Die dritte Zäsur in der bundesdeutschen Sicherheitspolitik
Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 eine sicherheitspolitische „Zeitenwende“ verkündete, lag die alarmierende Feststellung, dass wir uns in einer Weltordnung befinden, die „aus den Fugen geraten“ (Außenminister Steinmeier) sei, bereits ebenso lange zurück wie die russische Annexion der Krim und der Beginn der prorussischen Separationskämpfe im Osten der Ukraine. Wo die Fugen am lautesten quietschten, daran konnte seit 2014 kein Zweifel mehr bestehen. Ratifiziert wurde diese Zäsur der bereits zerbröselnden europäischen Sicherheitsordnung erst jetzt.
Die plötzliche Ankündigung eines „Sondervermögens“ für die, man muss schon sagen: nachholende Instandsetzung der Bundeswehr, und die dauerhafte Aufstockung des Verteidigungsetats (das „2-Prozent“-Ziel der Nato-Vereinbarungen von 2002) sollten als das verstanden werden, was sie sind – als ein Griff nach der Notbremse und nicht als eine „Rüstungsspirale“. Gleichwohl sollten „strategische Projekte“ der Beschaffung mit entsprechenden Laufzeiten im Zentrum der Maßnahmen stehen. Daher verbietet es sich, das Paket sogleich wieder aufzuschnüren und weitere – durchaus berechtigte – Anliegen darin unterzubringen (siehe hierzu: Das 100-Milliarden-Euro-Risiko der Bundeswehr).
Doch Geld allein wird nicht ausreichen. Und das nicht nur deshalb, weil das monströs aufgeblähte Beschaffungswesen, die bürokratische Planungspraxis, das umständliche Vergabeverfahren oder die unqualifizierte Vertragsgestaltung von Rüstungsaufträgen erst einmal beseitigt werden müssen, damit die frischen Milliarden nicht folgenlos versickern (beide Amtsvorgängerinnen von Christine Lambrecht waren daran gescheitert). Es geht um mehr. Der sicherheitspolitische Kurswechsel auf den De-facto-Primat der Bündnisverteidigung als der entscheidenden Form der Landesverteidigung (Art. 87a GG) bedeutet nicht weniger als eine dritte Zäsur in der bundesdeutschen Sicherheitspolitik.1)
Vom „Frontstaat“ zur Drehscheibe: Entwicklungsphasen deutscher Sicherheitspolitik
Als „Frontstaat“ des Westens kannte die Bonner Republik nur die Landes– als Bündnisverteidigung, dann rückte in den ersten dreißig Jahren der Berliner Republik die internationale Krisenbewältigung Schritt für Schritt in den Vordergrund. Schon diese beiden Phasen brachten gravierende Strukturveränderungen mit sich. Die Bonner Republik vermochte mit einem Arrangement aus Landesverteidigung, Wehrpflicht und Kriegsverhinderung durch Abschreckung (später durch das Doppel aus Verständigung und Abschreckung) eine integrationsstarke Klammer zu stiften, die Politik, Streitkräfte und Gesellschaft in einer gegebenenfalls existenziellen Risiko- und Schicksalsgemeinschaft zusammenführte. Diese Klammer öffnete sich in den ersten Jahrzehnten der Berliner Republik. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht, der Herausbildung einer „Einsatzarmee“ und ihrem politischen Auftrag, in „wars of choice“ die „Risiken auf Distanz zu halten“, bevor sie europäischen oder deutschen Boden tangieren konnten, war zugleich eingestanden, dass Gesellschaft und Streitkräfte weder die gleichen Risiken noch das gleiche Schicksal teilten. Der uniformierte Staatsbürger dieser Jahre war nicht mehr der „geborene Vaterlandsverteidiger“, als den ihn der Militärreformer Scharnhorst und die Gründer der Bundeswehr gesehen hatten. An seine Stelle trat ein professioneller Einsatzsoldat, der nicht (oder nicht primär) „Kollektivnotwehr“ leistete, sondern im staatlichen Auftrag – beispielsweise am Hindukusch – das fragile Gut einer „kollektiven Sicherheit“ generieren sollte. Seine Erfahrungswelt und die der Bürgerinnen und Bürger des Entsendelandes traten denkbar weit auseinander. Wenn die Streitkräfte in fernen Regionen scheiterten, tat dies der Stabilität der Republik keinen ernsthaften Abbruch. Mit dem desaströsen Ende des Afghanistan-Einsatzes und dem absehbaren Zurückfahren des Mali-Engagements kann diese Phase einstweilen als beendet gelten.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die derzeitige Wende zur Bündnis- als Landesverteidigung der Politik etwas anderes ist als die Rückkehr zum „Frontstaat“ des Kalten Krieges. Landesverteidigung findet nunmehr – als Abschreckung – nicht primär im Bundesgebiet statt, sondern hat sich an die Ostflanke der NATO verlagert. Damit hängt die Garantie deutscher territorialer und politischer Integrität und Sicherheit wesentlich von dem in Osteuropa zu leistenden Bündnisbeitrag ab. Unter den gegebenen Umständen verlangt diese Entwicklung der Gesellschaft und den Streitkräften jedoch mehr ab als den Abschied von der „Kultur der Zurückhaltung“ (eine „Strategie“ war diese niemals). Diese Zäsur berührt Mentalitäten wie Strukturen, Fähigkeiten wie Entscheidungsprozesse. Nun geht es nicht mehr um variable Militärkontingente, die nach monatelanger Vorbereitung in den Einsatz gehen, sondern benötigt werden ständig einsatzbereite, voll ausgestattete und transportfähige Truppenverbände. Ihre (bisher noch rotierende) Stationierung in den osteuropäischen Bündnisstaaten braucht kein Bundestagsmandat, sie ist eine verfassungsrechtlich und verteidigungspolitisch legitimierte Obligation gemäß Art. 24 II GG. Geografisch (aber nicht geopolitisch) zwar noch entfernt, aber unübersehbar kündigt sich in den Krisen und dem Krieg an der Nato-Ostflanke eine neuerliche gesellschaftliche Risikogemeinschaft an. In einer weithin unbekannten Broschüre mit dem Titel „Auftrag: Landes- und Bündnisverteidigung“ (Juni 2020) entwirft das Verteidigungsministerium ein ungeschminktes Lagebild: „Durch seine geografische Lage mitten im europäischen NATO-Gebiet ist Deutschland als Drehscheibe allliierter Truppenbewegungen und rückwärtiger Operationsraum potentielles Angriffsziel.“ Die kollektive Selbstverteidigung wirft ihre Schatten voraus. Sie kommt derzeit in der bitteren Frage zum Ausdruck, ob und wer bereit ist, wenn schon nicht für Kiew, so doch gegebenenfalls für Riga, Vilnius oder Tallinn sein Leben zu riskieren.2) Wie tragfähig die Solidarität der deutschen Gesellschaft mit den Staaten an der NATO-Ostflanke ist, muss sich freilich erst noch erweisen. Durch den Schock des russischen Aggressionskrieges hat sich die öffentliche Stimmung gedreht, doch bislang war die Bereitschaft zur militärischen Unterstützung der östlichen Bündnispartner eher gering ausgeprägt.3)
Herausforderungen einer sicherheitspolitischen Neuausrichtung
Diese Herausforderung geht über das Militärische hinaus. Die existenziellen wie sozialen Dimensionen zeitgenössischer Aggressionshandlungen sind vielschichtiger geworden und haben sich in einer „Grauzone“ (Elisabeth Braw) zwischen Krieg und Frieden eingerichtet. Aggression und Abwehr beschränken sich nicht auf Truppenstationierungen oder atomare Potentiale, sie sind in das gesellschaftliche Gewebe eingedrungen. Mit den schillernden Begriffen des „Cyber War“ oder der „hybriden Kriegführung“ ist eine Sozialisierung der Gefahr verbunden, die ganze Bevölkerungen, ethnische Minderheiten, sensible Infrastrukturen oder innerpolitische Prozeduren (wie Wahlkämpfe, Konfliktthemen) in ihren Bann ziehen kann. Den Herausforderungen der Corona-Pandemie oder der Klimapolitik vergleichbar weitet sich das Spektrum der Sicherheitsvorsorge um institutionelle und zivile Vorkehrungen und Ertüchtigungen (in Skandinavien „total defense“ genannt), die über die – ohnehin unzureichenden – Vorkehrungen für den Katastrophenschutz hinausgehen. Bevor man sich über eine Reaktivierung der Wehrpflicht echauffiert oder eine allgemeine Dienstpflicht oder ähnliches ins Spiel bringt, sollte diese Problemlage geprüft werden. Der Integrationsbedarf von innerer und äußerer Sicherheit ist seit langem Gegenstand der Debatten, jetzt aber werden neue Fragen an die bislang innenpolitisch ausgerichtete „wehrhafte Demokratie“ aufgeworfen.4)
Diese Veränderungen im verteidigungspolitischen Arrangement müssen nun erst einmal ausbuchstabiert werden. Aufschlussreich war, was in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers nicht angesprochen wurde. Die Klage über Krieg und Ordnungszerfall wurde zwar mit weitreichenden Willenserklärungen zur Vitalisierung der sicherheitsrelevanten Grundlagen versehen, ließ aber jegliche Perspektive über Zeit und Anlass hinaus vermissen. Der Elefant im Raum war die strategische Ausrichtung der deutschen und europäischen Politik. Weder war von einer „Europäischen Souveränität“ noch von dem Streben nach einer Wiederauflage der Europäischen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE, 1975) die Rede, die seinerzeit weitreichende normative und handlungspraktische Impulse gegeben hatte und knapp zwanzig Jahre später zu Rüstungskontrollregimen usw. führte. Unter dem Eindruck des andauernden Aggressionskrieges mag das zunächst illusorisch erscheinen, aber eine strategische Vision hätte dem akuten Krisenhandeln die notwendige Tiefendimension verliehen. Warum geschah das nicht?
Zur Notwendigkeit responsiver (Sicherheits-)Politik
Unter dem Handlungsdruck des Augenblicks war die Bundesregierung reflexartig beim gewohnten reaktiven Handlungsmuster (plus „Bazooka“) stehen geblieben, obwohl der Koalitionsvertrag gerade noch das Gegenteil verkündet hatte: Binnen Jahresfrist soll eine Nationale Sicherheitsstrategie vorgelegt werden. Dafür bleibt wenig Zeit (als Plädoyer für ein pragmatisches Vorgehen siehe Claudia Major/Christian Mölling). Wenn man das strategische Anliegen ernst nimmt und nicht allein als den improvisierten Ersatz eines Weißbuchs begreift, geht es dabei nicht allein um die Fixierung von Ambitionen, Schwerpunkten, Handlungspotentialen und das Ausfalten des dafür notwendigen „Instrumentenkastens“, sondern auch um einen ressortübergreifenden, öffentlichkeitswirksamen, international eingebetteten Prozess.5) „Im Idealfall“, schreibt Thomas Bagger, seinerzeit Leiter des Planungsstabes im Auswärtigen Amt (2011-17), „schafft er ein Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen der Politik, der bürokratischen und militärischen Apparate und der Öffentlichkeit.“6) Hinzu kommt noch die brennende Frage, wie Strategiefähigkeit verstetigt werden kann, denn das hatte bereits das Weissbuch 2016 „Zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ angemahnt. Und selbst das würde letztlich zu kurz greifen, wenn nicht das Kleingedruckte der sicherheitspolitischen Regierungspraxis (Bundessicherheitsrat; Geschäftsordnungen; Ressortprinzip u.a.m.), die strategische Kommunikation mit Parlament, Publikum und Communities (jährliche Präsentation von Strategie-Berichten im Bundestag) auf die Tagesordnung gesetzt werden würden.7) Dafür aber ist bereits jetzt die Zeit zu knapp.
Strategievorhaben leiden erfahrungsgemäß an einer Überfrachtung mit unterschiedlichsten Erwartungen. Die prozedurale Weisheit des „ReviewProzesses“ von 2014, in dem das Auswärtige Amt eine Bestandsaufnahme von Zielen, Instrumenten und Praktiken durchführte, hatte darin bestanden, diese Erwartungen zu sortieren, um daraus Schlussfolgerungen und Arbeitsvorhaben abzuleiten. Ähnlich war das Verteidigungsministerium vorgegangen, das die Erarbeitung des Weissbuchs 2016 in einen breiten fachöffentlichen Konsultationsprozess einbettete, der u.a. dazu führte, die Problematik sicherheitspolitischer Strategiebildung in einer Fachpublikation zu reflektieren.8) Ob man mit den Ergebnissen konform geht oder nicht, beide Beispiele dokumentieren ein Konzept responsiver Politik, das unter dem Vorzeichen der gegenwärtigen Zäsur in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach Fortsetzung verlangt.
Das Symposium des Verfassungsblogs kann nicht mehr, aber auch nicht weniger tun, als dieses dicke Brett normativ wie handlungspraktisch weiter zu bohren.
References
↑1 | Siehe Klaus Naumann, Eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Determinanten des Wandels in der deutschen Sicherheitspolitik seit 1990, in: Jochen Maurer/Martin Rink (Hrsg.), Einsatz ohne Krieg? Die Bundeswehr nach 1990 zwischen politischem Auftrag und militärischer Wirklichkeit. Göttingen 2021, S. 129-150. |
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↑2 | Zur derzeitigen Problematik einer überzeugenden Abschreckungsstrategie siehe Martin Zapfe, Deterrence from the ground up: Unterstandung NATO’s Enhanced Foreward Presence, in: Survival, 59, 3/2017, S. 147-160. |
↑3 | Siehe Timo Graf, Zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Wie steht es um die Bündnistreue in der Bevölkerung, in: Jahrbuch Innere Führung 2021/22. Berlin 2022, S. 129-155. |
↑4 | Ein neuer Impuls zu dieser Debatte siehe Helmut W. Ganser/Manfred Murck, Innere und äußere Sicherheit. Den Anspruch des „Comprehensive Approach“ einlösen. FES-Analyse: Berlin Juli 2019; zur Dienstpflicht-Diskussion siehe René Schulz, Allgemeiner Gesellschaftsdienst. SWP-Aktuell Nr. 57, Juni 2020 [(Allgemeiner Gesellschaftsdienst. Politischer Wille und gesellschaftliche Akzeptanz als ein Weg zum Erfolg (swp-berlin.org)] |
↑5 | Dafür gibt es bereits Beispiele: Der ReviewProzess „Außenpolitik Weiter Denken“ des Auswärtigen Amts 2014, das Folgeprojekt PeaceLab2016 zur Vorbereitung der Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ (September 2017), die fachöffentlichen Konsultationen im Vorfeld des Weissbuchs 2016 sowie die entsprechenden Diskussionsforen zum Weissbuch Multilateralismus der Bundesregierung „Gemeinsam für die Menschen“ (Auswärtiges Amt, Berlin Mai 2021). |
↑6 | Thomas Bagger, Strategiebildungsprozesse: Chancen und Grenzen, in: Daniel Jacobi/Gunther Hellmann (Hrsg.), Das Weissbuch 2016 und die Herausforderungen der Strategiebildung. Zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit. Wiesbaden 2019, S. 111-120, hier S. 118. |
↑7 | Zu Folgerungen aus dem Afghanistan-Einsatz für die politische Führung und Koordination siehe Klaus Naumann, Der blinde Spiegel. Deutschland im afghanischen Transformationskrieg. Hamburg 2013, Kap. III. |
↑8 | Siehe Anm. 10. |