Streit um NSA-Selektorenlisten: Die G 10-Kommission als Nichtbeteiligte?
Die G 10-Kommission, das in Art. 10 Abs. 2 GG vorgesehene Organ zur Kontrolle der nachrichtendienstlichen Telekommunikationsüberwachung, hat laut Karlsruhe kein eigenständiges Recht, seine Kontrollaufgabe gegenüber der Regierung durchzusetzen. In seinem Beschluss vom 20. September 2016 hat der Zweite Senat des BVerfG ein von der G 10-Kommission gegen die Bundesregierung angestrengtes Organstreitverfahren für unzulässig erklärt. Die G 10-Kommission hatte dieses beantragt, um Einblick in die Selektorenlisten der NSA zu erhalten. Mit Hilfe dieser Listen hatte der BND für den US-Geheimdienst Informationen über unzulässige Ziele erhoben. Die Bundesregierung weigert sich jedoch, die Liste an die Kommission oder die Mitglieder des NSA-Untersuchungsausschusses herauszugeben. Bislang durfte nur der von der Bundesregierung beauftragte Sondergutachter zumindest jene Selektoren auswerten, die durch den BND von vornherein abgelehnt oder später deaktiviert wurden. Aktuelle Brisanz erhält die Thematik nicht zuletzt durch die anstehende Neuregelung der Befugnisse des BND.
All dies spielte in der Entscheidung des Zweiten Senats aber letztendlich keine Rolle, da dieser die G 10-Kommission bereits nicht als zulässige Antragstellerin eines Organstreitverfahrens ansah. Diese Entscheidung kann zwar mit Blick auf Rechtsprechungspraxis und Stand der Literatur zum Organstreitverfahren nicht überraschen. Sie vermag allerdings kaum zu überzeugen, unterlässt es doch das Gericht nicht nur, einen angemessenen Maßstab für die „anderen Beteiligten“ des Art. 93 I Nr. 1 HS 2 GG zu entwickeln, sondern setzt sich zudem noch in Gegensatz zur Rechtsprechung des Ersten Senats hinsichtlich der Notwendigkeit effektiver institutioneller Kontrolle verdeckter Informationserhebungen.
Andere Beteiligte als begründungsbedürftige Ausnahme?
In seiner Entscheidung geht das Gericht erkennbar davon aus, dass im Organstreitverfahren regelmäßig nur „oberste Bundesorgane“ beteiligtenfähig sind. Nun wäre es selbst bei einer weiten Auslegung des Begriffs des Organs eher fernliegend, die G 10-Kommission als oberstes Bundesorgan anzusehen. Es erstaunt deshalb, welch vergleichsweise großen Begründungsaufwand das Gericht betreibt, um diese Eigenschaft zu verneinen (vgl. die Rn 31, 42-46).
Näher liegt die Frage, ob die G 10-Kommission möglicherweise ein „mit eigenen Rechten ausgestatteter Teil“ des Organs Bundestag nach § 63 Hs. 2 BVerfGG ist. Das BVerfG verneint dies, weil die G 10-Kommission zwar durch den Bundestag bestellt werde, aber nicht in seiner Organisationsgewalt verankert sei (Rn. 50). Auch übe die G 10-Kommission – anders als das Parlamentarische Kontrollgremium, das nunmehr explizit in Art. 45d GG normiert ist – gerade keine parlamentarische Kontrolle aus. (Rn. 51 ff.). Die G 10-Kommission werde „im Funktionsbereich der Exekutive“ tätig (Rn. 54). Angesichts des Umstands, dass die Mitglieder der G 10-Kommission nicht zwingend Abgeordnete des Bundestags sein müssen, ist dem Gericht insoweit zuzustimmen.
Gleiches gilt jedoch nicht für die anschließenden Erwägungen des Senats zur Frage, ob die G 10-Kommission Beteiligte gem. Art. 93 I Nr. 1 HS 2 GG sein könnte, weil sie „durch das Grundgesetz mit eigenen Rechten ausgestattet“ ist; hier konkret in Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG. Anders als bei Bundestagsabgeordneten und politischen Parteien stünde einer „Ausweitung des verfahrensrechtlichen Parteibegriffs“ entgegen, „dass die G 10-Kommission keine mit Verfassungsorganen vergleichbare organschaftliche Stellung hat und sie nicht integraler Bestandteil des Verfassungsaufbaus und des verfassungsrechtlich geordneten politischen Lebens, also nicht verfassungsrechtlich notwendige Institution ist“ (Rn. 56).
Der gewählte Maßstab führt zwangsläufig zur Ablehnung der Frage (Rn. 57-60), ist er doch von vornherein außerordentlich eng gefasst und erkennbar als gesondert begründungsbedürftige Ausnahme konzipiert. Der Wortlaut des Art. 93 I Nr. 1 GG legt eine derartige Betrachtung jedoch keineswegs nahe, stehen dort doch „oberste Bundesorgane“ und „andere Beteiligte“ gleichberechtigt nebeneinander. Argumentativ unterfüttert wird die Maßstabsbildung durch das Gericht denn auch nicht. Es verbleibt beim bloßen Verweis auf die eigene Rechtsprechungspraxis (vgl. schon Rn. 32 f.).
Die historische Kontingenz der Verfassungsprozessrechtsprechung
Dieser bleibt jedoch unergiebig. Nicht nur lieferte das BVerfG in den zitierten Entscheidungen wiederum kaum Argumente für den Ausschluss der Betroffenen aus dem Kreise potentieller Antragsteller. Auch die Konstellationen dieser früheren Entscheidungen waren ganz anders gelagert. Denn die Antragsteller waren nach der vom Gericht verwendeten Konzeption als dem Staat „gegenüberstehend“ anzusehen. Konkret ging es um einen Heimatbund, eine Gemeinde und „einzelne Bürger“. Dieser außenstehende Bereich war es aber wohl auch, den der Verfassungsgeber primär im Sinn hatte, als er eine Begrenzung des Kreises der Beteiligten im Organstreitverfahren beabsichtigte. Im Vergleich dazu ist die G 10-Kommission jedoch dem „inneren Bereich“ des Staates zuzuordnen, so dass ihrer Beteiligtenfähigkeit insoweit nichts entgegen steht.
Zugutezuhalten ist dem Gericht, dass auch die Literatur sich bislang nur selten grundsätzlich mit den „anderen Beteiligten“ iSd Art. 93 I Nr. 1 GG auseinandergesetzt hat. Hier wirkt sich ein im Staatsorganisationsrecht leider ganz typischer Effekt aus: Die wissenschaftliche Diskussion bewegt sich allzu häufig getreulich auf jenen Pfaden, die das BVerfG zuvor vorgezeichnet hat. So geraten aufgrund des kontingenten Umstandes, dass in jener Praxis bislang nahezu ausschließlich Fälle von Parteien und Abgeordneten relevant geworden sind, andere Möglichkeiten von vorneherein und allzu schnell aus dem Blick.
Widersprüche zwischen Erstem und Zweitem Senat im Sicherheitsrecht
Dies bedeutet noch nicht, dass der G 10-Kommission im konkreten Fall automatisch ein Antragsrecht zuzusprechen gewesen wäre. Tatsächlich behauptet das Gericht an anderer Stelle (Rn. 44 f.), dass Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG keine kompetenzschützende Wirkung zukomme, da die Einrichtung und Ausgestaltung „der Organe und Hilfsorgane“ durch Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG gerade nicht verbindlich angeordnet werde, sondern vom Willen des Parlaments abhängig sei. Nach der Entstehungsgeschichte des Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG, die das Gericht ebenfalls bemüht, ging jedoch zumindest die Gesetzesbegründung davon aus, dass für den Fall, in dem eine Beschränkung des Rechtswegs vorgesehen wird, es der Gesetzgeber nicht „bei der allgemeinen parlamentarischen Verantwortlichkeit der zur Anordnung einer Beschränkung befugten Stelle bewenden“ lassen dürfe. Zudem macht ohnehin erst der enge Organbegriff des Gerichts die Einrichtungsbedürftigkeit durch den Gesetzgeber zu einem zwingenden Hindernis für eine Beteiligtenfähigkeit.
Zwar mag das Unbehagen des BVerfG nachvollziehbar sein, die G 10-Kommission auf eine Stufe mit jenen Akteuren zu stellen, die das Organstreitverfahren in der Bundesrepublik bislang geprägt haben. Immerhin ebenso gut hätte sich aus der bisherigen Gerichtspraxis jedoch der Schluss ableiten lassen, dass auch bei Zulassung des Organstreitverfahrens für die Zukunft kaum mit einer Flut von Antragstellern zu rechnen sein dürfte. Für die dem Staat „gegenüberstehende“ Akteure wäre ohnehin keine Präjudizwirkung abzuleiten gewesen, und auch die Antragsbefugnis der von einer Erweiterung profitierenden Akteure wäre stark eingeschränkt geblieben. Selbst die G 10-Kommission hätte ja im konkreten Verfahren lediglich die ihr in Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG eingeräumten besonderen Kontrollbefugnisse gerichtlich verteidigen dürfen.
Ein solches Ansinnen erscheint staatsorganisationsrechtlich dabei keineswegs abwegig: Ähnliches wäre etwa auch für einen Fall denkbar, in dem die in Art. 95 I GG genannten obersten Gerichtshöfe des Bundes sich gegen unzulässige Eingriffe in ihre Arbeit zur Wehr setzen müssten – ein angesichts aktueller europäischer Entwicklungen nicht vollkommen fernliegendes Szenario. Nicht zuletzt aufgrund entsprechender Überlegungen hatte das Bundesverfassungsgericht seinerzeit selbst eine Stellung als oberstes Verfassungsorgan für sich in Anspruch genommen.
In der Sache geht das Ansinnen der G 10-Kommission über nichts hinaus, was nicht längst aus der Geschichte der Untersuchungsausschüsse bekannt wäre. Insofern überzeugt es auch nicht, wenn der Zweite Senat ausführt, die Schutzdimension der Grundrechte könne nicht durch die G 10-Kommission im Organstreitverfahren geltend gemacht werden, sondern sei dem Verfassungsbeschwerdeverfahren vorbehalten.
In der Rechtsprechung des Ersten Senats ist immer wieder deutlich geworden – zuletzt in der Entscheidung zum BKAG –, dass im Bereich der verdeckten Informationserhebung gerichtliche Kontrolle allein gerade nicht ausreicht. Insofern erscheint es jedenfalls fragwürdig, wenn der Zweite Senat nunmehr argumentiert, die Grundrechtsträger seien „trotz der Unbemerkbarkeit solcher Beschränkungsmaßnahmen […] nicht schutzlos gestellt“, diese auf individuelle Rechtsschutzmöglichkeiten verweist und der vom Grundgesetz – zwar nicht alleine, aber eben doch auch – für eine derartige institutionelle Kontrolle vorgesehenen G 10-Kommission die Möglichkeit nimmt, ihrer Kontrollaufgabe gegenüber dem zu kontrollierenden Organ wirksam nachzukommen. Der Erste Senat hat die von ihm in den letzten Jahren geprüften Regelungen ja nicht zuletzt unter der Voraussetzung als verhältnismäßig angesehen, dass eine wirkungsvolle institutioneller Kontrolle existiert. Denn so wichtig die Möglichkeit der individuellen Anrufung der Gerichte, einschließlich des BVerfG, auch ist, kann sie eine kontinuierliche institutionelle Kontrolle der laufenden Tätigkeit der Nachrichtendienste doch nicht ersetzen.
Während der Zweite Senat in anderen Fällen bereit ist, die Voraussetzungen des Rechtsschutzes soweit wie irgend möglich anzupassen, um eine gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, gilt dies im Bereich des Sicherheitsrechts und der Exekutivkontrolle offenkundig nicht. Dabei passt ins Bild, dass der Senat bereits in seiner Entscheidung zum Bundessicherheitsrat den parlamentarischen Kontrollbefugnissen einen erheblichen Schlag versetzt hatte. Es wäre wünschenswert, dass die beiden Senate des Gerichts hier künftig stärker an einem Strang ziehen und die institutionelle Kontrolle exekutiven Handelns wieder stärken, statt sie zu schwächen.