Die sicherheitspolitische Wende im Energierecht
Es ist nicht ohne eine gewisse Ironie der Geschichte, dass 50 Jahre nach der „Neuen Ostpolitik“ wieder ein sozialdemokratischer Kanzler eine neue Ostpolitik entwerfen muss. Denn der völkerrechtswidrige und menschenverachtende – und, wie die neuesten schockierenden Nachrichten aus der Ukraine zeigen, kriegsverbrecherische – Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine hat die Koordinaten der Sicherheitspolitik grundlegend verschoben. Die Ausmaße dieser Verschiebung lassen sich erst langsam erkennen. Dennoch werden bereits erste Umrisse einer neuen Ordnung erkennbar.
Neben der grundlegenden Neuausrichtung der Verteidigungspolitik, die von anderen Beiträgen dieser Debatte thematisiert wurde, rückt dabei die Energiepolitik in den Fokus und erhält eine zentrale strategische Bedeutung: In der Schlusserklärung des Gipfels von Versailles am 11. März 2022 haben sich die teilnehmenden Staats- und Regierungschefs – neben einem Aufruf zur Steigerung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten – darauf geeinigt, die Abhängigkeit von der Einfuhr von Gas, Öl und Kohle aus Russland so bald wie möglich zu beenden. Bei der Tagung des Europäischen Rates wurde die Kommission aufgefordert, bis Ende Mai 2022 einen entsprechenden Plan vorzulegen. Darüber hinaus haben die Europäische Union und die Vereinigten Staaten eine Energiepartnerschaft geschlossen, um Energielieferungen aus Russland kurz- und mittelfristig durch Lieferungen von verflüssigtem Erdgas (Liquified Natural Gas, LNG) substituieren zu können. Die täglichen Pressemeldungen und die steigende Unsicherheit, ob Russland seine Gaslieferungen kurzfristig stoppen wird, steigern den Handlungsdruck.
Diese sicherheitspolitisch wichtigen Aspekte sind mit in den Blick zu nehmen, wenn eine neue Sicherheitsstrategie nach der Zeitenwende definiert werden soll. Denn – wie sich in der aktuellen Krise gezeigt hat – eine neue Energiepolitik muss zwingend sicherheitspolitische Implikationen mitberücksichtigen.
Der lange Schatten des deutschen Sonderwegs in der Energiepolitik
Deutschland ist von der energiepolitischen Zeitenwende besonders betroffen, da Deutschland weiterhin im hohen Maße von den russischen Energielieferungen abhängig ist. Timothy Garton Ash1) und Helen Thompson2) haben jüngst noch einmal auf die historische Dimension der deutschen Abhängigkeit von russischen Energielieferungen hingewiesen. Sie hatte ihren Ursprung letztlich in der „Neuen Ostpolitik“ der sozial-liberalen Koalition der 1970er Jahre und wurde seitdem von sämtlichen Bundesregierungen – gleich welcher Couleur – stetig gesteigert. Dies mag erklären, dass Deutschland bis zum Vorabend des russischen Angriffs gegen die Ukraine an einer Realisierung der Nord Stream 2 Pipeline festgehalten hat, obwohl sicherheitsstrategische Analysen bereits seit Jahren, insbesondere seit 2014, davor gewarnt haben, dass dies zu einer weiteren Steigerung der Abhängigkeit Deutschlands von russischen Gaslieferungen führe. Allerdings hat dies in Deutschland zu gegenteiligen Reaktionen geführt: Trotz der Verhängung von Sanktionen gegen Russland wurde bis zuletzt versucht, das Projekt zu retten. Auch der Bau von LNG-Importterminals in Stade und Brunsbüttel wurde trotz langjähriger Planungen nicht realisiert.
Erste sicherheitspolitische Schritte der Bundesregierung im Energierecht
Nun sieht sich die Bundesregierung genötigt, innerhalb kürzester Zeit eine sicherheitspolitische Wende der Energiepolitik einzuleiten. Der grüne Energiewendeminister tritt notgedrungen bereits als Chefeinkäufer für fossile Energien am Golf auf. Die deutsche Tochtergesellschaft von Gazprom Germania GmbH ist in einem präzendenzlosen Akt nach dem Außenwirtschaftsgesetz (AWG) unter Treuhandverwaltung der Bundesnetzagentur gestellt worden (s. dazu bereits die Beiträge von CHRISTOPH LUDWIG sowie von CHRISTIAN TIETJE, TIM BORRMANN und DARIUS RUFF). Auch zwei zentrale Konsenspunkte von zumindest zwei der drei Ampelpartner, der beschleunigte Ausstieg aus der Kohleenergie und die Außerbetriebnahme der letzten Kernkraftwerke, stehen zur Disposition.
Ferner ist der Bundestag auch gesetzgeberisch tätig geworden: In einem Eilverfahren hat er am 23. März 2022 das Gesetz zur Einführung von Füllstandvorgaben für Gasspeicheranlagen beschlossen. Danach müssen Gasspeicher in Deutschland zum 1. Oktober eines jeden Jahres zu 80 %, am 1. November zu 90 % und am 1. Februar zu 40 % mit Gas gefüllt sein. Es handelt sich dabei um die ersten Regeln zur Zwangsbevorratung von Energieerzeugnissen, seitdem 1966 (mit späteren Änderungen) umfangreiche Bevorratungspflichten für Erdölerzeugnisse eingeführt wurden.
Gleichzeitig wandelt sich der Charakter der erneuerbaren Energien von einem reinen Instrument zur Bekämpfung des Klimawandels hin zu einem Bestandteil der Sicherheitspolitik. Bereits wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hat die Bundesregierung die Entwürfe des Erneuerbare-Energien-Gesetzes und des Windenergie-auf-See-Gesetzes veröffentlicht, die in der vergangenen Woche vom Bundeskabinett beschlossen worden sind. Diese Gesetzesentwürfe sehen vor, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht mehr nur im öffentlichen Interesse steht, sondern der öffentlichen Sicherheit dienen soll. Die Sicherheit der Energieversorgung wird in den Gesetzentwürfen letztlich mit der Existenz des Staates verknüpft. Denn von einer sicheren Energieversorgung hängen, wie in den Gesetzentwürfen ausgeführt wird, nicht nur das Funktionieren der Wirtschaft, sondern auch das Funktionieren der staatlichen Einrichtungen und das Überleben der Bevölkerung ab. Ohne den Ausbau der erneuerbaren Energien kann dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) zufolge die Versorgung mit Strom nicht dauerhaft gesichert werden. Daher sollen nun mit dem Verweis auf die öffentliche Sicherheit Planverfahren für erneuerbare Energievorhaben beschleunigt und Klagemöglichkeiten reduziert werden. Auf diese Weise soll das Ausbauziel erreicht werden, bis zum Jahr 2030 insgesamt 80 % des Bruttostromverbrauchs aus erneuerbaren Energien zu beziehen.
Wandel des Sicherheitsbegriffs im Energierecht notwendig
Dies sind zwar nur erste Schritte, aber sie deuten auf einen tiefergreifenden Wandel hin, der in der Wahrnehmung der Energiepolitik und mit ihr des Energierechts notwendig ist. Bislang wurde der Begriff der Energiesicherheit vornehmlich auf die Aspekte der Versorgungssicherheit und der Bezahlbarkeit der Energieversorgung reduziert. In den vergangenen Jahren ist der Klima- und Umweltschutz als weiterer Aspekt hinzugetreten. Allerdings wurde die sicherheitspolitische Dimension der Energieversorgung dabei unterschätzt. Anders lässt es sich nicht erklären, dass Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten entschieden hat, mit der Kernenergie und der Kohleverstromung aus gleich zwei grundlastfähigen Energieformen auszusteigen und sich dabei in immer stärkerem Maße einseitig von russischen Gaslieferungen abhängig zu machen, ohne die sicherheitspolitischen Implikationen in ausreichendem Maße zu berücksichtigen.
Neben der sicherheitsstrategischen Aufladung des deutlich beschleunigten Ausbaus der erneuerbaren Energien ist auch für die auf absehbare Zeit weiterhin notwendige Versorgung mit konventionellen Energien eine sicherheitspolitische Neuausrichtung notwendig. Dafür sind sicherheitspolitische Aspekte stärker als bisher im Energierecht zu verankern. Bei energierechtlichen Maßnahmen, sei es beispielsweise beim Ausbau der Energienetze, bei der Regulierung von Energiespeichern oder bei der Entgeltregulierung, ist der sicherheitspolitische Aspekt dieser Maßnahmen stärker als bislang zu berücksichtigen, ohne dabei den freien Wettbewerb und die marktwirtschaftliche Freiheit der Akteure aus dem Auge zu verlieren.
Die sicherheitspolitische Wende in der europäischen Energiepolitik
Anders als Deutschland hat die Europäische Union bereits seit knapp 20 Jahren die sicherheitspolitische Komponente der europäischen Energieversorgung berücksichtigt. Treiber waren dabei in erster Linie die neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten, die bereits nach ihrem Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 2004 mit deutlich höheren Gaspreisen von Russland konfrontiert wurden. Auch die russisch-ukrainischen Gaskrisen von 2006 und 2009 waren ein wichtiger Impuls für die Entwicklung eines europäischen Energiebinnenmarkts.
Als Reaktion auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim im Jahr 2014 hatte die Europäische Union mit der Einführung der Energieunion die sicherheitspolitische Dimension zu einem Kernbestandteil der europäischen Energiepolitik bestimmt. Daher existieren auf der europäischen Ebene bereits zahlreiche Maßnahmen, die diesem Ziel verpflichtet sind. Neben den Bevorratungspflichten für Erdöl umfassen diese Sicherungsmaßnahmen für Gasversorgungsleitungen, um durch Umleitung der Gasflüsse im Notfall die Mitgliedstaaten auch unionsintern versorgen zu können. Ferner wurden zur Gewährleistung der sicheren Erdgasversorgung konkrete Verhaltensregeln angeordnet, die insbesondere die Mitgliedstaaten zur Erstellung von Präventions- und Notfallplänen verpflichten. Deren erste Stufe, die Frühwarnstufe des Notfallplan Gas, hat der Bundeswirtschaftsminister am 30. März 2022 ausgerufen und ein „Krisenteam Gas“ aktiviert.
Die sicherheitspolitische Wende der europäischen Energiepolitik konzentriert sich allerdings nicht allein auf den Binnenmarkt, sondern nimmt auch die Außenbeziehungen mit in den Blick. Die Kommission hat die Energiepolitik mit ihrer Außenhandelspolitik verknüpft, um den Zugang zu Energieressourcen und zu ausländischen Märkten für Technologien und Dienstleistungen zu verbessern. In den vergangenen Jahren wurde so eine engere Kooperation der Mitgliedstaaten bei der Gasbeschaffung erreicht. Dies ermöglichte nun überhaupt erst den raschen Abschluss der Energiepartnerschaft mit den Vereinigten Staaten.
Absicherung von Investitionen als sicherheitspolitische Notwendigkeit
Neben dem Abschluss neuer Energielieferverträge sind kurzfristig erhebliche Investitionen in die Transformation der europäischen Energieinfrastruktur notwendig, insbesondere um den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen und eine neue Infrastruktur für den Import von Flüssiggas zu schaffen. Für diese Investition ist aber ein stabiler Investitionsrahmen notwendig. Ein wichtiges Instrument für die Absicherung dieser Investitionen einerseits und Grundlage für eine energiepolitische Kooperation andererseits ist der Vertrag über die Energiecharta, der die Energiekooperation fördert und umfassende Garantien für Investitionen in die Energieinfrastruktur garantiert.
Gegenwärtig ist der Vertrag über die Energiecharta Gegenstand einer Debatte über dessen Modernisierung . So sollen zukünftig etwa nur noch Investitionen in erneuerbare Energien geschützt werden. Auch wird gefordert, den Investitionsschutz und den Zugang zu neutralen Schiedsgerichten einzuschränken. Gerade die sicherheitspolitische Wende des Energierechts zeigt aber, dass der Vertrag über die Energiecharta als multilaterales Instrument nicht nur für die Absicherung von Investitionen in erneuerbare Energien, sondern auch für die konventionellen Energieformen weiterhin eine zentrale Rolle spielen sollte und daher zur strategischen Absicherung von Energieimporten notwendig bleibt.
Weitergehende Stärkung der transatlantischen Zusammenarbeit notwendig
Neben diesem sektoralen Investitionsschutz im Energiebereich ist außerdem eine Stärkung der Handelsbeziehungen notwendig. Vor dem Hintergrund der Sanktionen, die in einem zuvor niemals realisierten Umfang gegenüber der Russischen Föderation verhängt worden sind, gewinnt eine ausgleichende Stärkung des transatlantischen Handels strategisch an Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht hat jüngst die verfassungsrechtlichen Zweifel an der vorläufigen Anwendung des Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) zwischen Kanada und der EU zurückgewiesen. Bereits im Jahr 2019 hatte der EuGH das geplante System der Investitionsgerichtsbarkeit (Investitionsgerichtshof mit Rechtsbehelfsinstanz), das bereits Gegenstand einer intensiven Debatte auf dem Verfassungsblog war, für vereinbar mit dem EU-Recht erklärt. Daher sollte von einer raschen Ratifizierung von CETA ein starkes Signal transatlantischer Geschlossenheit ausgehen. Auch einer Wiederbelebung der Verhandlungen zum Abschluss eines transatlantischen Freihandelsabkommens (TTIP) mit den USA, für das CETA nun als verfassungs- und EU-rechtskonforme Blaupause dienen könnte, erscheint gegenwärtig nicht ausgeschlossen. Auf diese Weise könnte die Energiepartnerschaft mit den USA auf eine breitere Basis gestellt und durch eine umfassende gegenseitige Handelspolitik gestärkt werden.
Nationale Verteidigungsstrategie muss neue strategische Ausrichtung der Energiepolitik mit in den Blick nehmen
Wenn die Bundesregierung eine „nationale Verteidigungsstrategie“ erarbeitet, sollte sie die volle Bandbreite dieser strategischen Aspekte mit in den Blick nehmen. Robert Blackwill und Jennifer Harris haben die strategische Bedeutung wirtschaftspolitischer und insbesondere energiepolitischer Maßnahmen bereits als „war by other means“ beschrieben.3) Eine Neubeschreibung der Sicherheitspolitik darf daher nicht einseitig bei der Auswahl neuer Waffensysteme stehen bleiben. Vielmehr steht die Bundesregierung vor der Aufgabe, auch ihre Energiepolitik im Einklang mit der europäischen Energiepolitik neu an der veränderten strategischen Lage auszurichten.
Dieser Beitrag gibt die persönliche Auffassung des Autors wieder.