Terror, Notfälle, drastische Bedingungen und demokratischer Konstitutionalismus
Verfassungen legen Regierungsbefugnisse fest, aber sie verleihen an sich keine Legitimität, und umso weniger bilden sie den Staatskörper, der allein Legitimität verleihen kann. Nichtsdestotrotz organisieren demokratische Verfassungen nicht nur den Regierungsapparat und definieren die Beziehungen der Teile des Apparats zueinander, sondern auch das Verhältnis der Regierung zu den von ihr regierten Individuen – und sie können die Beziehungen der Bürger zueinander verbessern oder korrumpieren. Verfassungen sind insofern demokratisch, als dass die Regierung letztlich und tatsächlich gegenüber dem Volk, das sie regiert, als Quelle der souveränen Legitimität verantwortlich und reagierend ist. Um es mit den Worten von Lincolns Gettysburg Address zu sagen: Es ist eine Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk. Es handelt sich insofern um eine freiheitlich-demokratische Verfassung, als dass sie den Einzelnen nicht nur in seiner Autorität respektiert, zu wählen, wer ihn regieren soll, sondern ihn als eigenständigen Akteur mit Ansprüchen und Interessen respektiert, die weder der Regierung im Allgemeinen noch den Interessen eines Einzelnen oder einer Gruppe Einzelner unrechtmäßig unterworfen werden dürfen. Dies ist mit dem notwendigerweise vagen Konzept der individuellen Souveränität gemeint, sogar als Element der Volkssouveränität. Viele moderne Verfassungen, vor allem in Westeuropa und Amerika, sind dieser Art.
Freiheitlich-demokratische Verfassungen verankern Respekt vor dem Individuum auf unterschiedliche Weise, aber einige Grenzen sind fest und fast universell gezogen. Die Todesstrafe für schwerste Verbrechen wird in vielen, aber nicht allen liberalen Demokratien – z.B. nicht in Japan oder den Vereinigten Staaten – als Überschreitung der äußersten Grenze dessen angesehen, was der Staat dem Einzelnen antun darf, um Sicherheit und Ordnung der Gesellschaft im Ganzen zu gewährleisten. Folter und Verstümmelung werden jedoch in wirklich liberalen Gesellschaften fast universell abgelehnt. Wenn allerdings eine Regierung, die ihre eigene, ordnungsgemäße Rolle als Vertreter der Gesellschaft verrät und Folter als Mittel einsetzt, selbst um die schwersten Bedrohungen gegen sich selbst und einzelne Personen zu untersuchen, vor ihnen zu schützen und diese zu bestrafen, stößt sie an eine absolute Grenze der Moral, des Anstands und der Achtung vor der Menschenwürde. Wir können darüber streiten, was genau als Folter gilt. Ist die Todesstrafe eine extreme Form der Verstümmelung? Sind lange Haftstrafen Folter, selbst unter humanen Bedingungen? Das sind zwar begriffliche Fragen, die sich jede vernünftige Gesellschaft stellen sollte, um die Grenzen legitimer staatlicher Macht zu ziehen, aber entscheidend ist, dass wir Folter grundsätzlich ablehnen.
Eingriffe in die Privatsphäre, vorübergehende Einschränkungen der Bewegungsfreiheit oder der Kommunikation aber können nicht solchen kategorischen Grenzen unterworfen werden. Denn diese Begriffe sind in ihrem Kern umstritten und unterliegen gewohnheitsrechtlichen oder gesetzlichen Regelungen. Dennoch sind sie nicht so unbestimmt, dass sie leere Zwänge wären. Ganz im Gegenteil: Weil sie je nach den Gepflogenheiten, der Geschichte und den sich verändernden Umständen eines Volkes variabel sind, ist es wichtig, dass ihre Konturen durch allgemeine Regeln im Voraus bekannt gegeben, präzisiert und gleichmäßig gehandhabt werden. Dies ist das Wesen der Grundwerte, die in der liberalen Demokratie unter dem Begriff Rechtsstaatlichkeit zusammengefasst werden. Diese verfassungsmäßigen Werte hängen wiederum vom Staatskörper ab, der sich der Achtung der Menschenwürde als Grundlage politischer Legitimität verpflichtet fühlt. Folter bedroht diese Verpflichtung.
Folter als Selbstzerstörung demokratischer Legitimität
In Because It Is Wrong: Torture, Privacy, and Presidential Power in the Age of Terror haben wir – Vater und Sohn als Co-Autoren, ein Juraprofessor und ein Philosophieprofessor – argumentiert, dass Folter selbst im Angesicht von Terror und schrecklichen Bedrohungen als absolutes Unrecht tabu bleiben muss. Wir sind bereit zuzugeben, dass es Fälle geben kann, in denen wir einen Fehltritt verzeihen können, wenn einzelne Akteure überwältigendem Druck und Trauma ausgesetzt sind. Allerdings ist Vergebung keine nachträgliche Bejahung. Was auf dem Spiel steht, ist die Achtung der Würde, ein grundlegender philosophischer Grundsatz der liberalen Demokratie und Verfassungsordnung, selbst, wenn sie von den schlimmsten aller Personen verkörpert wird. Denn Folter verletzt das Persönlichkeitsrecht auf das Äußerste, indem sie die Person vollständig auf einen Körper reduziert, der als Nebenprodukt schrecklicher Qualen manipuliert werden kann. Sogar zur Abwehr echter Bedrohungen wie Terror, die selbst über die Grenzen der Menschlichkeit hinausgehen, muss Folter den Regierungen verboten bleiben, denn eine Regierung, die Folter als Bestandteil ihrer Politik institutionalisiert, korrumpiert ihre eigene legitimierende Verfassungsmäßigkeit. Folter zu institutionalisieren, selbst im Geheimen, bedeutet, dass Behörden, Militär, Nachrichtendienste und sogar medizinische Einheiten sowie die für die Ausbildung zuständigen Stellen der Folter gewidmet werden. Ein solches Projekt bedeutet nicht nur die Abschaffung des philosophischen Grundsatzes der Achtung der Menschenwürde, sondern auch die Einführung eines gegenteiligen Grundsatzes, der Entwürdigung der Person, in das Gefühlsleben von Hunderten und später Tausenden von Regierungsbeamten – und diese Korruption wird dann auf alle anderen Bereiche des staatlichen, bürgerlichen und privaten Lebens ausstrahlen. Diese selbst herbeigeführte Korruption als fehlgeleitete Verteidigung gegen den Terror, die manche als Autoimmunerkrankung der Demokratien bezeichnet haben, wird letztlich die vorkonstitutionellen Prinzipien und die erlassenen Verfassungsnormen aushöhlen, die liberalen Demokratien Legitimation verleihen.
Aus diesem Grund haben wir auch argumentiert, dass die Bush-Regierung für ihr Folterregime nach den Anschlägen vom 11. September 2001 absolute Ablehnung verdient. Dies nicht nur, weil Folter gegen amerikanisches und internationales Recht verstößt, was sie in der Art und Weise, wie das Verhörregime unter der Bush-Regierung funktionierte, kategorisch tat, und nicht nur, weil Folter ein moralisches Übel ist. Es geht auch darum, dass Folter das Verhältnis zwischen Staat und Individuum korrumpiert, indem sie die Würde von Individuen untergräbt und Institutionen schafft, die eine grundlegende Missachtung von Personen im zivilen und privaten Leben verbreiten werden. Jede Regierung, die die Unversehrtheit von Personen negiert, das Recht auf Folter als verfassungsmäßig zulässig erklärt und ihre Beamten dazu erzieht, nach dieser Politik zu handeln, hat im Grunde die Grundlage für ihre eigene Legitimität beseitigt und wird dies auch weiterhin tun.
Folter als Vorbote der Tyrannei
Die jüngsten Ereignisse haben diese Befürchtung bestätigt. In unserem 2010 erschienenen Buch stritten Vater und Sohn darüber, ob Mitglieder der Bush-Regierung wegen Verstößen gegen die Foltergesetze strafrechtlich verfolgt und nicht nur angeprangert werden sollten. Der Vater war der Meinung, dass eine solche Strafverfolgung die verfassungsmäßige Demokratie destabilisieren würde, indem sie einen Kreislauf von Racheakten gegen scheidende Präsidenten in Gang setzen würde, der am Ende die drei Regierungsgewalten in den Augen der Bevölkerung delegitimieren und die Gesellschaft spalten würde. Der Sohn war der Meinung, dass ohne rechtliche Konsequenzen für eine solch ungeheuerliche Verletzung von Gesetzen und grundlegenden politischen Normen künftige Staatsoberhäupter nur ermutigt würden, ihre Befugnisse unter Missachtung der verfassungsmäßigen Ordnung und der Grundsätze der liberalen Demokratie zu erweitern.
Als Donald Trump zum ersten Mal für das Amt des Präsidenten kandidierte, erklärte er seinen Glauben an die Folter als wirksame Politik und seine Bereitschaft, sie als Symbol der Stärke einzusetzen. Seine Sprache, sein persönliches Verhalten und seine Einwanderungspolitik vermittelten die Auffassung, dass Brutalität Stärke bedeutet. Er hat Millionen von Anhängern inspiriert. Nach seiner Wahl stiegen Hassverbrechen und rassistische Angriffe sprunghaft an, wie etwa bei der “Unite the Right”-Kundgebung in Charlottesville, Virginia, wo Neonazis und gleichgesinnte Extremisten Schulter an Schulter marschierten und eine Gegendemonstrantin ihr Leben verlor. Der Angriff eines Trump-Mobs auf den Kongress am 6. Januar 2021, angestachelt durch Trumps Lügen von einer gestohlenen Wahl, sowie sein eigener Angriff auf die Verfassung durch den Versuch, die Wahlergebnisse an diesem Tag rückgängig zu machen, waren die krönenden Ereignisse von Trumps Amtszeit. In vier kurzen Jahren hat er, um seine eigene Macht als ein von verfassungsmäßigen und demokratischen Normen unabhängiger Führer zu konsolidieren, die Polarisierung des Landes so sehr verschärft, dass die Bänder, die den politischen Körper zusammenhalten, fast gerissen sind.
Das Versäumnis, das von der Bush-Regierung eingeführte Folterregime als kategorisch falsch zu benennen, sei es durch strafrechtliche Verfolgung oder andere Mittel, hat einen Präzedenzfall geschaffen. Die Achtung der Menschenwürde mag nicht länger ein Grundpfeiler der verfassungsmäßigen Legitimität und der staatlichen Autorität sein; stattdessen stellt Entmenschlichung und Gewalt politische Stärke und Solidarität dar. Wenn sich dieser Trend bis zu seinem logischen Ende fortsetzt, wird es den Angreifern des 11. Septembers gelungen sein, Terror sowohl als Kriegswaffe als auch als anhaltendes Trauma des Opfers zu benutzen – als Säure, um die legitimierenden Normen der klassischen liberalen Demokratie aufzulösen. In Ermangelung grundlegenden Respekts vor der Würde des Menschen gerät die verfassungsmäßige Regierung ins Abseits und muss sich auf eine andere Legitimation stützen, wie etwa den Ethno-Nationalismus, der heute in der ganzen Welt grassiert, am deutlichsten gegen die Ukraine. Allerdings wird diese alternative Legitimation verfassungsrechtlicher Strukturen nur die Rechtsstaatlichkeit untergraben und die Gewalt eines Führers verstärken, der in der Lage ist, seine Macht auf der Grundlage ethnisch-nationaler und nicht menschlicher Identität zu konsolidieren. Wenn uns der Einmarsch Putins in die Ukraine irgendetwas lehrt, dann ist es, wie gefährlich es ist, vor den zivilgesellschaftlichen, persönlichen und staatlichen Entwicklungen zu kapitulieren, die der Terror mit sich bringt – und dass es jetzt an der Zeit ist, standhaft zu bleiben und dieses Abgleiten in neue Formen des Autoritarismus abzulehnen, oder ihn mit einem direkteren Namen zu bezeichnen: Neofaschismus.
Bei diesem Text handelt es sich um eine Übersetzung des Beitrags „Terror, emergencies, drastic conditions and democratic constitutionalism“ durch Felix Kröner.