„Ein Angriff auf die Verfassung”
Gesetze zur Terrorismusbekämpfung und Meinungsfreiheit in Indien
In einer kalten und verschneiten Januarnacht riegelte ein Armeekontingent ein Haus in einem verschlafenen Dorf in Kaschmir ab, dem nördlichsten Himalaya-Gebiet, das seit Jahrzehnten in einen Konflikt verwickelt ist. Das Haus gehörte Sajad Gul, einem örtlichen Journalisten. Nach einer Befragung durch die Uniformierten vor seinem Haus wurde er in einem Jeep weggebracht, um dann der Polizei übergeben zu werden. Gul, der für das in Srinagar ansässige Online-Nachrichtenmagazin The Kashmir Walla arbeitet, wurde nach dem Public Safety Act – einem Gesetz zur Präventivhaft, das nach Ansicht von Aktivisten in Jammu und Kaschmir häufig missbraucht wird – angeklagt, weil er mit seinen “Fake Tweets” Desinformationen über eine “Anti-Terror-Operation” verbreitet hatte. Die Polizei war der Ansicht, dass die Aktivitäten des Journalisten der Souveränität des Landes schadeten und dass sein Social-Media-Konto Informationen gegen die “nationalen Interessen” verbreitete. Die Familie des Reporters, seine Kollegen und Journalistenverbände bestreiten die Anschuldigungen und fordern seine Freilassung. “Mein Sohn schreibt die Wahrheit”, sagte Guls Mutter Gulshana Bano gegenüber einem Journalisten. Fahad Shah, Redakteur des The Kashmir Walla, sagte: “Sajad hat immer über das berichtet, was passiert ist – was die Menschen ihm erzählt haben. Jede Geschichte durchläuft einen Prozess der Überprüfung der Fakten und der Bearbeitung. Aber der Journalismus ist in Kaschmir kriminalisiert worden. Jetzt kann man für seine Berichterstattung unter dem Public Safety Act verhaftet werden. Das ist drakonisch und höchst verwerflich.“
Gul ist nicht der einzige Journalist aus der Region – oder gar aus ganz Indien –, der wegen seiner Arbeit verhaftet wurde. Eine wachsende Zahl von Journalisten und Aktivisten wurde auf der Grundlage verschiedener Rechtsvorschriften angeklagt. Asif Sultan, ein in Srinagar ansässiger Journalist, befindet sich seit August 2018 im Gefängnis, als er unter dem Vorwurf verhaftet wurde, “in Kontakt” mit der einheimischen Rebellengruppe Hizbul Mujahideen zu stehen und Militante in seinen Berichten “verherrlicht” zu haben. Sultan wurde unter dem Unlawful Activities (Prevention) Act verhaftet, einem berüchtigten Gesetz zur Terrorismusbekämpfung, das in ganz Indien gilt. Sein Arbeitgeber, seine Familie und die örtlichen Journalistengewerkschaften haben die Vorwürfe bestritten und Sultans Inhaftierung angefochten. Doch Sultan bleibt trotz weltweiter Forderungen nach seiner Freilassung hinter Gittern. Während seiner Inhaftierung wurde Sultan vom National Press Club in Washington D.C. mit dem John Aubuchon Press Freedom Award 2019 für seine Berichterstattung zur “Offenlegung der Wahrheit unter schwierigen Umständen” ausgezeichnet. Nach Ansicht der NPC-Mitglieder spiegelt der spektakuläre Fall von Sultan “die sich verschlechternden Bedingungen für die Presse und die Bürger in Kaschmir wider” und es sei “völlig inakzeptabel, dass Indien die grundlegenden Menschenrechte von Reportern verletzt und den Menschen in Kaschmir den Zugang zu ungefilterten Informationen durch eine ungehinderte Presse verwehrt.”
Was hier untersucht werden sollte, ist nicht nur die Verweigerung und Verletzung von Menschenrechten, sondern auch die Anwendung von Gesetzen zur Terrorismusbekämpfung in ganz Indien auf Journalisten, Aktivisten und Mitglieder der Zivilgesellschaft. Zahlreiche Petitionen wurden bei indischen Gerichten eingereicht, in denen Aktivisten argumentieren, dass die Anti-Terror-Gesetze als Mittel eingesetzt werden, um Andersdenkende mundtot zu machen. Im Dezember 2021 gab die indische Regierung im Parlament bekannt, dass zwischen 2018 und 2020 57 Prozent der nach dem Unlawful Activities (Prevention) Act verhafteten Personen unter 30 Jahre alt waren.
Ein spektakulärer Fall eines weiteren Journalisten, der mit Terrorvorwürfen konfrontiert ist, ist der von Siddique Kappan, der von der Polizei im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh verhaftet wurde, als er auf dem Weg nach Hathras war, einem kleinen Dorf, in dem ein junges Dalit-Mädchen vergewaltigt und ermordet worden sein soll. Die anhaltende Inhaftierung Kappans wurde von vielen als “Angriff auf die indische Verfassung” bezeichnet.
Britischer Kolonialismus, 9/11 und das Schreckensgespenst Terror
Der globale und regionale Terrorismus ist ein wichtiger Hintergrund für diesen zunehmenden Angriff auf die Verfassung. Eine Folge der Anschläge vom 11. September in den Vereinigten Staaten und des Anschlags auf das indische Parlament am 13. Dezember war die Stärkung des indischen Anti-Terror-Apparats. Neue Anti-Terror-Gesetze wie der Prevention of Terrorism Act (POTA) und der Unlawful Activities (Prevention) Act (UAPA) wurden dem bestehenden Arsenal an rechtlichen Bestimmungen hinzugefügt. Kritische Rechtswissenschaftler führen die Entstehung dieser Gesetze auf den britischen Kolonialismus zurück. Die Kolonialbehörden haben Gesetze wie den East India Company Act von 1784, die Defence of India Acts von 1915 und 1939, den Government of India Act von 1919, den Rowlatt Act von 1919 und den Bengal Criminal Law Amendment Act von 1925 in großem Umfang missbraucht, indem sie häufig gegen Führer des indischen Nationalismus vorgingen, um die “nationale Sicherheit” zu gewährleisten.
Der postkoloniale indische Staat hat dieses koloniale Überbleibsel durch den Erlass von Gesetzen wie dem Terrorist and Disruptive Activities (Prevention) Act von 1987 (TADA) weitergeführt, dessen Anwendung zusammen mit anderen Gesetzen zu dem führte, was C. Raj Kumar als “weit verbreitete Folter, willkürliche Inhaftierung und Schikanierung von meist unschuldigen Bürgern” bezeichnet. Gesetze zur Terrorismusbekämpfung wurden in Indien sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene erlassen. Während das indische Parlament nach und nach die Gesetze Armed Forces (Special Powers) Act, TADA, POTA und UAPA verabschiedet hat, haben die Regierungen der Bundesstaaten ihre eigenen Gesetze erlassen. Dazu gehören der J&K Public Safety Act, der Maharashtra Control of Organized Crime Act, der Karnataka Control of Organised Crime Act und der Chhattisgarh Vishesh Jan Suraksha Adhiniyam.
Der indische Staat hat seit langem erkannt, dass solche gesetzlichen Bestimmungen für die Sicherheit des Staates unerlässlich sind, aber die Anti-Terror-Gesetze haben sich insgesamt als drakonisch erwiesen, deren Missbrauch die Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten stark beeinträchtigt hat. Aufgrund des Vorherrschens militanter Kämpfe werden Kaschmir und Teile des Nordostens vom indischen Staat als potenzielle Bedrohung für die Souveränität des Landes eingestuft. Die linksgerichteten Maoisten- und Naxaliten-Bewegungen in Zentralindien, die Rebellion im Punjab und der so genannte “islamische Terrorismus mit internationalen Verbindungen” werden ebenfalls als wichtige sicherheitspolitische Verwerfungslinien angesehen. Infolgedessen hat der weit verbreitete Missbrauch der Gesetze zur Terrorismusbekämpfung zu massiven Menschenrechtsverletzungen geführt. Nach eigener Einschätzung der indischen Regierung hat das drakonische AFSPA in Jammu und Kaschmir zu den meisten Menschenrechtsverletzungen geführt, gefolgt von Assam, einem Staat im Nordosten des Landes.
„Ausnahmezustand“
Ich behaupte, dass diese komplexe Verflechtung von Sicherheit und Meinungsfreiheit in Indien eine ernsthafte Herausforderung für die demokratischen Ideale der Meinungsfreiheit darstellt. Heute werden in ganz Indien immer mehr Anschläge auf Journalisten und Aktivisten verübt. Insbesondere in konfliktreichen Regionen hat sich die Situation verschärft, denn dort werden Journalisten ermordet, mit dem Tode bedroht, inhaftiert und beschuldigt, mit Staatsfeinden zu konspirieren. Dieser Kreislauf der Unterdrückung macht die Schwachstellen von Indiens Randgebieten wie Kaschmir und dem Nordosten deutlich, deren Territorium in Streitigkeiten mit Nachbarländern wie Pakistan und China verwickelt ist. Die zunehmende Praxis, der Presse und den Foren der öffentlichen Debatte mit drakonischen Gesetzen einen Maulkorb zu verpassen, hat zu einer Kultur der Angst in der Zivilgesellschaft geführt, die sich unmittelbar auf die Qualität der Demokratie und der Meinungsfreiheit auswirkt.
An anderer Stelle habe ich gezeigt, wie lokale Journalisten in den Randgebieten Indiens als Reaktion auf den weit verbreiteten Missbrauch von Antiterrorgesetzen gegen Journalisten und Aktivisten häufig zur Selbstzensur greifen. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde, wie auch in Indien, immer deutlicher, dass sich demokratische Staaten hinter dem Deckmantel der Sicherheit und der Terrorismusbekämpfung verstecken, während sie die freie Meinungsäußerung stark einschränken.
Der Journalist Shujaat Bukhari, der am 14. Juni 2018 vor seinem Büro in Srinagar von Unbekannten ermordet wurde, stellte fest, dass die Gesetze zur Terrorismusbekämpfung vom indischen Staat systematisch zur Unterdrückung der Presse in Kaschmir eingesetzt wurden. In den 1990er Jahren wurden lokale Zeitungen und Journalisten unter dem Terrorist and Disruptive Act angeklagt, weil sie die lokale Bewegung “unterstützten”. Der indische Presserat stellte jedoch in seinem Bericht “Crisis and Credibility” aus dem Jahr 1991 fest, dass solche Anklagen und Anschuldigungen “völlig kontraproduktiv und falsch” seien.
Der fortgesetzte Gebrauch/Missbrauch von Gesetzen zur Terrorismusbekämpfung hält das aufrecht, was Giorgio Agamben einen “Ausnahmezustand” nennt. In diesem Ausnahmezustand werden die Bürger nicht nur ihrer bürgerlichen Freiheiten beraubt, indem ihre Rechte ausgesetzt werden, sondern sie werden auch aufgrund ihrer Differenzen mit der politischen Macht eliminiert. Der Grad an Freiheit, mit dem die Rechtsorgane bei der Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands über das Gesetz selbst hinausgehen, ist geradezu atemberaubend. Der Unlawful Activities (Prevention) Act und der Public Safety Act ermöglichen es der Regierung beispielsweise, Aktivisten, politische Führer und Journalisten ohne Gerichtsverfahren jahrelang zu inhaftieren.
Warum gerade Kaschmir als periphere Region eine komplexe Position in Bezug auf die Anwendung von Antiterrorgesetzen einnimmt, liegt allein an den Zahlen. Seit 2019 wurden in Jammu und Kaschmir mehr als 2300 Personen unter dem UAPA verhaftet, von denen 46 Prozent noch immer in Haft sind. Viele in Kaschmir glauben, dass die Anwendung des UAPA gegen Journalisten, Aktivisten und Internetnutzer eine kollektive Bestrafung und ein Weg ist, “Seelen zu kontrollieren.”
Neues Paradigma der Sicherheit
Agamben argumentiert, dass “eine beispiellose Verallgemeinerung des Sicherheitsparadigmas als normale Regierungstechnik” den Begriff des Ausnahmezustands verdrängt hat. In diesem Zusammenhang hat die Anwendung von Gesetzen zur Terrorismusbekämpfung durch den indischen Staat ein Stadium erreicht, in dem die Berufung auf Gesetze gegen Journalisten, Aktivisten und Bürger eine normale Technik zur Steuerung des Verhaltens der Bevölkerung zu sein scheint. Angesichts der Häufigkeit und Anzahl solcher Fälle scheint es, dass der Ausnahmezustand auch in Zukunft Bestand haben wird. Das Fortbestehen des Sicherheitsparadigmas in Indien kann von “internationalen Akteuren” kaum in Frage gestellt werden, wenn das Sicherheitsparadigma als Diskurs internationale Akteure und Nationalstaaten in eine einzige Form komplexer Machttransaktionen einbindet.
Bei diesem Text handelt es sich um eine Übersetzung des Beitrags, ‘An assault on the constitution‘ ,durch Felix Kröner.