscheidungen doch bitteschön nur um ihre nationalstaatlichen Egoismen zu kümmern; um das Wohl der EU als Ganzes kümmert sich schon die EU selbst. Die Idee der EU wäre damit ad absurdum geführt.

    Davon abgesehen, und mit deutlich weniger Schaum vorm Mund als der Herr “Tyrann”, ist Herr Mayer