Charlie und die Meinungsfabrik: Zum medialen Umgang mit den Anschlägen von Paris
Wenig lässt sich so verlässlich vorhersagen wie der Verlauf des politischen Diskurses. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis die Toten von Paris (erneut) instrumentalisiert würden. Die Rede sei hier nicht von abendländischen Demonstranten in Dresden und anderswo, auch nicht von manch einem Sicherheitspolitiker, der seit Jahren bei jeder Gelegenheit dieselben Behauptungen wiederholt. Angesprochen seien stattdessen einige Zeitgenossen, die offenbar durch die weltweite Solidarisierung das (Vor-)Urteil „Lügenpresse“ revidiert und sich wieder im Aufwind sehen. Sie bedienen sich einer altbewährten Textgattung: der Kolumne. Diese erlaubt es ihnen, in mehr oder weniger gehobener Form dasselbe zu tun wie ihre tumben Kritiker auf Dresdner Straßen: eine von Fakten weitgehend unbeeinflusste Meinung in die Welt zu setzen.
So nutzt Julian Reichelt auf BILD Online zwei Tage nach den Morden die Gelegenheit für einen Rundumschlag in der post-9/11-Tradition. Er habe, so die euphemistische Umschreibung, in amerikanischen Sicherheitskreisen „recherchiert“. Und das Ergebnis seiner Recherche (oder vielmehr: die ungefilterte Meinung seiner Stichwortgeber) will Herr Reichelt dem Leser nicht vorenthalten: Edward Snowden ist schuld an den Attentaten! Gewiss nicht direkt, aber nach Snowdens Enthüllungen habe man „förmlich dabei zusehen“ können, wie bewährte Überwachungsmethoden der NSA konterkariert worden seien, welche ansonsten die Verhinderung der Anschläge „deutlich wahrscheinlicher“ gemacht hätten. Dass die Täter der französischen Polizei bestens bekannt waren, und sie ihren Plan wohl kaum auf Facebook ausgearbeitet haben dürften, wird mit keinem Wort erwähnt.
Doch mit bloßer Überwachung ist es natürlich nicht getan! Schließlich befinde sich der Westen im Krieg gegen den islamistischen Terrorismus: „Und im Krieg geht es darum, den Feind so gezielt wie möglich zu töten.“ An die Anschläge von Paris, so Reichelt, sei deshalb zu denken, „wenn wir das nächste Mal über Snowdens Enthüllungen oder ‚gezielte Tötungen‘ debattieren“. Anlass und Kontext der Äußerung lassen vermuten, dass Julian Reichelt den Einsatz von Kampfdrohnen über europäischen Städten befürwortet.
Sein Kollege Jan Fleischhauer von Spiegel Online besitzt immerhin das Taktgefühl, seine Wortmeldung erst nach einer Trauerfrist zu platzieren (vielleicht gestattet ihm auch nur sein Brotgeber ein etwas gemächlicheres Arbeitstempo): Zum Schutze der Freiheit vor den Terroristen gelte es „spätestens jetzt“, für die „Ausweitung der Telefonüberwachung“ einzutreten. Man sollte Jan Fleischhauer nicht entgegnen, dass es Mörder für gewöhnlich weniger auf unsere Freiheit, sondern in erster Linie auf unser Leben abgesehen haben – er würde glatt den kollektiven Suizid empfehlen, um die Pläne von Al Kaida und Co. (todsicher) zu durchkreuzen.
Zumindest nimmt Fleischhauer das Argument zur Kenntnis, dass die in Frankreich bestehende Vorratsdatenspeicherung die Anschläge nicht verhindert habe – freilich nur, um es sogleich als „nahe am Dummenfang“ abzutun. Die Vorratsdatenspeicherung sei ja, so die bemerkenswerte Erkenntnis, „gerade kein Mittel zur Prävention“, es gehe dabei „vor allem darum, nach einem Terrorakt die Fahndung zu erleichtern.“ Inwiefern die Aussicht auf schnellere Fahndungserfolge die künftigen Opfer eines Anschlags zu trösten vermag? Weshalb die im offiziellen Diskurs als Instrument zur (präventiven) Bekämpfung des Terrorismus propagierte Vorratsdatenspeicherung plötzlich zum bloßen Mittel der Strafverfolgung uminterpretiert werden soll? Wie man sich überhaupt ihre Wiedereinführung vorzustellen hat, wo sie doch durch das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof (in seltener Eintracht) schwer bis unmöglich gemacht wurde? Fleischhauer bleibt die Antworten schuldig.
Aus beiden Kommentaren spricht vor allem eines: Angst. Während sie bei Reichelt uneingestanden (wenngleich nicht unbemerkt) bleibt, zählt sich Fleischhauer ganz offen zu den „weniger Mutigen“ in einer „postheroischen Gesellschaft“. Angst liefert aber nicht nur schlechte politische Handlungsanleitungen. Sie ist auch Existenzbedingung und Ziel von Terroristen und (manchen) Kolumnisten gleichermaßen. Vor allem jedoch, das zeigen die Ereignisse nach den Attentaten, lässt sie sich überwinden. Selbstmord aus Angst vor dem Tode kann also nicht die Lehre aus Paris 2015 sein.
PS: Die Kommentare von Reinhard Müller auf FAZ Online konnten ob ihrer Zahl und der begrenzten Zeit des Verfassers (unverdientermaßen) keine nähere Würdigung finden.
Tu quoque. Die journalistische Güte unliebsamer Medienvertreter damit zu diskreditieren, dass man ihnen andere Szenarien unterschiebt (Drohnen über Berlin, Paris und Madrid), zeugt von mitunter gewöhnungsbedürftiger intellektueller Anstrengung (wer x behauptet, quält auch Kinder). Dabei wird man schnell konzedieren dürfen, dass der Satz “Edward Snowden ist schuld an den Attentaten!” zu differenzierten Widerspruch herausfordert – sofern er denn als solcher oder dem Inhalt nach und nicht nur Maßgabe der Autorenrezeption formuliert wurde, was aufgrund der begrenzten Zeit des Verfassers des Kommentars ausdrücklich nicht geprüft wurde.
Was die Vorratsdatenspeicherung angeht, wird ein Journalist wohl nüchtern auf den zutreffenden Umstand hinweisen dürfen, dass nach der Tat in vielen Fällen leider auch vor der Tat ist. Netzwerke, Strukturen und Hintergründe bleiben bestehen, auch wenn Selbstmordattentäter in ihrer blutigen Erfüllung Dritte und sich selbst in den Tod reißen. Dass Fleischhauer nicht einen nach Maßgaben des BVerfG und EuGH konformen Gesetzesentwurf vorlegt, mag man ihm nachsehen.
Nebenbei bemerkt: Der Autor spielt – in einem journalistisch/wissenschaftlichen Blog – in einer nebulösen Weise mit dem Begriff der “Lügenpresse” (Zeitgenossen sehen das Urteil über sich revidiert und im Aufwind – namentlich werden zwei Journalisten genannt), dass einem um das Meinungsklima Angst wird (haben sie für das Gesagte das Etikett “Lügenpresse” verdient?).
Ich hoffe und denke, dass ich mich von besagtem Unwort und seinen Anhängern hinreichend deutlich durch die Begriffe “(Vor-)Urteil” und “tumb” distanziert habe, und dass meine Polemik andernfalls hier nicht erschienen wäre. Beides unterschlagen Sie freilich in Ihrem Kommentar.
Demnach gebietet es wohl das von Ihnen angerufene “Meinungsklima” (auch kein schöner Begriff), dass man Ihnen unterstellt, Sie unterstellten mir, den genannten Journalisten zu unterstellen, dass die wiederum unterstellen…
Ich habe nur wahrgenommen, dass Sie diesen in Ihrem Intro bemühen (warum eigentlich?), um nachfolgend eine Pressepolemik zu formulieren – diese Textstruktur halte ich für streitbar, wobei ich betone, dass ich nichts unterschlagen wollte, aber in der Annahme schrieb, Ihr Text sei über dem Kommentar ja für jedermann einsehbar. Ihre innere Haltung zu dem Begriff der “Lügenpresse” ist mir unbekannt, hierüber will und kann ich keine Mutmaßung anstellen (anders als Sie gegenüber Herrn Reichelt).
“Was die Vorratsdatenspeicherung angeht, wird ein Journalist wohl nüchtern auf den zutreffenden Umstand hinweisen dürfen, dass nach der Tat in vielen Fällen leider auch vor der Tat ist.”
Wenn ich das richtig lese, also nach der Tat auch vor der Tat ist/sein kann, dann passt das ja noch mehr: Wenn die Generalüberwachung aller wenigstens nach Taten was brächte, sprich nach Tat 1, dann würden ggf. ja Taten 2, 3, … verhindert. Dass der Anschlag auf Charlie Hebdo nicht verhindert wurde, heißt also:
– Entweder war das Tat 1: Dann fragt sich schon, ob die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist. Für eine Tat in 9 Jahren (Generalüberwachung der TK-Verbindungsdaten in Frankreich seit 23.1.2006 lt. Wikipedia, Quelle dort jurizine.net) mit 12 Toten + 20+ Verletzten direkt, 1 Totem + 1 Schwerverletzten bei dem Polizistenmord, 4 Toten + 3 Verletzten bei der Geiselnahme in dem Suprtmarkt, also knapp 20 Toten + ca. 25+ Verletzten (nicht alle schwer) – letzter Anschlag mit mehr Toten 1961, also eher seit noch länger – fragt sich schon, ob das nun passt, dafür wohl milliardenfach Kommunikationsdatensätze ganz ohne jeglichen Verdacht zu erheben.
– oder es war Tat 2+X, aber hatte keine relevante Beziehung zu Tat 1: Dann konnte die Massenüberwachung, ob sie nun Tat 1 aufklärte oder nicht, für Tat 2+X nichts bringen, wenn sie ja im Vorfeld leider unnütz ist und nur im Nachhinein (angeblich) hilft.
– oder es war Tat 2+X und hatte mit Tat 1 zu tun: Dann bringt eine evtl. Aufklärung von Tat 1 also selbst mit Massenüberwachung nichts für Tat 2+X.
Ob die Massenüberwachung von Kommunikationsverhalten jedoch überhaupt was bringt, selbst im Nachhinein, ist jedoch fraglich, siehe z.B. http://www.internet-law.de/2014/04/acht-mythen-zur-vorratsdatenspeicherung.html und die dort angegebenen Quellen.
Und wenn diese Massenüberwachung also ggf. wirklich nur Schlangenöl ist, dann ist es schon sehr verdreht und vielleicht etwas pietätlos, sie reflexhaft nach dem Mord an den Menschen zu fordern, die am 7.1. (und darum herum) ermordet wurden. Da fällt mir noch das Stichwort “security theater” ein.
@Hannah: um über das Problem sinnvoll nachzudenken müssen Sie sich fragen, was möglicherweise dadurch verhindert werden könnte, dass man nach einem überraschenden Anschlag die Telekommunikationsbeziehungen der Täter aufdeckt. Das könnten 20 oder 100 Tote sein oder es kann sein, dass rein nichts verhindert wird. Wir wissen es nicht, es zeugt aber von wenig Phantasie, die Effektivität pauschal in Zweifel zu ziehen. Wenn Sie die Entscheidung zur Vorratdatenspeicherung des Bundesverfassungsgericht lesen würden, würden sie erkennen, dass das Gericht die Würdigung als “geeignet” durch den Gesetzgeber – wie auch der EuGH – natürlich als verfassungsrechtlich unbedenklich ansieht (Rn. 207). Aber in einem gebe ich Ihnen recht: wer nach den Anschlägen Schlangenöl fordert, ist pietätlos.