Sollten Impfunwillige im Triage-Fall nachrangig behandelt werden? Teil III
Fortsetzung zu Teil I und Teil II
Dass ich selbst zu denen gehöre, die die Titelfrage eindeutig verneinen, habe ich in Teil II schon deutlich gemacht. Der wichtigste Grund, der für diese Position spricht, ist ziemlich offensichtlich und in der Debatte schon oft benannt worden: Die Einführung eines „Verursachungs-“, Verantwortungs- oder Verschuldenskriteriums in Entscheidungen über die Behandlung oder Nichtbehandlung von Patienten käme einem Systembruch gleich. So etwas ist in unserem Gesundheitswesen bislang nicht vorgesehen. Damit das nicht als diskriminierende ad hoc-Maßnahme daherkäme, müsste man mehr als nur die bislang vorgesehene Form der Pandemie-Triage ändern. Und auch sie dürfte man nicht allein zu Lasten der Impfunwilligen, sondern man müsste sie zu Lasten aller Intensivpatienten ändern, die ihre Behandlungsbedürftigkeit auf zumutbare Weise hätten verhindern können. Insofern ist es überraschend, ausgerechnet bei einem Rechtswissenschaftler zu lesen, ihm falle „kein plausibles Argument ein, das es rechtfertigen könnte“, den Impfstatus nicht zu berücksichtigen. Vielleicht findet er das Systembruchargument nicht plausibel. Aber man hätte immerhin erwartet, dass es als Kandidat erwähnt wird.
In der im öffentlichen Diskurs am häufigsten auftauchenden Version verweist das Systembruchargument darauf, dass man auch sonst in der Medizin die Behandlung von Patienten, etwa von Risikosportlern oder Rauchern, nicht von vermeidendem Vorverhalten abhängig mache. So allgemein formuliert, ist das als Einwand nicht ganz fair. Solange genügend Ressourcen verfügbar sind, um alle Bedürftigen zu behandeln, bedarf es keiner Patientenauswahl und dann braucht man auch das Kriterium des Vorverhaltens nicht. Die Unterstellung, die Befürworter des Vorschlags hätten im Sinn, Impfunwilligen die benötigte Behandlung knappheitsunabhängig zu verweigern, hatte ich entsprechend bereits in Teil I zurückgewiesen.
Aber auch wer den Vorschlag auf Situationen existentieller Ressourcenknappheit begrenzt, muss zugeben, dass bei konsequenter Umsetzung nicht zielgenau Impfunwillige, sondern alle Personen zurückgestellt werden müssten, die nicht in zumutbarer Weise vermeidend aktiv geworden sind. Und man müsste erläutern, ob das neben der aktuellen, pandemiebedingten Ressourcenknappheit auch die ständige Knappheit an Organtransplantaten und alle Arten von akut auftretenden Knappheiten betreffen soll (und wenn nein, warum nicht): Erstversorgung nach Massenkarambolagen, Hubschraubertransporte in Spezialkliniken, Bergungsequipment für unter Tage Verschüttete, Rettungsinseln bei Schiffskatastrophen – stets müsste bei Knappheit gelten: die Unfallverursacher zuletzt. In einem aktuellen Beitrag hat nun auch eine Strafrechtlerin dafür ausdrücklich plädiert: „Eine rationale Begründung für unabwendbare Priorisierungsentscheidungen ist, dass eine entscheidungsfähige, volljährige Person wesentlich oder gar ausschließlich durch eigenes Verhalten ihre Notlage verursacht hat“.
Dass man das de facto anders handhabt, liegt nicht nur daran, dass sich zu den Ursachen des Geschehens so rasch meist nichts Verlässliches sagen lässt (manchmal lässt es sich sagen). Es liegt daran, dass die Akutversorgung, historisch betrachtet, eine Institutionalisierung des karitativen Gedankens ist: Grund für die Hilfe, so man sie denn leisten kann, ist die existentielle Not der Bedürftigen, sonst nichts. Das ist keineswegs nur ein christlicher, aber ein auf dem christlichen Hintergrund in den Heil- und Pflegeberufen prägend kultivierter Gedanke. Seine Institutionalisierung, d.h. die Verrechtlichung des Anspruchs auf Hilfeleistung ersetzt diesen Grund auch nicht etwa durch den Grund, dass der Bedürftige in eine Krankenversicherung eingezahlt hat. Vielmehr dient die allgemeine Pflicht, in eine Krankenversicherung einzuzahlen, dem Zweck, es der politischen Gemeinschaft zu ermöglichen, den karitativen Gedanken flächendeckend und ohne unbillige Überlastung wohlmeinender Individuen umzusetzen.
Das mit der flächendeckenden Umsetzung wird nun aber in dieser Pandemie zum Problem – und die unbillige Überlastung der (heutzutage: beruflich zuständigen) wohlmeinenden Individuen wird auch nicht mehr vermieden. Was nun? Man sollte wie gesagt den (meisten) Befürwortern des Vorschlags, den Impfstatus zu berücksichtigen, zugutehalten, dass sie den karitativen Gedanken nicht an sich aufkündigen wollen. Sie berufen sich nur auf den Umstand, dass es im Triage-Fall bei dem obigen Zusatz („sonst nichts“) nicht bleiben könne. Irgendwie muss ausgewählt werden, wenn der Bedürftigen zu viele werden. Dann, so der anfangs zitierte Rechtswissenschaftler, entspreche es einem „Gebot gerechter Lastenverteilung“, dass, „wenn man Entscheidungen frei und eigenverantwortlich trifft, man im Fall des Falles auch die Konsequenzen dieser Entscheidung zu tragen hat“.
Ich nehme an, dass diese souveräne Abkehr von den berufsethischen Traditionen, die es immerhin auch für Fälle der Ressourcenknappheit gibt, sowie von den teilweise (nämlich im Fall der Transplantationsmedizin) auch nebenstrafrechtlich geregelten Kriterien der Patientenauswahl den beiden zitierten Jurist:innen nicht aus Versehen unterlaufen ist, sondern dass es sich um einen ernstgemeinten medizinethischen, vielleicht auch medizinrechtlichen Vorschlag handelt. Der zuerst zitierte Autor wählt zusätzlich die Formulierung, es könne nicht gerechtfertigt sein, die Konsequenzen der Weigerung, sich impfen zu lassen, „auf Dritte – wie andere dringend Behandlungsbedürftige – abzuwälzen“. Da es im Triage-Fall die Ärzte, nicht die impfunwilligen Patienten selbst sind, die allenfalls etwas abwälzen, darf man sagen, dass der Autor an dieser Stelle zurechnungstheoretisch etwas lose verfährt. Im Folgenden soll deutlich werden, dass es wichtig wäre, genauer zu formulieren.
Wichtig ist das auch deshalb, weil vergleichbare Äußerungen in der aktuellen Lage rechtswissenschaftlich nicht sensibilisierten Debattenteilnehmern besonders nahe zu liegen scheinen. Ein krasses – zum Glück, soweit erkennbar, nicht sonderlich breit rezipiertes – Beispiel dafür findet sich in einer Stellungnahme des Bayerischen Ethikrats. Dieses Gremium, bei dem man, anders als sonst in Ethikräten üblich, auf eine Beteiligung juristischen Sachverstands verzichtet hat, erlaubt sich folgende Formulierung: „Eine Überlastung der Kliniken durch eine zu hohe Zahl von Hospitalisierungen führt zu einer Einschränkung der allgemeinen medizinischen Versorgung. Eine unterlassene Impfung gegen eine potenziell tödliche Infektion stellt daher gleichermaßen einen Eingriff in die körperliche Integrität anderer dar.“ Danach ist die unterlassene Impfung geradewegs mit einer Körperverletzung gleichzusetzen. Das ist Unsinn – und es sollte irgendwo auch einmal als solcher benannt werden.
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Das abstrakte Prinzip, es sei gerecht, dass jedermann die Konsequenzen seiner freien und eigenverantwortlichen Entscheidungen selbst zu tragen hat, klingt an sich nicht unplausibel. Jedenfalls fallen einem leicht Umstände ein, in denen man das Prinzip gern in Anspruch nehmen würde. Man möchte nicht die Rechnungen für die Einkäufe des Nachbarn zahlen, auch seine Bußgeldbescheide nicht, und man möchte (um ein existentielles Beispiel zu nehmen) als Spaziergänger auf dem Gehweg nicht von einem Raser überfahren werden, der, um sich selbst zu retten, einem vorschriftsmäßig fahrenden LKW ausweicht. Letzteres passt als Beispiel für das Abwälzen von Konsequenzen (schwere Verletzung oder Tod) eines eigenverantwortlichen Tuns (des Rasens) auf Dritte (den Fußgänger). Zu solchen Fällen sieht das Strafgesetzbuch (§ 35 StGB, Entschuldigender Notstand) ausdrücklich vor, dass nicht entschuldigt wird, wenn derjenige, der eine rechtswidrige Tat (das Überfahren des Fußgängers) begeht, die auf diese Weise von sich abgewendete Lebensgefahr „selbst verursacht hat“.
Der Fall eines Impfunwilligen, der auf die Intensivstation eingewiesen wird, ist dazu aus mehreren Gründen nicht analog. Vor allem ist die „Tat“, um die es geht, nämlich das Verweigern der Impfung, nicht rechtswidrig. Das würde sich erst ändern, wenn eine allgemeine Impfpflicht eingeführt würde. Schon gar nicht erfüllt die Impfverweigerung, im Unterschied zum Überfahren des Fußgängers, den Tatbestand eines sogenannten Erfolgsdelikts, also eines Delikts, bei dem die „Konsequenzen“, um deren Abwehr es der Rechtsordnung geht, in der Deliktbeschreibung selbst genannt werden (§ 223 StGB, Körperverletzung: „Wer eine andere Person […] an der Gesundheit schädigt […]“; analog § 226, Schwere Körperverletzung, und § 227, Körperverletzung mit Todesfolge). Daran würde sich auch bei Einführung einer allgemeinen Impfpflicht nichts ändern. Mit einer solchen Pflicht gebietet man den Bürgern das Impfen – nicht verbietet man ihnen, „eine Intensivstation zu überlasten“ oder „einem schuldlosen Intensivpatienten ein Bett zu stehlen“ oder dergleichen. Das gilt ganz unabhängig davon, dass mit der Überlastung der Intensivstationen eine, vielleicht auch die Konsequenz benannt ist, um deren Abwehr es einer Rechtsordnung geht, die eine allgemeine SARS-CoV-2-Impfpflicht statuiert.
Dass man die Impfpflicht nicht als Erfolgsdelikt ausgestalten kann, liegt daran, dass das Verhältnis der fraglichen Tat, nämlich der Impfverweigerung, zu den in Rede stehenden Konsequenzen tatsächlich ein anderes ist als im Falle des Rasers, der den Fußgänger überfährt. Zwar lässt sich allenfalls noch eine Gefahr identifizieren, die der Impfunwillige mit seiner Tat von sich „abwendet“ – nämlich die Gefahr einer Impfkomplikation. Die wälzt er aber nicht auf Dritte ab. Dasselbe gilt für die Gefahr, der der Impfunwillige sich durch sein Verhalten selbst aussetzt, nämlich die der Infektion und eines schweren Verlaufs. Die einzige Gefahr, die der Impfunwillige – sofern er sich nicht konsequent in Kontaktvermeidung übt oder üben kann – für Dritte erzeugt, besser: die er nicht vermeidet (nicht aber: auf Dritte „abwälzt“), ist die der Weitergabe des Virus, d.h. der Ansteckung. Das bloße Verweigern der Impfung kann aber, anders als ein eventuell nachfolgendes, konkret gefährdendes Verhalten – etwa ein Quarantäneverstoß oder gar das Anhusten Dritter seitens eines wissentlich Infizierten – nicht als Körperverletzung sanktioniert werden. Das Unterlassen der Impfung ist, wie der Strafrechtler sagt, lediglich abstrakt gefährlich. Verboten werden kann so etwas grundsätzlich trotzdem, da es im (vorab nicht erkennbaren) Einzelfall und erst recht in der Summe, d.h. über Taten und Täter hinweg kumuliert, dann doch zu erheblichen Schäden führt. Mit Delikten dieser Struktur hat das Recht und haben die Bürger auch längst Erfahrung. Man denke nur an die Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB).
Nur für den Fall, dass jemand ungeduldig wird, nach dem Motto, strafrechtlich ist die Zurechnung von Konsequenzen natürlich voraussetzungsvoll, aber moralisch müssten die Impfunwilligen sich die Misere auf den Intensivstationen doch wohl zurechnen lassen: Soweit der Umstand, dass die Impfung gegen SARS-CoV-2 bislang nicht rechtlich vorgeschrieben ist, auf Zweifeln beruht, ob eine solche Rechtspflicht „verhältnismäßig“ und damit verfassungsgemäß wäre, erstrecken die Zweifel sich hoffentlich auch auf die Frage, ob die Impfunwilligen moralischen Tadel verdienen. Hat man keine solchen Zweifel, sollte man die baldmöglichste Einführung der allgemeinen Impfpflicht befürworten (und dazu raten, genau darüber nachzudenken, wie sie konkret umzusetzen ist). Das tut auch der zitierte Rechtswissenschaftler. Damit sollte es dann aber auch gut sein. Der Staat kann doch nicht die Impfunwilligen monatelang in dem Glauben lassen, beim Thema Impfen dürften sie wie beim Rauchen und anderen riskanten Verhaltensweisen letztlich ihrer persönlichen Einschätzung und Motivlage folgen, und anschließend das Triage-Problem auf ihrem Rücken lösen, weil man sich nicht rechtzeitig getraut hat, die Regeln zu ändern.
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Im Beitrag des Rechtswissenschaftlers ist die Frage der Bedeutung des Impfstatus für die Triage nur ein Nebenschauplatz. Sein Hauptanliegen betrifft die Frage eines neuerlichen „Lockdown für alle“. In einer Lage, in der man damit im Wesentlichen nur noch die Impfunwilligen voreinander schütze (der Beitrag stammt von Mitte November 2021, Omikron war noch nicht ins allgemeine Bewusstsein eingedrungen), sei ein Lockdown für alle in einem freiheitlichen Staat nicht mehr vertretbar. Hier möge man sich auf den „alten Satz“ zurückbesinnen, dass „die Befugnis des Staates zur Beschränkung der individuellen Freiheit – und damit auch sein Schutzauftrag für Leben und Gesundheit, soweit er gerade durch solche Beschränkungen erfüllt werden soll“, dort endeten, „wo es jedem Einzelnen in zumutbarer Weise möglich ist, sich selbst zu schützen“.
Dass dieser Satz im Blick auf einen Staat, der die medizinische Akutversorgung zum Rechtsanspruch erhoben hat, vielleicht zu alt ist, um hilfreich zu sein, zeigt sich, sobald der Autor auf die Aufgabe zu sprechen kommt, die dem Staat auch bei ausreichender Verfügbarkeit von Impfstoffen verbleibt: die Funktionsfähigkeit der Akutversorgung zu sichern. Wegen dieser Aufgabe des (sozialen, nicht nur liberalen) Staats hat er seine Schuldigkeit eben nicht schon dann getan, wenn jeder Einwohner ein Impfangebot erhalten hat. Er muss sich auch kümmern, und notfalls auch mithilfe von Freiheitseinschränkungen (auch die Einführung einer Impfpflicht fällt darunter), wenn allzu viele Einwohner das Angebot nicht annehmen.
Stellen wir uns, zum Abschluss, eine Pandemie und eine Gesellschaft vor, die in einigen Hinsichten anders sind als unsere: Es gibt keine aus anerkannten medizinischen Gründen ungeimpften Personen; nach der Impfung ist man vollständig und anhaltend vor einer Infektion geschützt; Impfkomplikationen gibt es nicht; es gibt aber eine große Gruppe verbohrter Ideologen, die dem Impfstoff allerlei sinistre Eigenschaften andichten, die er nicht hat; alle Angehörigen der Gruppe sind selbst schuld, dass sie diesen Unsinn glauben; alle Ungeimpften sind Angehörige dieser Gruppe; ihr Impfstatus ist an einem Armband mit entsprechendem Signet für jeden Triage-Arzt erkennbar; sie alle machen glaubhaft, lieber sterben zu wollen als sich impfen zu lassen; rund fünfzig Prozent von ihnen müssen im Infektionsfall für längere Zeit beatmet werden, haben aber unter Behandlung eine gute Prognose – besser als die Prognose so manches Herzinfarkt-, Schlaganfall- oder postoperativen Intensivpatienten; und alle diese anderen Patienten sind gänzlich unschuldig an ihrem medizinischen Problem. Nun steigen und steigen die Zahlen, die Intensivstationen „laufen voll“, Triage droht. Wäre ich auch in dieser Lage dagegen, den Impfstatus zu berücksichtigen?
Als erstes lohnt es sich, sich gründlich bewusst zu machen, dass wir in einer solchen Lage nicht sind – und auch nie sein werden, denn es sind gänzlich unrealistische Annahmen involviert. Zweitens bezweifle ich, dass irgendjemand verlässlich sagen kann, wofür er in einer solchen Lage plädieren würde, solange er sich weder darin befindet noch die Lage sich konkret am Horizont abzeichnet: Droht ein Bürgerkrieg? Handelt es sich um eine weltanschauliche Gruppierung mit Todessehnsucht? Könnte man eventuell über eine Staatensezession verhandeln? Kurz – es kommt drauf an, und im Moment habe ich Dringenderes zu tun, als über unrealistische Szenarien nachzudenken. Ich halte es aber keineswegs grundsätzlich für sinnlos, sich – nach Art mancher Philosophen – extrapolierende Gedanken in andere Welten hinein zu machen. Nur weil einige Theoretiker das für Situationen existentieller Knappheit immer schon getan haben, sind wir jetzt mit der gesellschaftlichen Verständigung nicht vollständig überfordert. Und ich bin sicher, dass uns noch mehr Szenarien bevorstehen, auf die unser moralisches Selbstverständnis schlecht vorbereitet ist.