15 November 2021

Lockdown für alle?

Wer die Debatten um die Corona-Politik, nicht zuletzt auf diesem Blog, von Anfang an verfolgt hat, könnte eine bemerkenswerte Umkehrung registrieren: Hatten im März und April 2020, als alles anfing, noch die Kritiker der ergriffenen Maßnahmen dominiert und die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Grenzen angemahnt, melden sich nun verstärkt diejenigen zu Wort, denen derzeit viel zu wenig getan wird und die die Ursache des ganzen Übels gerade in der Überbetonung rechtsstaatlicher Bindungen, vor allem aber in der FDP sehen. Man lotet dann etwa, wie Johannes Gallon und Anna Katharina Mangold in ihrem Beitrag, die Bedeutung der Grundrechte für staatliches Handeln in der Krise aus, aber weniger, um diesem Handeln Grenzen zu ziehen, sondern um aufzuzeigen, was alles auch unter ihrer Geltung noch möglich wäre. Oder man fährt wie Franz Mayer noch einmal das ganze Arsenal der Instrumente auf, die durch die von der Ampel geplanten Neuregelungen des Infektionsschutzes nun wegfallen, offenbar in der Erwartung, dass allein die eindrucksvolle Liste das Bedürfnis nach ihrer neuerlichen Anwendung aufkommen lässt: Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen im privaten wie im öffentlichen Raum, Untersagung von Freizeit- und ähnlichen Veranstaltungen; Verbot von Kulturveranstaltungen und des Betriebs von Kultureinrichtungen; Untersagung von Versammlungen sowie religiösen oder weltanschaulichen Zusammenkünften; Untersagung oder Beschränkung von Reisen; Schließung oder Beschränkung von Restaurants, Betrieben etc., Schließung von Hochschulen, Schulen, Kindertagesstätten undundund. Auch im Übrigen häufen sich die dramatischen Appelle, man müsse doch endlich etwas tun, wenngleich auch hier meist auf eine bemerkenswerte Weise offen bleibt, was dieses Etwas nun genau sein soll. Worüber man jedenfalls nicht mehr nachdenken sollte, wäre ein neuerlicher Lockdown für alle, in welcher Form auch immer und gleich ob hart, light oder mittel; dagegen würde ich doch entschiedenen Widerspruch anmelden. Ein paar kursorische Bemerkungen zur Begründung:

1. Zur Aufhebung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite hat Thorsten Kingreen auf diesem Blog alles Erforderliche gesagt; dem habe ich nur wenig hinzuzufügen. Dass es rechtlich immerhin für viele Maßnahmen weiterhin ausreichende Begründungsmöglichkeiten gibt und zudem erstmals eine rechtsstaatlichen Anforderungen genügende Ermächtigungsgrundlage für 2 G (und, wenn man dies für sinnvoll hält, sogar für 2 G+) geschaffen wird, müsste man bei allem Furor vielleicht doch zur Kenntnis nehmen. Dieser Furor mag sich seinerseits wesentlich aus dem symbolischen Überschuss erklären, den die Feststellung der epidemischen Lage nun einmal hat: Sie macht – wie seinerzeit die Verkündung des Belagerungszustands in Preußen mit „Trommelschlag und Trompetenschall“ – für jedermann sichtbar, dass die Situation ernst ist und nun auch Ernst gemacht werden muss, dass die Regelungen des Gewohnten aufgehoben sind und nun etwas anderes, Außerordentliches an ihre Stelle tritt. Und müsste man, wenn die Situation immer noch da ist, sie dann nicht auch weiterhin als solche markieren?

Gerade in diesem symbolischen Überschuss mag man allerdings nach mehr als anderthalb Jahren Pandemiebekämpfung durchaus ein Problem sehen. Diese hat zu einer anhaltenden Gewöhnung an einen Zustand geführt, in dem der Staat die Gesellschaft je nach dem Verlauf der Infektionskurven beständig herauf- und herunterreguliert hat und die Grundrechte zuletzt das Produkt einer staatlichen Dauerbewirtschaftung geworden sind. Es gibt ein bestimmtes Kontingent an Sozialkontakten, das insgesamt noch hinnehmbar erscheint, um die Pandemieentwicklung zu bremsen, dieses Kontingent muss dann aufgeteilt werden, und die entscheidende Frage ist, wer es am Ende bekommt: die Baumärkte oder die Buchläden; die Restaurants oder die Fitnessstudios; die Schulen, Universitäten und Theater oder die produzierende Wirtschaft; am Ende bekommt es dann doch zuverlässig immer die Wirtschaft. Auch in der Sprache hat sich längst eine Rhetorik der Zuteilung durchgesetzt, die bei den „Privilegien“ der Geimpften anfängt und heute in Maßnahmen wie den Kontaktbeschränkungen bloß einen ganz milden Eingriff und im Ergebnis gar kein Problem sieht. Dass diese beständige Bewirtschaftung der Freiheit ein Zustand ist, der mit den Grundideen einer freiheitlichen Ordnung unvereinbar ist, könnte ja auch von den sich früher dezidiert als liberal verstehenden Teilen der Verfassungsrechtswissenschaft einmal registriert werden.

Es wäre dann eine durchaus offene Frage, ob nicht gerade der Vorteil einer expliziten Feststellung des Ausnahmezustands, ob man ihn nun „epidemische Lage“ oder sonstwie nennen mag, darin liegen könnte, die zeitliche Begrenztheit dieses Zustands zu markieren und ihn durch seine formelle Beendigung von einem Tag auf den anderen einfach abzuschalten, um dann wieder zum Normalbetrieb zurückzukehren. Darauf habe ich keine klare Antwort. Aber auch dieses Argument verliert an Überzeugungskraft, wenn der als solcher gedachte Ausnahme- zu einem Dauerzustand geworden ist, dessen Ende offen ist: Wer sagt eigentlich, dass im nächsten Winter alles besser wird? Oder es überhaupt irgendwann einmal vorbei ist? Bislang hat sich noch jede Nachricht vom Ende der Pandemie, ob durch wärmeres Wetter oder den Impfstoff, zuverlässig als verfrüht erwiesen. Wollen wir dann immer in diesem Modus weitermachen?

2. In allen Stellungnahmen, die uns nun wieder in den nächsten Lockdown hineinschreiben wollen, geht auf eine irritierende Weise unter, dass bald 70 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind und damit bei allem, was wir nun über Impfdurchbrüche und einzelne schwere Verläufe lesen, doch nun ziemlich gut jedenfalls vor einem lebensbedrohlichen Verlauf der Erkrankung geschützt sind. Hinnerk Wißmann hat die Bereitstellung eines umfassenden Impfangebots auf diesem Blog als einen „verfassungsrechtlichen Kipppunkt“ bezeichnet, von dem an die Zulässigkeit der entsprechenden Maßnahmen noch einmal ganz anders und neu zu beurteilen wäre. In dem Beitrag von Franz Mayer findet sich dazu kaum ein Wort. Bei Johannes Gallon und Anna Katharina Mangold wird die Möglichkeit der Impfung und damit auch des Selbstschutzes demgegenüber zwar ausführlich thematisiert, aber ohne dass sie in ihrer vollen Bedeutung für die Verschiebung der Argumentationslast, die aus ihr resultiert, gesehen wird. Schon für die Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit der in der Vergangenheit großzügig angeordneten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen macht es ja ersichtlich einen Unterschied, ob sie auf eine praktisch ungeschützte oder doch nun schon sehr weitgehend geschützte Bevölkerung treffen.

Die entscheidende Frage, auf die diese Verschiebung zuläuft, ist allerdings, was und wen wir nun eigentlich mit solchen und ähnlichen Maßnahmen schützen wollen. Die Geimpften? Diese sind aber doch gerade durch die Impfung geschützt, und wer in einer Phase hoher Inzidenzen (wollten wir uns von denen nicht mal als Kenngröße verabschieden?) trotzdem Sorge um die eigene Gesundheit hat, kann vom Tragen einer FFP2-Maske über das Vermeiden von Menschenansammlungen bis hin zur Einschränkung der eigenen Sozialkontakte ziemlich viel tun, um das Risiko für sich weiter zu minimieren. Hier sollte man sich vielleicht doch einmal auf den alten Satz zurückbesinnen, dass die Befugnis des Staates zu Beschränkungen der individuellen Freiheit – und damit auch sein Schutzauftrag für Leben und Gesundheit, soweit er gerade durch solche Beschränkungen erfüllt werden soll – dort endet, wo es jedem Einzelnen in zumutbarer Weise möglich ist, sich selbst zu schützen. Lässt andererseits, wie man nun weiß, die Wirkung des Impfstoffs im Laufe der Zeit nach, müsste man vielleicht vor der Anordnung solcher Beschränkungen erst einmal alles tun, um genügend schnell und in ausreichendem Maße Auffrischungsimpfungen zu organisieren. Am fehlenden Impfstoff dürfte das kaum scheitern; hier in Frankfurt fahren mittlerweile sogar Straßenbahnen durch die Stadt, um ihn loszuwerden.

Wenn es also die Geimpften nicht sind, die man schützen muss, sind es dann die Ungeimpften? Aber warum eigentlich? Für diejenigen, die sich aus eigener freier Entscheidung nicht impfen lassen wollen, scheint mir das einzige Argument, über das man ernsthaft reden kann, wieder die Gefahr, die von ihnen – oder jedenfalls ihrem immer noch zu hohen Anteil an der Gesamtbevölkerung – für die bereits Geimpften ausgeht. Für die liegt – siehe oben – die Gefährdung allerdings in einer Größenordnung, bei der wir mindestens diskutieren müssten, ob wir sie nicht dem zuschlagen müssten, was in früheren Zeiten als allgemeines Lebensrisiko firmierte und uns auch vom Staat nicht dauerhaft abgenommen werden kann. Es bleiben dann für die Begründung diejenigen übrig, die sich nicht impfen lassen können. Unter diesen sind allerdings, wenn ich mir die Stellungnahmen aus der Pädiatrie anschaue, die Jugendlichen und Kinder durch das Virus in einem erneut ganz verschwindend geringen Maße gefährdet; hier laufen die Krankenstationen zwar mittlerweile auch zu, aber nicht infolge von Corona, sondern wegen eines ganz anderen Virus. Die Gruppe der aus medizinischen Gründen nicht impfbaren Erwachsenen dürfte demgegenüber überschaubar und jedenfalls deutlich kleiner sein, als es in den gegenläufigen Stellungnahmen unter der Hand oft mitsuggeriert wird: Es gibt nach Aussagen der Bundeszentrale für medizinische Aufklärung kaum medizinische Kontraindikationen für die Impfung, und bei Allergie gegen einen bestimmten Impfstoff kann man auf einen anderen ausweichen. Der Schutz dieser zahlenmäßig nur kleinen Gruppe dürfte deshalb nach nunmehr anderthalb Jahren Dauer weitere schwerwiegende Belastungen kaum rechtfertigen.

3. Es bleibt dann zuletzt als einzig wirklich begründbares Ziel wieder die Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems, so wie es schon zu Beginn der Pandemie diskutiert worden ist. Auch hier drängt sich allerdings unter Gesichtspunkten gerechter Lastenverteilung doch die Frage auf, mit welcher Rechtfertigung man nun die Geimpften für die Ungeimpften, also die hinreichend Geschützten für die aus eigenem Entschluss immer noch Ungeschützten in die Mithaftung nehmen will. Sind letztere ganz wesentlich für die derzeitige Situation verantwortlich, müssten sich Maßnahmen primär gegen sie richten, wenn man sich nicht vom Verursacherprinzip ganz verabschieden will. Man kann nun darüber diskutieren, welche das im Einzelnen sein müssten. Ich sehe durchaus, dass die Politik der negativen Anreize – immer stärkerer Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben bei fehlender Impfung – an ihre Grenzen stößt; auch die damit einhergehende moralische Dauerbeschallung dieses Teils der Bevölkerung, anschaulich zuletzt im Fall Kimmich, treibt die Leute ja eher nur immer weiter in eine bestimmte Ecke als dass sie wirklich weiterhilft. Wir haben dann einerseits für diesen Teil ziemlich massive Grundrechtsbeschränkungen – auch Ungeimpfte haben ja ein Recht auf Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben, das als solches vom BVerfG in seinen Entscheidungen zum Existenzminimum zuletzt sogar in der Menschenwürde angesiedelt worden ist – und andererseits einen unsicheren Wirkungsgrad, weil die Entscheidungsfreiheit für oder gegen die Impfung formell nicht angetastet werden soll. Man kann sich deshalb durchaus auf den Standpunkt stellen, dass eine direkte Impfpflicht im Verhältnis dazu sowohl den geringeren Eingriff als auch als das effektivere Mittel darstellt. Warum eine solche bislang für Erzieher, Lehrer, Pflegekräfte und andere Berufsgruppen, die in engen Kontakt mit möglicherweise gefährdeten Personen geraten, nicht längst angeordnet worden ist, ist, drücken wir es zurückhaltend aus, nicht wirklich verständlich. Und dazu kommen noch viele andere Skurrilitäten wie die, dass der Arbeitgeber seine Beschäftigten bis heute nicht einmal nach ihrem Impfstatus fragen darf, was an meiner Universität dazu führt, dass alle Studierenden beim Betreten der Gebäude ihren Impfausweis vorzeigen müssen, für alle Mitarbeiter, ob geimpft oder nicht, dagegen die Uni-Card ausreicht.

Auch eine allgemeine Impfpflicht ließe sich, wie die bisherige Diskussion gezeigt hat, in diesem Sinne verfassungsrechtlich durchaus begründen; man bräuchte nur eine Vorstellung, wie man sie denn durchsetzt, nachdem die politisch Verantwortlichen sie von Anfang an – und wie sich auch hier zeigt: vorschnell – ausgeschlossen haben. Liefen wir dann trotz allem doch in eine Triagesituation hinein, wie sie natürlich niemand wollen kann, wäre die nüchterne Frage, ob und inwieweit die Weigerung, sich selbst impfen zu lassen, als Kriterium für die dann zu treffende Entscheidung zu berücksichtigen ist. Dafür lassen sich durchaus rechtfertigende Gründe anführen, wie kürzlich gezeigt worden ist. Dabei ginge es nicht um ein achselzuckendes „Selber schuld“, wie oft unterstellt wird, um das Argument von vornherein zu diskreditieren: Natürlich soll jeder, ob geimpft oder nicht, die beste Behandlung bekommen, die möglich ist. Aber wenn eine solche Behandlung nach den gegebenen Umständen nur für einige möglich ist, für andere aber nicht, müssen Kriterien gefunden werden, nach denen die Auswahl getroffen wird. Auch hier entspricht es dann einem Gebot gerechter Lastenverteilung, dass, wenn man Entscheidungen frei und eigenverantwortlich trifft, man im Fall des Falles auch die Konsequenzen dieser Entscheidung zu tragen hat; jedenfalls fällt mir kein plausibles Argument ein, das es rechtfertigen könnte, diese stattdessen auf Dritte – wie andere dringend Behandlungsbedürftige – abzuwälzen. Und natürlich ist das nicht befriedigend und konfrontiert uns schmerzhaft mit den moralischen Grundentscheidungen, denen wir uns verpflichtet fühlen. Aber es ist eben die Eigenart tragischer Situationen, dass sie sich nicht befriedigend auflösen lassen; sonst wären sie ja nicht tragisch. Sie umgekehrt um den Preis eines neuen Lockdowns für alle weit im Vorfeld zu vermeiden, verschöbe demgegenüber erneut die Lasten einseitig auf diejenigen, die für die gegenwärtige Situation nichts können und schon früher am meisten unter ihr gelitten haben: die Gastronomen und all die anderen, die mit 2G-Regeln das Ihre zur Entschärfung der Lage beizutragen versuchen, die Kultureinrichtungen, die gerade erst ihren Betrieb wiederaufgenommen haben, die Studierenden, die wieder daheim vor ihren Kacheln sitzen, zuletzt die Schüler, die man zum x-ten Mal in den Fernunterricht schickt und so weiter um ihre Bildungschancen bringt. Will man das?


SUGGESTED CITATION  Volkmann, Uwe: Lockdown für alle?, VerfBlog, 2021/11/15, https://verfassungsblog.de/lockdown-fur-alle/, DOI: 10.17176/20211115-201631-0.

20 Comments

  1. Kai Baumgartner Mon 15 Nov 2021 at 17:08 - Reply

    Die folgende Passage möchte ich gerne herausfordern. Die Aussage “hinreichend Geschützten” ist im gegebenen Kontext nicht haltbar, weil die aktuellen Gentherapien mit mRNA- und anderen Impfstoffe tatsächlich keinen umfassenden und langfristigen Schutz vor Ansteckung, Verbreitung und Krankheit darstellen (vgl. Impfdurchbruchquote nach zwei oder mehr Applikationen der Stoffe), allenfalls alle drei Merkmale in Qualität und Quantität abmindern:

    “Auch hier drängt sich allerdings unter Gesichtspunkten gerechter Lastenverteilung doch die Frage auf, mit welcher Rechtfertigung man nun die Geimpften für die Ungeimpften, also die hinreichend Geschützten für die aus eigenem Entschluss immer noch Ungeschützten in die Mithaftung nehmen will. “