Es ist wieder da: Der EuGH bestätigt das Grundrecht auf Sicherheit
Vor zwei Jahren, in seinem epochalen Urteil zur Vorratsdatenspeicherung, erwähnte der EuGH erstmals ein eigenständiges Grundrecht auf Sicherheit, welches sich aus Art. 6 GRCh ergeben soll. Eine höchst fragwürdige Innovation: schließlich soll das Grundrecht im Wesentlichen vor willkürlichen Verhaftungen schützen, mit anderen Worten will es die Sicherheit vor dem Staat, nicht durch den Staat. Dass diese beiläufige Erwähnung dieses „Grundrechts auf Sicherheit“ kein Ausrutscher war, bestätigt jetzt eine neue Entscheidung der Großen Kammer. Darin bekräftigt der EuGH, und zwar unter explizitem Verweis auf die entsprechende Passage in Digital Rights Ireland, dass nach Art. 6 GRCh jeder Mensch nicht nur das Recht auf Freiheit, sondern auch auf Sicherheit hat (Rn. 53). Europa ist damit nun also tatsächlich um ein Grundrecht reicher geworden – allerdings um ein mehr als zweifelhaftes.
In dem dem Gerichtshof vorgelegten Fall ging es um die Rechtmäßigkeit der Inhaftierung eines Asylsuchenden in den Niederlanden. Dieser hatte mehrere erfolglose Asylanträge gestellt und verbüßte aufgrund verschiedener begangener Straftaten mehrere Freiheitsstrafen. Während seiner Inhaftierung stellte er einen weiteren Asylantrag und wurde infolgedessen nach Ende seiner Haft als Asylsuchender erneut in Gewahrsam genommen. Rechtsgrundlage hierfür waren nationale Bestimmungen, die die Richtlinie 2013/33/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, umsetzen. . 8 Abs. 3 lit. e) der Richtlinie erlaubt ausnahmsweise Inhaftierungen von Asylsuchenden, wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist. Genau diese Möglichkeit der Inhaftierung soll nach den Ausführungen des Gerichtshofs nun auch dem Schutz des Grundrechts auf Sicherheit dienen. Wieder zieht es der EuGH im Rahmen der Bestimmung legitimer Zwecke zur Rechtfertigung des durch die Richtlinie bewirkten Eingriffs in das – sich ebenfalls aus Art. 6 GRCh! – ergebende Freiheitsgrundrecht heran. Im Ergebnis hielt er die Richtlinie für rechtmäßig, weil Art. 8 Abs. 3 lit. E) den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips genügte.
Diese Möglichkeit, Asylsuchende zum Schutz der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung zu inhaftieren, lädt Luxemburg nun also durch das Recht auf Sicherheit grundrechtlich auf. Man möge sich nur einmal vorstellen, was geschehen wäre, hätte ein Individuum die Inhaftierung des betroffenen Asylsuchenden unter Geltendmachung seines Grundrechts auf Sicherheit einzuklagen versucht. Hätte der EuGH dann gegebenenfalls eine grundrechtskonforme Auslegung des Art. 8 Abs. 3 lit. e) der Richtlinie vorgenommen und die Inhaftierung für sicherheitsgrundrechtlich geboten gehalten, wo die Vorschrift doch eigentlich nur Gründe nennt, die eine Inhaftierung Asylsuchender ausnahmsweise erlaubt, also gerade eine Ausnahme von dem grundsätzlichen Verhaftungsverbot gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie statuiert? Zwar werden nach Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie die konkreten Haftgründe durch das nationale Recht geregelt. Dennoch könnte der EuGH rein theoretisch auf Grundlage des Sicherheitsgrundrechts dann auch die Pflicht zur Schaffung eines entsprechenden Haftgrundes formulieren. Zwar erschiene diese dann föderale Dimension des Sicherheitsgrundrechts wiederum gerade mit Blick auf die kompetenzrechtliche Sicherungsklausel des Art. 4 Abs. 2 S. 2 und 3 EUV fraglich, nach der die zumindest die grundlegende Sicherheitsgewährleistung in der Kompetenz der Mitgliedstaaten verbleibt.
Dennoch deutet dieses Gedankenspiel das Potential des neuen Sicherheitsgrundrechts an. Freilich ist die Anerkennung eines solchen individuellen Schutzanspruchs aus dem Umstand, dass der EuGH die in Frage stehende Vorschrift hier im Lichte des Sicherheitsgrundrechts für gerechtfertigt hält, auch generell nicht ohne weiteres zu schlussfolgern. Es macht einen Unterschied, ob eine Maßnahme nur der Grundrechtsverwirklichung dient oder auf diese auch ein grundrechtlicher Anspruch besteht. Ob der EuGH entsprechende Ansprüche in Zukunft bejahen wird, ist deshalb weiter offen, weil er sich auch hier wieder wie schon in Digital Rights Ireland bedeckt hält und dem Sicherheitsrecht keine schärferen dogmatischen Konturen verleiht. Als echtes Grundrecht jedenfalls muss es irgendwelche subjektiv-rechtlichen Ansprüche vermitteln.
Schon jetzt aber streitet das Sicherheitsgrundrecht zumindest für freiheitsbeschränkende Sicherheitsmaßnahmen wie der hier in Frage stehenden Inhaftierung straffällig gewordener Asylsuchender trotz verbüßter Haftstrafe. Der Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung ist damit nicht mehr nur eine von der Union anerkannte, dem Allgemeinwohl dienende Zielsetzung im Sinne der allgemeinen Schrankenbestimmung des Art. 52 Abs. 1 GRCh. Sie ist auch nicht mehr nur Inhalt einer freiheitsgrundrechtlichen Schutzpflicht, vermittelt etwa durch die Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Nein, die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung wird jetzt Inhalt eines eigenständigen Grundrechts und damit zwangsläufig auch Inhalt grundrechtlicher Schutzansprüche.
Dies ist hoch problematisch, weil es dem Schutzgut Sicherheit grundrechtliche Eigenständigkeit verleiht und es neben das der Freiheit stellt. Das Gewährleistungsziel Sicherheit wird nicht mehr in den bereichsspezifischen Freiheitsgrundrechten in Form der grundrechtlichen Schutzpflicht, sondern in einem eigenständigen Grundrecht verortet. Dieses Recht gibt damit das Verständnis der Sicherheit als freiheitsdienendes Schutzgut auf und erhebt die Sicherheit zum Selbstzweck.
Was infolge dieser Grundrechtsgewähr zu sichern ist, bleibt dabei völlig offen. Bezugspunkte des Gewährleistungsziels kann aber so gut wie alles sein, was das Potential dieses Grundrechts verdeutlicht: Es ist ein Einfallstor für alle möglichen Schutzgüter in den hehren Stand der Grundrechtsgüter. Grundrechtsdogmatisch einfangen kann man dies zwar, indem man das Grundrecht als Querschnittsgrundrecht dergestalt konzipiert, dass in seinen Schutzbereich nur die Sicherheit der durch die bereichsspezifischen Grundrechte geschützten Grundrechtsgüter fällt. Zwingend ist diese Konzeption indes nicht. Immerhin legt der EuGH die Begriffe der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung hier im Lichte des Freiheitsgrundrechts eng aus. So setze etwa die Störung der öffentlichen Ordnung voraus, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstelle, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliege, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Damit nimmt er dem Sicherheitsgrundrecht jedenfalls für diesen Fall seine Schärfe.
Nach der Argumentation des EuGH wird Art. 8 Abs. 3 lit. e) der Richtlinie durch das Sicherheitsgrundrecht als Teil des europäischen Sicherheitsrechts aber zumindest grundrechtlich fundiert und abgesichert. Gleiches muss dann aber konsequent auch für das gesamte europäische Sicherheitsrecht gelten. Für sämtliche, gegebenenfalls freiheitsbeschränkenden sekundärrechtlichen Bestimmungen ähnlicher Art streitet nun das eigenständige Grundrecht auf Sicherheit, und auch auf der Ebene des Primärrechts werden sicherheitsrechtliche Bestimmungen nun grundrechtlich unterfüttert und erhalten in der Abwägung mit anderen unionsverfassungsrechtlichen Gehalten ein entsprechend höheres Gewicht, werden mit anderen Worten “grundrechtsfester”. Auf den Punkt gebracht entzieht der EuGH den (Freiheits-)Grundrechten durch die Gegenüberstellung des Sicherheitsgrundrechts ein Stück weit ihre Funktion als korrektive Rahmenordnung für das tendenziell freiheitsbeschränkende Sicherheitsrecht und erleichtert die Rechtfertigung freiheitsbeschränkender Sicherheitsmaßnahmen: Die das Sicherheitsrecht eigentlich begrenzenden Freiheitsgrundrechte treffen nunmehr auf einen ihnen ebenbürtigen Opponenten. Das Gewährleistungsziel Sicherheit wird nicht mehr nur freiheitsgrundrechtlich eingehegt, es ist nunmehr auch sicherheitsgrundrechtlich geboten.
Weil das Sicherheitsgrundrecht konkrete Sicherheitsmaßnahmen unter Umständen zum Inhalt grundrechtlicher Schutzansprüche macht, entzieht es die Aushandlung des sekundärrechtlichen Sicherheitsrechts ein Stück weit dem Gesetzgeber. Weil aber gerade im Bereich des Sicherheitsrechts grundlegende Fragen zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit berührt sind, bedarf es insoweit demokratischer Aushandlungsprozesse in besonderem Maße. Das Grundrecht auf Sicherheit wird dem gerade nicht gerecht. Mit seiner Anerkennung steht also neben den grundrechtlich verbürgten Freiheiten auch ein grundlegendes Verfassungsprinzip der Union auf dem Spiel.
Danke für den Beitrag. Die Diskussion reicht ja bis in die 1980er Jahre zurück (siehe hier, was ich 1998 dazu bereits mal geschrieben habe), aber dass der EuGH sich das jetzt zueigen macht, ist beängstigend.
Bislang hat das angebliche Recht auf Sicherheit keine eigenständige Funktion, weil es nur dazu dient, ein legitimes Ziel für die Beschränkung anderer Grundrechte zu postulieren. Und da ohnehin die öffentliche Sicherheit zweifelsohne ein legitimes Ziel darstellt, bräuchte es ein Individualrecht auf Sicherheit eigentlich nicht.
Die Frage ist dann aber, warum der EuGH, der ansonsten gerne eine sparsame Begründungskultur pflegt, ohne Not auf so eine Idee kommt. Zumal sie offensichtlich der Rechtsprechung des EGMR zur Parallelvorschrift in der EMRK widerspricht (was ist mit Art. 52 Abs. 3 GRCh?).
Hinzu kommt, dass an beiden Entscheidungen der deutsche Richter Thomas von Danwitz als Berichterstatter mitgewirkt hat – dem zumindest die deutsche Diskussion um das Thema nicht unbekannt sein kann. Wurde er überstimmt? Oder hat er gar dem EuGH das Sicherheitsgrundrecht untergejubelt, weil ihm die wohl hM in Deutschland nicht passt?
Genau diese überflüssige Erwähnung des Grundrechts auf Sicherheit gibt Anlass zur Vermutung, dass der EuGH mit dem Grundrecht vielleicht doch mehr will.
Mit Blick auf Art. 52 Abs. 3 GRCh ist das in der Tat ein Problem, wie ich auch schon in meinem ersten Beitrag zum Thema feststellte (https://verfassungsblog.de/eugh-und-vorratsdatenspeicherung-emergenz-eines-grundrechts-auf-sicherheit/). Das provoziert die Frage, wieso der EuGH entsprechende Sicherheitsbedürfnisse nicht zunächst einmal über die einzelgrundrechtliche Schutzpflicht zu befriedigen versucht.
Mit Blick auf Art. 52 Abs. 3 GRCh ist zu erwähnen, dass der EGMR dem Begriff der Sicherheit in Art. 5 EMRK zwar neben dem der Freiheit bisher keine eigenständige Bedeutung beigemessen hat, er ein Grundrecht auf Sicherheit aber zumindest auch nie explizit verneint hat. Hinzu kommt, dass hinter den in Art. 5 Abs. 2 EMRK genannten legitimen Zwecken zur Beschränkung des Freiheitsgrundrechts natürlich auch der Zweck der Sicherheitsgewährleistung steht. Würde das unionsrechtliche Sicherheitsgrundrecht im Rahmen dieser zulässigen Zwecke konzipiert, bestünde ein Verstoß gegen Art. 52 Abs. 3 GRCh zumindest mit Blick auf Art. 5 EMRK nicht, weil das Schutzniveau der EMRK dann gewahrt wäre. Freilich bestünden aber ggf. Probleme mit Blick auf andere Grundrechte mit möglicherweise anderen Schrankenregimen. Will sagen, eine Konstruktion des Sicherheitsgrundrechts von den Schranken der mit ihm kollidierenden EMRK-Rechte dürfte sich als schwierig gestalten.