Verfassungsrecht nur der Form halber
Das Zitiergebot und sein Update im „Martinstor-Beschluss“
Das Zitiergebot in Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG steht nicht allzu oft im Scheinwerferlicht. Unbefangen betrachtet wirkt es kompromisslos: Der Gesetzgeber muss Grundrechte benennen, wenn er sie einschränkt. Das BVerfG hat dieses Gebot in der Vergangenheit aber restriktiv – also gesetzgebungsfreundlich – ausgelegt.
Mich überzeugt die Rechtsprechung nicht. Der jüngste, auf eine Verfassungsbeschwerde ergangene Beschluss vom 1. Oktober schafft in dem Bestreben um Klarheit neue Unklarheiten, die sich zu diversen methodischen und dogmatischen Fragezeichen rund um das Zitiergebot gesellen. Vielleicht ist es an der Zeit, mit der vom BVerfG ungeliebten Formvorschrift abzurechnen. Weil eine demokratischere, grundrechtsstärkende Auslegung bzw. Erneuerung der Norm unerreichbar scheint, hieße dies (für den verfassungsändernden Gesetzgeber): Abschied nehmen.
Hintergrund und Problemstellung
Die eine Seite führt eine Versammlung zum „Schutz des ungeborenen Lebens“ durch, die andere Seite blockiert sitzend die geplante Route – konkret das Freiburger Martinstor. Einzelne dieser Personen halten Transparente hoch, etwa: „Gegen reaktionäre Knetköpfe“. Nach einiger Zeit löst die Polizei die Gegenveranstaltung auf. So weit, so alltäglich.
Was sich 2015 im Breisgau ereignete, hatte jedoch noch ein juristisches Nachspiel, an dessen Ende der spätere Beschwerdeführer 2020 gemäß § 21 VersG rechtskräftig verurteilt wurde (das VersG gilt in Baden-Württemberg nach Art. 125a Abs. 1 GG fort). Eine strafbewehrte „grobe Störung“ in der Absicht, die Versammlung der Abtreibungsgegner zu vereiteln, nahmen die Fachgerichte auch für die Zeit vor Auflösung der Sitzblockade an.
Das BVerfG hielt es vor diesem Hintergrund für geboten, die eigenen Maßstäbe für Blockadeaktionen zu schärfen. Die zur Bestimmung der Reichweite des versammlungsrechtlichen Schutzbereichs bislang vorgenommene schematische Differenzierung zwischen den Zielen solcher Aktionen – „Teilhabe an der Meinungsbildung“ oder „selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen“ (hier) – überzeuge nicht, wenn zwischen diesen Zielen eine Wechselwirkung besteht (hier, Rn. 76). Nunmehr verlangt das Gericht für Art. 8 GG ein „über die bloße Negation der gestörten Meinungskundgabe“ hinausgehendes, insofern „eigenständiges Element der Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung […], ohne dass es auf dessen Gewichtung gegenüber dem Störungselement ankäme“ (Rn. 80). Eine solche Gewichtung nach dem Schwerpunkt sei nämlich „praktisch kaum möglich“ (Rn. 82).
Das ist hilfreich. Kernproblem des Falles aber war ein anderes – das Zitiergebot: Zwar erwähnt § 20 VersG Art. 8 GG als eingeschränktes Grundrecht. Dies bezieht sich jedoch einzig auf den 3. Abschnitt des VersG (und § 21 steht bereits im nächsten). Damit stellte sich die Frage, ob § 21 VersG als Rechtsgrundlage überhaupt formell verfassungskonform ist. Dies hat das BVerfG bejaht (ebenso wie die materielle Verfassungskonformität der Norm). Letztlich hatte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg.
Zweck des Zitiergebots
Das Zitiergebot wendet sich nachvollziehbarerweise – als Formvorschrift und da andernfalls ein Widerspruch zu Art. 123 GG entstünde – allein an den nachkonstitutionellen Gesetzgeber, wie das BVerfG schon früh entschieden hat (vgl. hier). Diesem gegenüber entfalte das Zitiergebot eine „Warn- und Besinnungsfunktion“ (hier). Vereinzelt hieß es, das Zitiergebot finde seinen „eigentlichen Sinn“ darin, öffentliche Debatten zu initiieren (etwa hier). Abseits davon weist die Literatur oftmals auf eine allgemeine Klarstellungs-, Hinweis- bzw. Informationsfunktion hin, die sich an die Rechtsanwender und Normadressaten richtet. Das BVerfG hält sich zu diesem Aspekt jedoch bedeckt (hier, Rn. 187).
Bislang: eine Schneise methodischer Verwüstung
Im Jahr 1949 war durchaus mit Spannung zu erwarten, wie sich das Zitiergebot entwickeln würde. Sollte „eine dieser kleinen Klauseln“, wie v. Mangoldt (CDU) im Parlamentarischen Rat (Ausschuss für Grundsatzfragen, 32. Sitzung vom 11. Januar 1949) geringschätzig meinte, den Gesetzgeber weitgehend hemmen? Könnte es eventuell zu einer umfassenden „Parlamentarisierung“ von Grundrechtseingriffen kommen? Schon früh verneinte das BVerfG diese Fragen und legte das Zitiergebot restriktiv aus (wohlwollend begleitet durch den von v. Mangoldt mitherausgegebenen – vom Gericht vielzitierten – Kommentar zum Grundgesetz). Über die Jahrzehnte hinterließ das BVerfG dabei allerdings eine Schneise methodischer Verwüstung.
Als zentrales Argument des BVerfG fungiert stets der Verweis auf den formalen Charakter der Vorschrift. Daraus zieht es nämlich den Schluss, dass eine enge Auslegung geboten sei, wenn es „nicht zu einer leeren Förmlichkeit erstarren“ und den „Gesetzgeber in seiner Arbeit unnötig behindern soll“ (bspw. hier). Das ist pragmatisch, lässt freilich unberücksichtigt, dass „Behinderungen“ des Gesetzgebers gerade zum Anliegen des Zitiergebots gehören. Indem das BVerfG dies nicht weiter begründet, bleibt die These von der engen Auslegung im Grunde eine petitio principii.
Das bereits angerissene historische Argument – insbesondere, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Rats um die möglichen Auswirkungen und Erschwernisse für den Gesetzgeber wussten und trotzdem im Ausschuss mit 11:7 Stimmen für die Aufnahme des Zitiergebots stimmten – spricht für eine extensivere, wortlautgetreue Auslegung; das BVerfG ignoriert dies jedoch, soweit ersichtlich, in Gänze.
Im Übrigen scheint die Rechtsprechung in einer manchmal merkwürdig anachronistisch wirkenden Kasuistik verfangen, aus der sie sich nicht befreien kann – oder eher: nicht befreien will.
Dies fängt beim Wortlaut an. Das BVerfG reduziert das Zitiergebot auf qualitativ „neue Grundrechtsbeschränkungen“ (hier), also Gesetzesreformen, die in der Sache veritable neue bzw. andersartige Grundrechtsbeschränkungen mit sich bringen. Wiederholungen eines Eingriffs seien nicht umfasst – so etwa bei § 21 VersG, der im Jahr 1978 unverändert neu erlassen wurde. Gleiches gelte sogar bei „geringen Abweichungen“ (hier). Im Sasbach-Beschluss hielt das BVerfG das Zitiergebot nicht einmal für einschlägig, wenn der Gesetzgeber bestehende Regeln auf völlig neue Sachverhalte erstreckt. Im Text von Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG lässt sich all dies nicht festmachen. Dort findet lediglich „das Grundrecht“ Erwähnung, welches vom einschränkenden „Gesetz“ zu nennen ist.
Grundrechtseinschränkungen, auf die das Zitiergebot explizit Bezug nimmt, grenzt das BVerfG von Eingriffen in vorbehaltlos gewährte Grundrechte ab. Diese unterlägen nicht der Zitierpflicht (hier), was in Art. 19 Abs. 1 GG eine gewisse Stütze findet („Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann“). Das Gericht bleibt hier jedoch nicht stehen. Obwohl die „Grundrechtseinschränkung“ als solche keine theoretisch fundierte Kategorie bildet, nutzt es selbige zur weiteren Ausdifferenzierung. So finde das Zitiergebot auf Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums (vgl. hier), Regelungen im Sinne der Berufsfreiheit (hier) und außerdem allgemeine Gesetze im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG (vgl. hier) keine Anwendung. Grundrechtsdogmatisch verwundert diese Ansicht. Denn danach kommt es schlicht auf die Eingriffswirkung an – und eine „Regelung“ der Berufsfreiheit ist ebenso ein Eingriff wie § 21 VersG, wenn selbiger sich – wie hier in Freiburg – gegen Gegendemonstranten richtet. Letztlich hat sich die zunehmend komplexere Eingriffsdogmatik vom Zitiergebot entkoppelt. Systematisch konsequent wäre wohl, allein Enteignungen und verfassungsändernde Gesetze von der Zitierpflicht auszunehmen, weil mit Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG und Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG insoweit leges speciales existieren.
Für eine weite Lesart des Zitiergebots spricht, teleologisch betrachtet, auch die Warn- und Besinnungsfunktion. Denn in der parlamentarischen Realität sind die Abgeordneten vielfach nicht in die konkreten Beratungen involviert. Umso wichtiger ist dann der Hinweis auf Grundrechtseingriffe. Das BVerfG meint (u. a. hier) in diesem Zusammenhang, dass sich der Gesetzgeber, wenn er die Berufsfreiheit „regelt“ oder den Inhalt und die Schranken des Eigentums bestimmt, ohnehin der Grundrechtsrelevanz bewusst sei. Das aber ist eine lebensfremde Unterstellung, der zufolge alle Abgeordneten verfassungsrechtlich gut vorgebildet wären. Darin steckt überdies ein gewichtiges Argument zur Anwendung des Zitiergebots auf vorbehaltlos gewährte Grundrechte. Auch insoweit unterstellt das BVerfG nämlich, der Gesetzgeber wüsste – geradezu selbstverständlich – um die Grundrechtsrelevanz seiner Gesetze. Bei Versammlungen hieße dies etwa, dass die Abgeordneten um den Schrankenvorbehalt in Art. 8 Abs. 2 GG wissen, die dort genannten „Versammlungen unter freiem Himmel“ dem Sinn und Zweck entsprechend als öffentlich zugänglich auslegen und bei Versammlungen, die nicht unter den Vorbehalt fallen, keinen Warnhinweis benötigen – anders als bei solchen, die unter freiem Himmel stattfinden. Nun ja. Wirklich plausibel ist das nicht. Einzig mit Blick auf Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit im Sinne der Elfes-Rechtsprechung, die eine umfassende Bindung der Legislative bewirkt hat, verkäme das Zitiergebot in der Tat zu einem bloßen Textbaustein ohne echten Warneffekt (dazu hier).
Update: zwischen Offenkundigkeit und Vorhersehbarkeit
In mancherlei Hinsicht bringt der Beschluss Klarstellungen, die bei isolierter Betrachtung zu begrüßen sind. Er wirft allerdings auch weitere Fragen auf. Für die Zukunft verbleibt dem Zitiergebot nur ein schmaler Korridor.
Bislang war umstritten – soweit Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG überhaupt noch zur Anwendung kommt –, welche zusätzlichen qualitativen Anforderungen an den Grundrechtseingriff zu stellen sind. Mitunter hat das BVerfG formuliert, ein Gesetz müsse darauf „abzielen“, das Grundrecht einzuschränken (z. B. hier). In der Kalkar-Entscheidung hieß es, der Gesetzgeber müsse den Eingriff „in Kauf“ genommen haben.
Mit seinem Martinstor-Beschluss hat das BVerfG zunächst betont, dass Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG der Legislative nur das „realistisch Erkennbare und Leistbare“ (Rn. 119) abverlangt. Dies habe zwei Ausprägungen: Zum einen gelte das Zitiergebot für Eingriffe, die der Gesetzgeber „konkret erkannt und vorhergesehen hat“ (Rn. 121), zum anderen für „hinreichend vorhersehbare“ Eingriffe (Rn. 120). Dazu gehören solche, die sich dem Gesetzgeber „jedenfalls hätten aufdrängen müssen“ (Rn. 123). Reduzierte Anforderungen bestünden, wenn eine Grundrechtsfrage noch nicht geklärt sei (Rn. 124). Die Vorhersehbarkeit stelle unterdessen lediglich ein notwendiges Kriterium dar; strengere Erfordernisse lässt das BVerfG mit Blick auf die Vielgestaltigkeit von Grundrechtseingriffen dahinstehen (Rn. 126), bereitet mithin zukünftigen (weiteren) Restriktionen den Weg. Angewendet auf den Fall sah das Gericht unter diesen Vorzeichen keinen Verstoß (Rn. 145 ff.). Zwar seien die etablierten Ausnahmen vom Zitiergebot nicht einschlägig. Der Eingriff in Art. 8 GG sei jedoch ex ante – da der Gesetzgeber bei Erlass von § 21 VersG nur Störungen durch nicht von der Versammlungsfreiheit geschützte Personen im Fokus gehabt habe – nicht vorhersehbar gewesen. Nicht einmal die seinerzeitige Bundestagsdebatte, in der eine „zu starke Einengung der politischen Freiheiten“ zur Sprache kam, genügte dafür (Rn. 148), ebenso wenig die historische Diskussion um das Phänomen kollektiv störender „Singstunden“, die sich spezifisch gegen andere Versammlungen richteten (hier, S. 12865). Dass sich damals, im Jahr 1953, noch keine Rechtsprechung zur Versammlungsfreiheit herausgebildet hatte, spreche zudem gegen die Vorhersehbarkeit (Rn. 155). Damit scheint sich das BVerfG zugleich, ohne dies zu erwähnen, von früherer Judikatur verabschiedet zu haben: Früher hat es nämlich trotz bestehender Unklarheiten – obschon sich das Urteil seinerzeit auf die Gesetzgebungspraxis bezog, nicht wie hier auf die Judikative – einen Verstoß angenommen, um eine pragmatische (wenig dogmatische) Lösung in der Rechtsfolge zu suchen (hier).
Dass man dies in der Sache anders bewerten kann, weil die Beschränkung offenbar bereits damals für möglich gehalten wurde und gerade eine noch offene Rechtsprechungsentwicklung zur Vorsicht mahnt, ist das eine. Das andere ist, dass die hohe Schwelle für die Annahme von „Vorhersehbarkeit“ nicht mehr allzu weit von „offenkundigen“ Eingriffen entfernt sein dürfte – in diesen Fällen aber wird die Nennung der eingeschränkten Grundrechte gemäß einer weiteren vom BVerfG etablierten Ausnahme entbehrlich (hier, zuletzt hier). Davon rückt es auch nicht etwa implizit ab (hier, Rn. 117, 145). Der Eingriff muss demnach jedenfalls vorhersehbar, darf aber nicht schon offenkundig sein. Besonders schmal wird der Grat, wenn man „vorhersehbar“ in dem vom BVerfG angesprochenen (und oben erwähnten) Sinne versteht, dass sich dem Gesetzgeber die Grundrechtseinschränkung aufdrängen muss. Letztlich bleibt dann unklar, wo die Vorhersehbarkeit eines Eingriffs, damit die Anwendbarkeit des Zitiergebots beginnt – und wo ein Eingriff offenkundig ist, wo also das Zitiergebot endet. Und Unklarheit spricht ja wiederum, überspitzt formuliert, gegen Vorhersehbarkeit…
Abschied nehmen?
Das Zitiergebot hatte von Anfang an einen schweren Stand. Der jüngste Beschluss reiht sich in diese Tradition ein. Ein extensiveres Verständnis könnte zwar dem „eigentlichen Sinn“ näherkommen, sprich: öffentliche Debatten um Grundrechtseingriffe anstoßen (vgl. hier). In diesem Sinne wäre ein demokratischeres Zitiergebot denkbar, das zu besserer Gesetzgebung führen kann. Naturgemäß sieht das BVerfG dies anders. Es geht davon aus, dass die restriktive Handhabung keine „Nachteile für den Grundrechtsschutz“ mit sich bringe (hier) – was allerdings eine bloße Behauptung bleibt.
Die derzeitige Interpretation des Zitiergebots ist jedenfalls methodisch und grundrechtsdogmatisch fragwürdig. Sie bringt zudem eine unübliche, ja irritierende Missachtung gegenüber verfassungsrechtlichen Formvorschriften zum Ausdruck. Insofern ist es nicht ohne Ironie, dass das BVerfG aus Sorge davor, ein zu weit verstandenes Zitiergebot führe zu Grundrechtszitaten „auf Vorrat“ (hier), weitgehend auf Zitierpflichten verzichtet, so als ließe man das neue Auto aus Angst vor Unfällen lieber gleich in der Garage. Weil nun freilich ein Kurswechsel, gar eine grundrechtsstärkende Neuausrichtung des Zitiergebots alles andere als wahrscheinlich anmutet, wäre es vielleicht am besten – zumindest konsequent –, der verfassungsändernde Gesetzgeber nähme Abschied von ihm.



