12 April 2022

Whatever It Takes

Energierecht im Gasembargo

In der Krise zeige sich der Charakter, heißt es, und soweit dies auf Menschen zutrifft, gilt es wohl nicht weniger für den Staat. In ruhigen Zeiten überlässt er viel (manche meinen: zu viel) dem freien Spiel der Kräfte. Doch man soll sich nicht täuschen: Für den Krisenfall stehen dem Staat einschneidende Mittel zu Gebote. Wie drastisch der Staat, kommt es hart auf hart, das öffentliche Leben einschränken kann, hat in den letzten beiden Jahren schon die Pandemie offengelegt. Nun zwingt der Angriffskrieg Russlands die Bundesrepublik ein weiteres Mal über sein Recht für den Krisenfall nachzudenken.

I. Herausforderung: Gasembargo

Ein paar Worte zu den Strukturen der Energiewirtschaft vorab: Viele sehen die Versorgung mit Strom und Gas bis heute als öffentliche Aufgabe an. Tatsächlich ist der Staat aber im Wesentlichen nur noch in Form kommunaler Beteiligungen und in Baden-Württemberg aktiver Teil der Energiewirtschaft. Entsprechend kauft auch nicht „Deutschland“ Kohle, Erdgas, Öl und Brennstäbe für Atomkraftwerke, sondern private Unternehmen, denen entweder von der Bundesregierung oder der Regierung Russlands der grenzüberschreitende Handel verboten werden kann.

Die deutsche Wirtschaft fürchtet diesen Fall.1) Die deutsche Öffentlichkeit dagegen spricht sich in deutlich höherem Maße für ein Embargo aus, wobei durchaus bezweifelt werden darf, ob jedem klar ist, was das bedeutet. Im Detail streiten über diese Konsequenzen zwar auch die Gelehrten, in diesem Fall die Volkswirte.2) In der Tendenz scheint es sich nach mehrheitlicher Meinung so zu verhalten, dass Strom und Öl – also in Gestalt von Benzin oder Diesel – schlicht teurer würden und „nur“ regional echte Versorgungsschwierigkeiten auftauchen. Bei Erdgas sieht es anders aus: Der deutsche Bedarf an Erdgas wäre ohne russischen Import Stand heute nicht zu decken. Hintergrund ist die Bezugsstruktur: Der deutsche Erdgasbedarf wird zu rund 90% aus dem Ausland gedeckt. 55% des Imports stammen aus Russland. 27% aus Norwegen, 21% aus den Niederlanden.

Problem an der Sache: Für Erdgas aus anderen Staaten fehlt bisher Infrastruktur. Aktuell ist Erdgas zum größten Teil nicht durch Strom substituierbar, weil das Gas zum einen zum Heizen verwandt wird und zum anderen als Rohstoff für industrielle Produkte. Beides ist – naturgemäß – alternativlos.

Damit gilt: Drehen Deutschland oder Russland den Gashahn zu, muss der Bedarf gedrosselt werden.

II. Regelungen für den Embargofall

Wie eingangs angesprochen trifft die Krise das deutsche Recht nicht unvorbereitet, es gibt ein ausgefeiltes Regelwerk für diesen Fall:

  • Auf europäischer Ebene existiert mit der SoS-VO3) eine Vorgabe für die Mitgliedstaaten, wie mit Notfällen in der Gasversorgung umzugehen ist.
  • 16 Abs. 1 und Abs. 2 Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) verpflichten und berechtigen die Fernleitungsbetreiber zu Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Gasversorgung. Dies umfasst auch Maßnahmen im Krisenfall. § 16a EnWG bestimmt dies auch für Gasverteilernetze. Aus § 53a EnWG ergibt sich eine Reihenfolge für diese Maßnahmen.
  • Das Energiesicherungsgesetz 1975 (EnSiG) berechtigt und verpflichtet staatliche Stellen, Notfälle festzustellen und Rechtsverordnungen nach § 1 EnSiG zu erlassen. Die Bundesregierung hat von dieser Verordnungsermächtigung in Form der Gassicherungsverordnung (GasSV) Gebrauch gemacht.
  • 8 Abs. 2 b) der SoS-VO gibt den Mitgliedstaaten auf, einen Notfallplan mit den Maßnahmen zur Beseitigung oder Eindämmung der Folgen einer Störung der Erdgasversorgung auszuarbeiten. Vorgaben für diesen Notfallplan enthält Art. 10 der SoS-VO. Dem ist die Bundesregierung mit dem deutschen Notfallplan Gas aus dem September 2019 nachgekommen.4)

Das Verhältnis der Regelungen zueinander wird als „ungeklärt“ beschrieben.5) Klar ist immerhin, dass sie sich an zunächst unterschiedliche Adressaten richten, also einerseits die Gasnetzbetreiber. Andererseits Bundesregierung, Bundesbehörden und Landesbehörden.

III. Der Ablauf im Embargofall

1. Feststellung des Notfalls

Art. 11 der SoS-VO ordnet an, dass der Notfall nicht einfach eintritt. Er wird vielmehr durch die zuständige Behörde ausgerufen. Diese Ausrufung ist nicht Voraussetzung des Erlasses von Rechtsverordnungen nach dem EnSiG, sie sind aber nach § 3 Abs. 3 EnSiG erst dann anwendbar, wenn die Gefährdung oder Störung der Energieversorgung durch die Bundesregierung festgestellt wurde.

In Art. 11 Abs. 1 SoS-VO sind drei Krisenstufen vorgesehen:

  • Die Frühwarnstufe greift, wenn konkrete Hinweise auf eine wahrscheinlich eintretende Verschlechterung der Gasversorgungslage vorliegen, also vor Eintreten eines Versorgungsengpasses. Die Frühwarnung wurde nun in Reaktion auf die russische Ankündigung, die laufenden Gaslieferverträge russischer mit ausländischen Kunden zu brechen und Bezahlung statt wie vereinbart nur noch in Rubel zu akzeptieren, am 30.03.2022 festgestellt.6) Die Frühwarnstufe dient insbesondere der Beobachtung und institutionalisierten Vorbereitung des Geschehens und ersten marktförmigen Maßnahmen.
  • Die Alarmstufe, die festgestellt wird, wenn die Gasversorgungslage sich erheblich verschlechtert hat. Hier geht es also nicht mehr um eine Prognose, sondern um eine bereits bestehende Unterversorgung, der allerdings noch durch marktbasierte Maßnahmen begegnet werden kann.
  • Erst wenn alle marktbasierten Maßnahmen versagen, folgt die letzte und äußerste Eskalation: Der Gasnotfall. In diesem Szenario wurden alle marktbasierten Maßnahmen ergriffen, aber das Gas reicht trotzdem nicht. Erst auf dieser Stufe dürfen ordnungsrechtliche Maßnahmen ergriffen werden.

Hier gilt also: Erst wenn alle Stricke reißen und die Machtmittel der Unternehmen erschöpft sind, tritt als deus ex machina der Staat selbst aus den Kulissen, um den drohenden Zusammenbruch abzuwenden.

2. Marktbezogene Maßnahmen

Was hat man sich nun unter „marktbezogenen Maßnahmen“ vorzustellen? § 16 Abs. 1 Nr. 2 EnWG benennt „insbesondere den Einsatz von Ausgleichsleistungen, vertragliche Regelungen über eine Abschaltung und den Einsatz von Speichern“. Präziser benennt der Notfallplan Gas die vorgesehenen Maßnahmen: Es werden Regelenergie beschafft, Lastflüsse optimiert, Einspeisungen zeitlich oder räumlich verlagert und dort, wo unterbrechbare Verträge bestehen, diese Option genutzt. Mit anderen Worten: Die Ein- und Ausspeisung von Erdgas ins Netz wird zunächst im vertraglichen Konsens verändert. Erst wenn diese Maßnahmen die Störung nicht beseitigen, gibt § 16 Abs. 2 EnWG den Fernleitungsbetreibern auf, Gaseinspeisungen, Gastransporte und Gasausspeisungen einseitig anzupassen oder die Anpassung zu verlangen.

3. Hoheitliche Maßnahmen

Erst wenn die Marktteilnehmer mit ihrem Latein am Ende sind, greifen hoheitliche Maßnahmen. Nun schlägt die Stunde des (nicht auf Gas beschränkten) EnSiG und der GasSV:

a. Hoheitliche Maßnahmen per Rechtsverordnung

Schon ein kurzer Blick in § 1 Abs. 1 EnSiG zeigt: In der Stunde der Not darf der Staat quasi alles. Er regelt per Rechtsverordnung nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 auf allen Wertschöpfungsstufen vom Gastransport über Verteilung, Abgabe, Bezug, Verwendung und auch die Preise. § 1 Abs. 1 Nr. 3 EnSiG gewährt ihm die Regelungsbefugnis auch für Infrastruktur und Produktionsmittel, und er darf – das steht in Abs. 2 – nicht nur die energetische Verwendung, also die Umwandlung in Wärme und Strom, sondern auch die nichtenergetische Verwendung regeln. Das ist für Gas besonders wichtig, denn Gas ist, siehe oben, auch ein wichtiger Rohstoff vor allem der chemischen Industrie.

Faktisch kann der Staat mit dieser Verordnungsermächtigung das gesamte Energierecht – und erhebliche Teile des Zivilrechts dazu – außer Kraft setzen, wie der Blick in die GasSV verdeutlicht. Um diese außerordentliche Macht einzuhegen, ist die Anwendbarkeit dieser Verordnungen – hier also der GasSV – mit Ausnahme von wenig einschneidenden Melde-, Buchführungs- und Nachweispflichten (vgl. § 3 Abs. 3 S. 2 EnSiG) unmittelbar aufzuheben bzw. nicht mehr anwendbar, sobald die Notlage nicht mehr besteht.

b. Hoheitliche Maßnahme per Einzelakt

Die Ausführung der gasbezogenen Rechtsverordnungen nach der EnSiG obliegt der BNetzA (§ 4 Abs. 1 bis 3 EnSiG), soweit keine Zuständigkeitszuweisung besteht, auch den Regulierungsbehörden der Länder. Damit ist die BNetzA „Lastverteiler“ im Sinne der GasSV.

Was der Lastverteiler nach der GasSV alles kann und darf, ist eindrucksvoll und schöpft die Verordnungsermächtigung des EnSiG voll aus: Die BNetzA kann Erzeugern, Händlern, Netzbetreibern und Verbrauchern praktisch alle erforderlichen Schritte aufgeben, um den Notfall entweder zu beseitigen oder doch wenigstens den lebenswichtigen Bedarf an Gas zu gewährleisten. Vertragliche Beziehungen sind dabei kein Hinderungsgrund: Die BNetzA kann Privaten aufgeben, Verträge zu ändern, neue abzuschließen oder die Verträge selbst per Verfügung schließen, § 1 Abs. 2 GasSV. In diesem Zusammenhang kommt sogar die Abschaltung ganzer Versorgungsbereiche nach § 1 Abs. 2 GasSV ins Spiel, wenn sich ansonsten der Netzzusammenbruch nicht vermeiden lässt.

Damit ist klar, weshalb die Industrie das Embargo besonders fürchtet: In diesem Fall entscheidet nicht mehr der Markt, also letztlich die Zahlungskräftigkeit, notfalls auf Kredit und mit staatlicher Unterstützung. Fehlen kurzfristig unsubstituierbar mehr als 50% der Gasimportmenge, ist absehbar, dass viele Industrieunternehmen abgeschaltet werden. Dass erst die Industrie mit Einschränkungen rechnen muss, ergibt sich aus § 53a EnWG und der SOS-VO: Hiernach gibt es geschützte und nicht geschützte Kunden. Geschützt sind Haushaltskunden, besonders wichtige Infrastruktur wie Polizei oder Krankenhäuser, aber auch Fernwärme erzeugende Heizkraftwerke, da sie unverzichtbar für die Wärmeversorgung von Haushalten sind. Da im Embargofall nicht § 53a S. 1. EnWG, sondern „nur“ § 53a S. 2 EnWG greift, also die „teilweise Unterbrechung“, besteht die Versorgungspflicht nicht absolut, sondern in den Grenzen der wirtschaftlichen Zumutbarkeit. Der Industrie nützt dies aber nichts. Denn Industrieunternehmen, auch wenn ihre volkswirtschaftliche Bedeutung noch so hoch ist, gehören dem geschützten Kundenkreis nicht an.

Immerhin: § 11 EnSiG gewährt Entschädigungen, aber nur, wenn Maßnahmen nach dem EnSiG die Schwelle zur Enteignung überschreiten.

IV. Wie nun weiter?

Deutschland wehrt sich in Brüssel mit Händen und Füßen gegen ein Gasembargo. Doch ob am Ende nicht doch die energierechtliche Notfallkaskade greifen muss, ist aktuell schwer abzusehen. Ebenfalls kaum prognostizierbar ist, wie sich das Krisenrecht in der gerichtlichen Auseinandersetzung bewährt. Wie klar sind die Tatbestandsmerkmale? Ist es wirklich schutzwürdiger, den privaten Verbrauch völlig unreguliert zu lassen, als Industrieprozesse zu versorgen, die nur mit immensen Folgekosten unterbrochen werden können? Reichen die Entschädigungsregeln?

Das Recht für den Energie-Krisenfall hat seine Bewährungsprobe, wenn Putin will, noch vor sich.

References

References
1 Pars pro toto: Der CEO Brudermüller der BASF warnte in der FAS am 04.04.2022 vor „beispiellosen wirtschaftlichen Schäden“, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/basf-chef-warnt-vor-gas-embargo-schaeden-fuer-deutsche-volkswirtschaft-17925528.html.
2 Der Direktor des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, warnt vor bis zu 4 Mio. Arbeitslosen; die „Bachmann-Studie“, die neben Rüdiger Bachmann von renommierten Mitautoren wie Andreas Peichl (IfO), Moritz Schularick (Bonn) und Benjamin Moll (LSE) verfasst wurde, zog gar den Unmut des Kanzlers auf sich, weil sie von beherrschbaren 0,5% – 3% Einbruch der Wirtschaftsleistung ausgeht.
3 Verordnung (EU) 2017/1938 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2017 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung und zur Aufhebung der Verordnung (EU) Nr. 994/2010 (SoS-VO).
4 Notfallplan Gas für die Bundesrepublik Deutschland, abrufbar hier (11.04.2022).
5 Britz/Hellermann/Hermes/Bourwieg EnWG § 53a Rn. 4.
6 Pressestatement des Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck vom 30.03.2022, abrufbar unter https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Videos/2022/20220330-pressestatement-habeck/20220330-pressestatement-habeck.html.

SUGGESTED CITATION  Vollmer, Miriam: Whatever It Takes: Energierecht im Gasembargo , VerfBlog, 2022/4/12, https://verfassungsblog.de/whatever-it-takes-2/, DOI: 10.17176/20220412-182347-0.

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