Was Deutschland von der Schweiz lernen kann
Die deutschen Asylverfahren dauern zu lange. Die langen Verfahren führen jedoch keinesfalls etwa dazu, dass besonders sorgfältig geprüft wird und am Ende qualitativ hochwertige Asylentscheidungen ergehen. Ein Blick auf die Schweiz – frei ideologischer Scheuklappen – zeigt, wie es besser geht und dass Effizienz und Humanität bei einer optimalen Gestaltung des Asylaufnahmesystems keine Gegensätze darstellen.
Lange Verfahrensdauern und Aufhebungen durch Gerichte
„Die Asylverfahren sind mit einer derzeit durchschnittlichen Dauer von knapp sechs Monaten zu lang.“ Das beklagte die Bundesregierung 2016. Es verzögere die Integration der anerkannten Flüchtlinge erschwere die Rückkehr der angelehnten Asylbewerber, halte die Menschen lange in Unsicherheit und verbrauche Ressourcen, die für Integration benötigt würden.
Die Verfahren wurden aber nicht schneller. Im Gegenteil: Im Jahr 2020 dauerten sie im Schnitt 8,3 Monate. Auch die Qualität der Entscheidungen ist nach wie vor ein Problem, die Gerichte heben viele Entscheidungen auf. Im Jahr 2019 wurden 45.910 BAMF-Entscheidungen aufgehoben, nach Eurostat-Kriterien waren das 35 Prozent. Irritierend groß sind zudem die Entscheidungs-Unterschiede zwischen den BAMF-Zweigstellen für gleiche Herkunftsgruppen. Für Afghanen schwankten sie im ersten Halbjahr 2020 zwischen 27,6 % Anerkennung in Manching und 86,0 % in Ellwangen (vgl. hier, S. 12). Zur Qualität der Asylanhörungen erklärte der erfahrene Anwalt Reinhard Marx dem Bundestags-Innenausschuss 2019: „In über 50 Prozent der Bescheide, die ich in meinen 40 Jahren geprüft habe, sind Einwände, die in dem Bescheid stehen, in der Anhörung nicht vorgehalten worden.“ Oft entschuldigten sich Entscheider bei ihm, so sagte er weiter, weil sie nicht ausreichend vorbereitet seien.
Wegen der mangelnden Qualität der Asylentscheidungen müssen die Fakten in den Gerichtverfahren oft neu erhoben werden, was den Stau bei den Gerichten verstärkt. Die Gerichtsverfahren dauerten 2020 im Schnitt 22,1 Monate, zusammen mit der Asylverfahrensdauer sind das also etwa 30 Monate bis zu einer endgültigen Entscheidung. Asylbewerber haben dann häufig Wurzeln geschlagen und bleiben, auch wenn die Ablehnung durch alle Instanzen hindurch bestätigt worden ist. Stephanie Killinger, Präsidenten des VG Göttingen, resümierte in derselben Anhörung im Innenausschuss: „Wir haben hier unklare Signale einer „Asyllotterie“, das ist aus rechtstaatlicher Hinsicht nicht hinzunehmen. Und wir spielen auch absichtsvoll mit den Hoffnungen und Erwartungen und im Extremfall auch mit dem Leben von Menschen, die sich auf die „Asyllotterie“ einlassen – das ist aus humanitärer Sicht unerträglich.“
Die Qualitätsprobleme bei den Asylentscheidungen und die irritierende Unterschiedlichkeit zwischen den BAMF-Zweigstellen spiegeln die Ambivalenz der Situation der Asylentscheider. Sie sind einerseits dem Asylrecht und dem Grundgesetz verpflichtet, stehen aber andererseits unter dem Erwartungsdruck aus dem Innenministerium, nicht zu viele positive Entscheidungen zu fällen. Gleichzeitig läuft der politische Druck am Ende aber leer und es werden nur die Kosten erhöht, da – wie gesehen – rechtswidrige oder ungenügende Entscheide von den Gerichten aufgehoben werden.
Das strukturierte Verfahren in der Schweiz
Wie kann das Asylverfahren so verbessert werden, dass die Entscheidungen zügig fallen, qualitativ hochwertig sind und gerichtlicher Kontrolle standhalten? Dazu liegen belastbare Erfahrungen aus Nachbarländern vor. Die Schweiz griff 2014 das niederländische Konzept eines strukturierten schnellen und hochwertigen Verfahrens auf und erprobte es fünf Jahre in einem Asylzentrum. Nach intensiver öffentlicher Diskussion stimmte das Schweizer Volk 2016 mit 66,8 Prozent für das Reformkonzept. Seit März 2019 wird es in sechs Bundesasylzentren in der ganzen Schweiz praktiziert. Die Flüchtlinge werden für die Dauer des strukturierten Verfahrens in dem jeweiligen Bundeszentrum untergebracht.
Kern des Konzepts ist eine konzentrierte Bemühung um die Aufklärung und Bewertung des Asylgesuchs in einer planmäßigen Abfolge von Verfahrensschritten in einer „Taktenphase“ von acht bis zehn Tagen. Sie folgt auf eine «Vorbereitungsphase» von 21 Tagen mit Gesundheitschecks, Sicherheitsüberprüfungen und Datenabgleichen. Von Anfang an steht dem Asylbewerber ein Rechtsbeistand zur Seite, er berät und vertritt ihn durch das ganze Verfahren hindurch. Er bereitet den Asylbewerber auf die Asyl-Anhörung am zweiten Tag der „Taktenphase“ vor und ist dabei anwesend. Der behördliche Asylentscheider arbeitet anschließend den Entwurf der Asylentscheidung aus und übermittelt ihn dem Asylbewerber und seinem Rechtsbeistand. Dieser nimmt innerhalb eines Tages dazu Stellung. Anschließend entscheidet die Behörde, ob sie den Fall für entscheidungsreif oder ob sie weitere Abklärungen für nötig hält. In letzterem Fall wird ein „erweitertes Verfahren“ eingeleitet, der Asylbewerber verlässt das Bundeszentrum und wird vom zuständigen Kanton untergebracht. In vier Fünfteln der Fälle wird das beschleunigte Verfahren fortgesetzt, es folgt der „Entwurfs des Asylentscheids“. Ist dieser ablehnend, so nimmt der Rechtsbeistand erneut Stellung. Anschließend erfolgt die Schlussredaktion und die „Eröffnung des Asylentscheids“.
Das Verfahren ist klar strukturiert und wird zügig durchgeführt. Die drei Rückkopplungen, in denen der Rechtsvertreter Stellung nimmt und die Behörde darauf reagieren muss, führen zu einer intensiven Prüfung mit einem verschriftlichten Austausch von Argumenten
Wird der Asylantrag angenommen, so ist das Asylverfahren innerhalb eines Monats abgeschlossen und die Integration kann beginnen. Wird der Antrag abgelehnt, so kann innerhalb von sieben Tagen Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht eingelegt werden. Das Gericht entscheidet innerhalb von zwei Wochen. 2019 hob es (nur) neun Prozent der vorgelegten Asyl-Ablehnungen auf.
Im Unterschied zu den Niederlanden, wo individuelle Rechtsanwälte die Asylbewerber vertreten, ist die Beratung in der Schweiz korporativ geregelt. Sie wurde ausgeschrieben und korporative Träger konnten Angebote machen. Pro Fall erhielten die beteiligten Wohlfahrtsverbände 2019 zwischen 1717 und 2218 Franken, je nach ihrem Angebot. Die Verträge gelten fünf Jahre und können verlängert werden.
Die Schweiz investiert also in die Beratung, mit dem Ziel einer guten Vertretung der Asylbewerber im Asylverfahren.
Die Rechtsberater haben über ihre Träger Zugang zu Informationen zu den Herkunftsländern, zu rechtlicher Beratung und zu psychologischen Hilfen. Sie können über ihre zivilgesellschaftlichen Institutionen zugleich Vernetzungen organisieren, etwa für Asylbewerber, die später weitere Unterstützung und Orientierung benötigen. Die Zivilgesellschaft kann auf diese Weise produktiv eingebunden werden.
Ein Ziel des Schweizer Staatssekretariats für Migration ist es, «offensichtlich unbegründete Asylgesuche rasch erledigen zu können. All das führte zu weniger unbegründeten Gesuchen». Die andere Seite sind hohe Anerkennungsquoten. 2020 erkannte die Schweiz 61,8 Prozent der Asylanträge an. Staatssekretär Gattiker hatte 2015 erläutert «Eine hohe Schutzquote ist ein positives Zeichen: Das Asylsystem steht nun im Dienste derjenigen, für die es gedacht ist.» Wohl aufgrund der kurzen Verfahrensdauer stellten die Schweizer Behörden inzwischen fest, dass Asylbewerber mit schlechten Chancen eher nach Deutschland gehen.
Nach einem Jahr Erfahrung mit dem strukturierten Verfahren in der ganzen Schweiz zog das Staatssekretariat eine positive Bilanz. Die Asylverfahren dauerten im Schnitt fünfzig Tage. Auch die Wohlfahrtsverbände stehen hinter dem Verfahren, wünschen aber mehr Flexibilität für vulnerable Antragsteller und zehn statt sieben Tage für die Klagevorbereitung.
Optimierungswiderstand in Deutschland
Nachdem die Bertelsmann-Stiftung 2016 Berichte über die Verfahren in den Niederlanden, der Schweiz und Schweden in Auftrag gegeben hatte, führte das BAMF 2017 an drei Standorten ein „Pilotprojekt“ mit begleitender Asylverfahrensberatung durch, das dem Schweizer Modell glich. Rotes Kreuz, Diakonie und Caritas stellten die Berater. Eine interne BAMF-Evaluation fiel sehr positiv aus. Insbesondere wurden „effektiverer Sachvortag“, „bessere Aufklärung des Sachverhalts“, höhere „Effizienz des Behördenverfahrens“ und bessere „Verfahrensaufklärung“ hervorgehoben. Der Bericht wurde schubladisiert, aber später vom Niedersächsischen Flüchtlingsrat veröffentlicht. Im Koalitionsvertrag 2018 wurde daraufhin eine „unabhängige und flächendeckende Asylverfahrensberatung” vereinbart. Ein Jahr später wurde mit dem „Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ eine Beratung entweder durch das BAMF selbst oder durch Wohlfahrtsverbände gesetzlich normiert. Dieser Kompromiss in der Großen Koalition hat jedoch eine Schlagseite, da der Bund nur die Beratung durch das BAMF finanziert.
Die deutsche Beratung umfasst keine Beteiligung bei der Asylanhörung und -entscheidung, obwohl dies in der Anhörung vor dem Innenausschuss 2019 übereinstimmend von Fachleuten angeregt worden war. Von daher ist nicht abzusehen, dass sie die Qualität der Asylentscheidungen entscheidend verbessern wird. In einigen Bundesländern wird Rechtsberatung sogar ausgeschlossen, und die Wohlfahrtsverbände sollen sich auf Sozial- und Rückkehrberatung beschränken.
Dabei ist zweifelhaft, ob eine Beratung durch das BAMF selbst als unabhängig gelten kann. Die BAMF-Berater werden zwar in einer separaten Abteilung geführt, sie sind aber als Entscheider ausgebildet und rotieren nach einem halben Jahr wieder in Entscheider-Positionen zurück. Von der institutionellen Anlage her ist es sehr zweifelhaft, ob sie gegenüber dem Asylentscheider, der ebenfalls Angestellter des BAMF ist, ein kritisches Gegenüber darstellen und das Vertrauen der Asylbewerber gewinnen können. Das wäre jedoch wichtig, weil die Asylbewerber sonst auf Gerüchte und Informationen von Schleusern angewiesen sind.
Europäischer Vergleich
Im europäischen Kontext steht die Ineffektivität und Ambivalenz der deutschen Asylverwaltung nicht allein. Die Niederlande haben durch Stellenkürzungen ihr früher gut funktionierendes System verlangsamt, nach dem geltenden Koalitionsabkommen wollen sie die Asylberatung einschränken. Die Anwälte sollen die Anhörung nicht mehr vorbereiten können. Österreich hat die gesamte Beratung seit Anfang 2021 verstaatlicht und die Zivilgesellschaft hinausgedrängt, es gibt nun neben der Asylbehörde eine „Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen“.
Es ist zu hoffen, dass die Regierungsbildung nach den Bundestagswahlen zu einem neuen Anlauf führt, das deutsche Asylsystem effektiv zu organisieren. Es ist inhuman und ineffizient, Menschen lange Zeit stillzustellen und ihre Initiative lahmzulegen. Eine gute Praxis in Deutschland wäre auch für den europäischen Kontext von großer Bedeutung. Der neue Plan der EU-Kommission sieht rasche und gute Pre-Screenings an den Außengrenzen vor. Auf die Ausführung wird es ankommen.