Wegsanktioniert
Ausreise als Überwindung der Hilfsbedürftigkeit nach dem Asylbewerberleistungsgesetz?
In diesem Jahr möchte das BVerfG über eine Verfassungsbeschwerde zu den Leistungskürzungen im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) entscheiden (Az: 1 BvR 2682/17). Den grundlegenden Maßstab für die Zulässigkeit von Sanktionen bei der Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) hat das BVerfG bereits in seiner Entscheidung zu den Sanktionen im SGB II entwickelt. Gemessen an diesen Maßstäben ist bereits zweifelhaft, ob die von dem Gesetzgeber zur Legitimierung der Sanktionen im AsylbLG vorgetragenen Gründe, namentlich die Förderung der Mitwirkungspflicht im Asyl- und Aufenthaltsrecht und die Verhinderung des „rechtsmissbräuchlichen Leistungsbezugs“, den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Zudem offenbart eine aktuelle Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage, dass die Wirksamkeit der Leistungskürzungen bislang unbelegt ist. Auch vor diesem Hintergrund werden die Sanktionsregelungen des AsylbLG den Anforderungen des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht gerecht.
Kaum überschaubares Sanktionssystem des AsylbLG
Mit dem AsylbLG hat der Gesetzgeber 1993 ein Sonderleistungssystem geschaffen, das eine deutliche Leistungsabsenkung gegenüber dem Sozialhilfeniveau vorsah. Das Gesetz umfasst nicht nur – wie der Name zunächst vermuten lässt – Asylbewerber:innen, sondern eine Vielzahl von Personengruppen, darunter Geduldete, Menschen mit irregulärem Aufenthalt sowie Personen mit bestimmten humanitären Aufenthaltserlaubnissen.
Ein zentraler Bestandteil dieses Leistungssystems sind migrationspolitisch motivierte Leistungskürzungen. Das im Jahr 1998 eingeführte Sanktionsgefüge ist kaum mehr überschaubar. Nach einer Verschärfungswelle seit 2015 umfasst das Gesetz gegenwärtig mehr als 20 Sanktionstatbestände (vgl. etwa hier). Unter anderem werden die Leistungen gekürzt, wenn
- die Leistungsberechtigten eingereist sind, um Sozialleistungen zu erhalten (§ 1a Abs. 2);
- sie bei ihrer Abschiebung nicht mitwirken (§ 1a Abs. 3);
- es sich um Asylsuchende handelt und sie im Rahmen des Asylverfahrens ihren Mitwirkungspflichten nicht nachkommen, damit das Asylverfahren effektiv und zügig durchgeführt werden kann (§ 1a Abs. 5);
- im Falle einer sogenannten Sekundärmigration, das heißt, wenn für die Durchführung des Asylverfahrens ein anderer EU-Staat zuständig ist (§ 1a Abs. 7) oder nach der Verteilung durch die EU ein anderer Staat zuständig ist (§ 1a Abs. 4) und die Person in Deutschland den Antrag stellt.
Zudem kann eine Leistungseinschränkung vorgenommen werden, wenn etwa Leistungsberechtigte sogenannte Arbeitsgelegenheiten verweigern (§ 5 AsylbLG) oder wenn eine Pflicht zur Teilnahme an einem Integrationskurs besteht, dieser aber nicht nachgekommen wird (§ 5b AsylbLG).
Sanktionsfolge: Vollständiger Wegfall der soziokulturellen Seite des Existenzminimums
Auf der Rechtfolgenseite sieht § 1a Abs. 1 AsylbLG vor, dass nur noch Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung und Unterkunft, einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege gewährt werden. Dies entspricht dem Teil des menschenwürdigen Existenzminimums, der die physische Existenz sicherstellen soll. Der Teil, der die soziokulturelle Existenz sicherstellen soll (d.h. der notwendige persönliche Bedarf, vgl. § 3 Abs. 1 S. 2 AsylbLG), entfällt vollständig.
Das Grundrecht auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums sichert jedoch die physische und soziokulturelle Existenz des Menschen als einheitliche Gewährleistung. Auch im Sanktionsfall darf diese einheitliche Gewährleistung nicht aufgespalten werden – wie das BVerfG in der Entscheidung zu den Sanktionen im SGB II bekräftigt hat: Die für die soziale Teilhabe veranschlagten Mittel sind ebenso wenig verfügbar wie die Mittel zur Sicherung der physischen Existenz (vgl. LS 1 sowie Rn. 157).
Bei der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage konnte die Bundesregierung den prozentualen Umfang der möglichen Leistungskürzungen im AsylbLG nicht beziffern (BT-Drs. 19/26032, S. 5). Doch Berechnungen des zuständigen Landesministeriums in Rheinland-Pfalz zeigen: Alleinstehenden Leistungsberechtigten verbleiben im Sanktionsfall 192 Euro monatlich zur Sicherung ihres Existenzminimums (vgl. Anlage 3 zu RS des MFFJIV RP v. 03.12.2020; ausführlich zu dem prozentualen Umfang der Leistungskürzungen siehe Schwabe, Zeitschrift für das Fürsorgewesen (ZfF), 2021, 29). Dies entspricht einer Kürzung von mehr als 47 Prozent gegenüber den Grundleistungen nach § 3 AsylbLG.
Verfassungsrechtlich problematisch ist nicht nur der Umfang der Leistungskürzung, sondern auch ihre Dauer. In der Entscheidung zu den Sanktionen im SGB II hat das BVerfG bereits den starren Minderungszeitraum von drei Monaten für mit dem Grundgesetz unvereinbar befunden (Rn. 176 f.). Im AsylbLG liegt die starre Dauer der Leistungsminderung bei sechs Monaten (vgl. § 14 Abs. 1 AsylbLG). Bei fortbestehender Pflichtverletzung können die Sanktionen beliebig oft verlängert werden. Im anhängigen Verfassungsbeschwerdeverfahren hat der Beschwerdeführer seit 2005 mit einem gekürzten Existenzminimum zu leben. Bleiben die für eine menschenwürdige Existenz benötigten Bedarfe über mehrere Jahre hinweg unterdeckt, stellt sich die Frage, welche Ziele der Gesetzgeber mit einer derart einschneidenden Sanktion verfolgt.
Sanktionen sind nur zulässig, wenn sie auf die Vermeidung oder Überwindung der Hilfebedürftigkeit gerichtet sind
Bereits in der Entscheidung zum AsylbLG hatte das BVerfG pointiert ausgeführt, dass die Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren ist (Rn. 95). In der Entscheidung zu den Sanktionen im SGB II ergänzt das Gericht, dass die Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums auch zur Erreichung anderweitiger Ziele nicht zu relativieren ist (Rn. 120).
Der Gesetzgeber darf die Gewährung existenzsichernder Leistungen lediglich an den Nachranggrundsatz knüpfen, das heißt, die Hilfebedürftigkeit der Betroffenen zur Voraussetzung für den Leistungsbezug machen. Er verfügt insofern innerhalb der vom BVerfG gesetzten Grenzen über einen Ausgestaltungsspielraum.
Das Grundgesetz steht nach der Rechtsprechung des BVerfG der Entscheidung nicht entgegen, staatliche Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz an Mitwirkungspflichten zu binden, die darauf zielen, die Hilfsbedürftigkeit zu überwinden, sofern sie gemessen an dieser Zielsetzung verhältnismäßig sind. Es muss den Betroffenen tatsächlich möglich sein, die Minderung existenzsichernder Leistungen durch eigenes Verhalten abzuwenden (vgl. LS 3). Abwenden bedeutet nicht eine Lage zu schaffen, in der keine Leistungen mehr gewährt werden können – so wie im Falle einer Abschiebung. Vielmehr geht es darum, durch eigene Verantwortung, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten (LS 3, Rn. 133). Das heißt nur ein Verhalten, das zur erneuten Leistungsgewährung führen kann, ist legitim und zumutbar. In einem obiter dictum stellt das BVerfG klar: „Verfassungswidrig wären demgegenüber Mitwirkungsanforderungen, die von vornherein ungeeignet sind, Menschen zumindest mittelbar wieder in Erwerbsarbeit zu bringen“ (Rn. 141).
Die Sanktionstatbestände in § 1a AsylbLG dienen nicht dazu, Hilfebedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden (näher dazu: Seidl, ZESAR 2020, 213 (214 f.)). Ihre Ziele liegen darin, die Mitwirkung im asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren zu fördern sowie „rechtsmissbräuchlichen Leistungsbezug“ zu verhindern (BT-Drs. 19/26032, S. 3). Sie sollen mittelbar zur Ausreise und damit zum Ende der Leistungsberechtigung führen. Es geht also nicht darum, dass Betroffene die Voraussetzungen dafür schaffen, um nach einer Minderung die Leistungen wieder zu erlangen. Vielmehr soll gerade als endgültiges Ziel verhindert werden, dass Leistungen wieder in Anspruch genommen werden können (vgl. BT-Drs. 19/26032, S. 10).
Keine Erkenntnisse der Bundesregierung über die Wirksamkeit der Sanktionen
Inwieweit sich dieses Ziel mithilfe von Sanktionen erreichen lässt, ist ungewiss. Denn der vorübergehende Entzug existenzsichernder Leistungen stellt eine außerordentliche Belastung dar und unterliegt strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit. Der weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers – hinsichtlich Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit der Regelung – ist hier beschränkt (LS 3, Rn. 132 ff.). Prognosen zu den Wirkungen solcher Regelungen müssen hinreichend verlässlich sein. Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit in der Lage ist, fundierte Einschätzungen zu erlangen, umso weniger genügt es, sich lediglich auf plausible Annahmen zu berufen (Rn. 134).
Für die Sanktionen im AsylbLG fehlen derartige Belege vollständig, wie die Bundesregierung einräumt (BT-Drs. 19/26032, S. 3). Nicht nur die Wirksamkeit der Leistungsminderungen ist bislang unerforscht. Es ist bereits unklar, in wie vielen Fällen die jeweiligen Sanktionstatbestände des AsylbLG in der Praxis angewendet werden. Hierüber erhebt der Bund keine Statistik (vgl. § 12 AsylbLG). Entsprechende Informationen liegen allenfalls den kommunalen Leistungsbehörden vor (BT-Drs. 19/26032, S. 9).
So hat etwa Sachsen-Anhalt die in den Kommunen getätigten Erhebungen für das Jahr 2017 in einer Landtags-Drucksache zusammengefasst (LT-Drs. 7/2565). Danach ist nur ein Bruchteil der sanktionierten Personen ausgereist. Die Mehrheit der Betroffenen nimmt eine Sanktion hin, ohne dass es zu einer Verhaltensänderung und letztlich zur Ausreise kommt. Insgesamt sprechen die Zahlen aus Sachsen-Anhalt dafür, dass sozialrechtliche Leistungskürzungen ein ineffektives Instrument zur Durchsetzung aufenthaltsrechtlicher Mitwirkungspflichten darstellen.
Selbst wenn anzunehmen wäre, dass die Ausreise die Hilfsbedürftigkeit überwindet, ist höchst fraglich, dass die Sanktionen tatsächlich geeignet sind, die Ausreise herbeizuführen. Denn die Betroffenen scheinen nicht aufgrund der Leistungskürzung auszureisen. Stattdessen müssten zunächst einmal die zur Verfügung stehenden aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Mit der Duldung für Personen mit ungeklärter Identität (§ 60b AufenthG) und der Mitwirkungshaft (§ 62 Abs. 6 AufenthG) hat der Gesetzgeber neue aufenthaltsrechtliche Mitwirkungsinstrumente geschaffen. Der Rückgriff auf das Existenzsicherungsrecht ist zum Vollzug aufenthaltsrechtlicher Pflichten nicht erforderlich (vgl. Seidl, ASR 2020, 171 (175)).
Ferner lassen sich nicht alle der im AsylbLG enthaltenen Sanktionen in ihrer Wirksamkeit überhaupt quantifizieren. So knüpft etwa § 1a Abs. 2 AsylbLG an eine Einreise zum Leistungsbezug an. Die Bundesregierung sieht das legitime Ziel dieses Sanktionstatbestands darin, rechtsmissbräuchlichen Leistungsbezug zu verhindern (BT-Drs. 19/26032, S. 12). Das derart vage Ziel der Rechtsmissbrauchsabwehr lässt sich nicht anhand empirischer Erkenntnisse belegen. Insbesondere ist den Betroffenen keine Verhaltensänderung möglich, die sich statistisch erfassen ließe. Die Leistungsminderung knüpft einzig an die in der Vergangenheit liegende, nicht mehr korrigierbare Einreisemotivation an. Es handelt sich um eine unzulässige Sanktion mit repressivem Charakter.
Fehlen empirischer Belege kann zur Verfassungswidrigkeit der Sanktionen führen
Zwar ist dem Gesetzgeber eine Erprobungszeit bei neu eingeführten Tatbeständen zuzugestehen, um die benötigten Erkenntnisse zur Wirksamkeit der Sanktion sammeln zu können, doch die Sanktionstatbestände des § 1a Abs. 2 und 3 AsylbLG sind in ihren Grundzügen bereits seit 1998 in Kraft. Hier kann sich der Gesetzgeber nicht länger auf plausible Annahmen stützen, sondern muss fundierte Einschätzungen zugrunde legen. Bislang hat er keinerlei Anstrengungen unternommen, derartige Einschätzungen zu generieren – wie die Antwort der Bundesregierung verdeutlicht. Dieser Totalausfall geht zulasten des Gesetzgebers. Gerade im grundrechtlich sensiblen Bereich der Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums ist eine effektive verfassungsgerichtliche Kontrolle nur dann möglich, wenn die Berechnungsgrundlagen transparent und die Wirksamkeit der Leistungskürzungen anhand empirischer Erkenntnisse begründbar sind. Ohne jegliche Belege kann das Sanktionssystem im AsylbLG den strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit von Leistungsminderungen nicht genügen.
Eine Prognose wagen?
Den (vermeintlichen) Vollzugsdefiziten des Aufenthaltsrechts lässt sich nicht mit Kürzungen des Existenzminimums begegnen. Die Antwort der Bundesregierung legt offen, dass bislang jegliche Belege zur Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Sanktionen im AsylbLG fehlen. Abgesehen davon, dass die Leistungskürzungen grundsätzlich nicht darauf angelegt sind, die Hilfsbedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden, können die Sanktionstatbestände ohne tragfähige Erkenntnisse der gebotenen strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht standhalten.
Der Fall des seit 2005 durchgängig sanktionierten Beschwerdeführers verdeutlicht die in Teilen noch einschneidenderen Rechtsfolgen des Sanktionssystems im AsylbLG, indem die soziokulturellen Bedarfe der Betroffenen mitunter über Jahre hinweg ungedeckt bleiben. Das BVerfG hat nun Gelegenheit, seine Rechtsprechung zu den Sanktionen im SGB II auf das Sanktionssystem im AsylbLG zu übertragen. Mit Prognosen über Entscheidungen von Verfassungsgerichten ist Vorsicht geboten. Dennoch wäre es eine Überraschung, wenn das BVerfG das Sanktionssystem des AsylbLG für mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar halten würde.