Verhältnismäßig politisch
Mit Urteil vom 15. Juni 2022 hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts festgestellt, dass die Äußerungen der Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sie im Rahmen einer Südafrikareise anlässlich der Wahl Thomas Kemmerichs zum Ministerpräsidenten in Thüringen tätigte, sowie deren anschließende Veröffentlichung auf der Webseite des Bundeskanzleramts gegen die Chancengleichheit der politischen Parteien verstoßen. In der Entscheidung nimmt der Senat nicht nur eine administrative Perspektive auf Regierungshandeln ein, sondern weitet seine Anwendung von Verhältnismäßigkeitsmaßstäben auf staatsorganisationsrechtliche Konstellationen weiter aus. Er entfernt sich damit weiter von einer Berücksichtigung der politischen Dimension des Regierungshandelns.
Fabian Michl sieht in seiner Besprechung in der Entscheidung zu Recht eine Fortsetzung der bisherigen Rechtsprechungslinie, die Äußerungen der Regierung wie eine administrative Tätigkeit behandelt. Diese Prämissenkritik greift Astrid Wallrabenstein in ihrem Sondervotum auf. Dass diese Ausrichtung Teil eines längeren Trends ist, hat Florian Meinel in einem Aufsatz von 2021 für die äußerungsrechtliche Rechtsprechung des Gerichts sowie für andere Bereiche seiner Rechtsprechung besprochen (vgl. Meinel, S. 61 ff., 79 ff.). Die jüngste Entscheidung des Gerichts ist aber darüber hinaus Teil einer Maßstabsentwicklung mit dem Potenzial, diesen Prozess noch zu verstärken.
Unter der Hand ein neuer Maßstab
Auf den ersten Blick scheint die Entscheidung mit Blick auf die Entscheidungsmaßstäbe wenig Neuerungen zu bieten. Jedoch entwickelt der zweite Senat in Randnummer 92 den Maßstab für die Rechtfertigung von Regierungsäußerungen fort. In Anlehnung an die Rechtsprechung zur Wahlrechtsgleichheit entwickelt das Gericht das Erfordernis eines besonderen Grundes, der „durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht [ist], das dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Waage halten kann“ (Rn. 92).
Fast unscheinbar findet sich im Rahmen des Prüfungsmaßstabs für die Äußerungsrechte der Kanzlerin der Satz: „Dabei ist jedenfalls den Grundsätzen der Geeignetheit und Erforderlichkeit zur Erreichung der verfassungsrechtlich legitimierten Zwecke Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 135, 259 <287 Rn. 53>)“ (Rn. 92).
Darin liegt nichts anderes als die Etablierung von Verhältnismäßigkeitskategorien für die Überprüfung eben jener politischen Äußerungen der Trägerin eines politischen Amtes. Dass hier nicht der Schlusspunkt der Entwicklung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung für das Äußerungsrecht liegt, muss befürchten, wer dem kleinen Wörtchen „jedenfalls“ Beachtung schenkt. Das Gericht präsentiert in seiner unvergleichlichen Art Neuerungen als Althergebrachtes. Doch es lohnt der Blick in die zitierte Entscheidung. Es handelt sich um eine Entscheidung des zweiten Senats von 2014 u.a. über das durch die NPD angestrengte Organstreitverfahren zur Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl. In der angeführten Randnummer 53 beschäftigt sich das Gericht mit dem Rechtfertigungsmaßstab für eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit der Parteien durch den infrage stehenden § 2 Abs. 7 EuWG. In Randnummer 52 der Entscheidung nimmt das Gericht insofern eine Gleichsetzung der Maßstäbe zur Einschränkung von Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der Parteien vor. Bemerkenswert ist aber, dass die Entscheidung in Randnummer 53 den Maßstab eines „besonderen, sachlich legitimierten, in der Vergangenheit als zwingend bezeichneten Grundes“ aus der Rechtsprechung zur Wahlrechtsgleichheit auf den neuen Sachverhalt überträgt. Das Erfordernis wird nunmehr zum Maßstab auch für die Rechtfertigung von Eingriffen in die Chancengleichheit der Parteien. Von Geeignetheit und Erforderlichkeit, oder gar Verhältnismäßigkeit, fehlt jede Spur. Diese Maßstäbe finden sich aber auch im Entscheidungsdokument von 2014 wieder, wenn auch an anderer Stelle: im Sondervotum des BVR Peter Müller. In Randnummer 6 jenes Sondervotums heißt es:
„Es kann daher einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl nur feststellen, wenn eine differenzierende Regelung an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts nicht verfolgen darf oder wenn die Regelung zur Erreichung dieses Ziels nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung des Ziels Erforderlichen überschreitet“.
Schon in diesem Vorschlag lag die Übertragung des dem Verwaltungsrecht entlehnten Prüfungsmaßstabs der Verhältnismäßigkeit auf politisch geprägte Sachverhalte. Dabei stützt sich Müller auf eine im Rahmen von Wahlprüfungsbeschwerden entwickelte (BVerfGE 129, 300 (320 Rn. 150), m.W.n.), durch Müller in der Entscheidung über eine abstrakte Normenkontrolle rezipierte, lange Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 131, 316 (339, Rn. 63)). Die Übertragung durch Müller erfolgte aber (in Abgrenzung zur in Bezug genommenen Entscheidung) im Rahmen des spezifischen Zusammenfallens von Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien.
Verhältnismäßigkeit ohne Ziel
Übertragbar auf Äußerungsrechte von Regierungsmitgliedern erscheint diese Logik nicht ohne Weiteres. Der eingeführte Maßstab der Verhältnismäßigkeit ist in seiner Anwendung abhängig von vorab eingeführten (verfassungsrechtlichen) Zielen. Darin zeigt sich seine im Kern administrative Perspektive. Geeignetheit, Erforderlichkeit und auch Angemessenheit werden maßgeblich bestimmt durch das zuvor zu definierende Ziel (bzw. den Zweck) der Maßnahme. Eine Überprüfung entlang dieser Schritte setzt solche Ziele voraus. Während bei wohlwollender Lesart 2014 mit der Funktionsfähigkeit des Parlaments noch ein der Relationierung zugängliches Ziel der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien gegenüberstand, entbehrt die jetzige Konstellation schon einer solchen Zielvorstellung. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass der Zweite Senat sich sichtlich schwer zu tun schien, ein solches Ziel herauszuarbeiten. Vermeintlich wird er schließlich fündig in der „Handlungsfähigkeit der Bundesregierung“ (Rn. 94 ff.), der „Erhaltung des Ansehens und Vertrauens in die Bundesrepublik Deutschland“ (Rn. 104 ff.) sowie der „Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit“ (vgl. Rn. 110 ff.).
Verkannt wird dabei die spezifische politische Tätigkeit der Bundeskanzlerin, der ihre Äußerung zugeordnet werden kann. Sie verfolgt auch in ihrer Amtsführung politische Zielsetzungen. Das ist in ihrer Verantwortlichkeit gegenüber dem und Legitimation durch das Parlament im parlamentarischen Regierungssystem angelegt. Sie nimmt daher am politischen Willensbildungsprozess auch in Wahrnehmung ihres Amtes teil. Diese Teilnahme am politischen Willensbildungsprozess kann gerade nicht als Vollzug einer verfassungsrechtlichen Zielvorgabe dargestellt werden. Es ist vor diesem Hintergrund dann auch nicht weiter verwunderlich, dass das Gericht, schließlich die Maßnahme am aufgestellten Maßstab scheitern lassen muss (vgl. Rn. 154 ff.). Die von vorneherein inadäquate Zweckbestimmung kann den Anforderungen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht gerecht werden.
Der politische Charakter des Regierungshandelns ist über die Ausrichtung an verfassungsrechtlichen Zielen nicht erfassbar und daher durch einen entsprechenden Prüfungsmaßstab nicht zu verarbeiten. Das wird schon darin deutlich, dass die Mehrheitsmeinung die Tätigkeit der Kanzlerin und deren Ziele über ihre „Aufgabe“ zu klassifizieren versucht (vgl. Rn. 100, 108, 110). Wahrnehmung politischer Regierungstätigkeit kann sich aber gerade nicht in der Erfüllung von Aufgaben erschöpfen. Daher erscheint es auch nicht möglich, die Wahrnehmung der parlamentarischen Verantwortlichkeit von der Teilnahme am politischen Wettbewerb zu lösen (so aber Rn. 79). Diese parlamentarische Verantwortlichkeit besteht gerade gegenüber der Regierungsmehrheit und verlangt eine Teilnahme am politischen Meinungskampf mit den (parlamentarischen) Minderheitspositionen (vgl. Meinel, S. 57). Oder wie es Astrid Wallrabenstein (hinsichtlich der Selbstdarstellung) so treffend formuliert:
„Die Selbstdarstellung der Regierung ist etwas anderes als die sachbezogene Öffentlichkeitsarbeit, etwa die Aufklärung über Gesundheitsrisiken, Sozialleistungen und Verbraucherrechte oder auch über demokratiefeindliche Bestrebungen. Diese ist, auch wenn sie von einer Ministerin oder einem Minister ausgeübt wird, eine spezifische Form der Verwaltungstätigkeit und unterliegt – dementsprechend justiziablen – Vorgaben wie Richtigkeit, Sachlichkeit und Zurückhaltung“ (Rn. 11, Sondervotum).
Und weiter:
„Regierungsarbeit ist politisch und in einer Parteiendemokratie parteipolitisch geprägt. Eine neutrale, womöglich expertokratische, Regierung ist für eine Parteiendemokratie ein Krisenphänomen“ (Rn. 14 Sondervotum).
Methodische Politikfreiheit
Man mag dem Gericht insoweit zynisch schon fast Folgerichtigkeit attestieren, wenn es in Konsequenz seiner fehlerhaften Perspektive auf politisches Regierungshandeln nun auch den ursprünglich aus dem Verwaltungsrecht entlehnten Maßstab der Verhältnismäßigkeit (in Teilen) auf die äußerungsrechtliche Rechtsprechung überträgt. Es verbindet damit den Trend, eine administrative Perspektive auf verfassungsrechtliche Fragestellungen einzunehmen mit einem methodischen Trend, Verhältnismäßigkeitsprüfungen auf das Handeln politischer Organe anzuwenden (vgl. dazu etwa BVerfGE 130, 318 (350 Rn. 119); 131, 230 (235 Rn. 13); 137, 185 (242 Rn. 151 f.)).
Erstaunlich bleibt dabei nicht zuletzt auch der sonderbare Verweis auf den Maßstab einer Entscheidung, die sich, in Gegenüberstellung zu dem zugehörigen Sondervotum Peter Müllers, gerade von der Übertragung der Verhältnismäßigkeit auf Einschränkungen der Chancengleichheit politischer Parteien abgrenzt. Unter Verweis auf einen anderen (!) Maßstab in den Mehrheitsgründen einer Entscheidung wird also hier der im Sondervotum jener Entscheidung entwickelte Maßstab auf eine neue Konstellation übertragen.
Eben jener Peter Müller wurde dann im auf diese Entscheidung zur Europawahl folgenden Jahr Berichterstatter für Organstreitigkeiten, die das Recht der politischen Parteien und das Wahlrecht betreffen. Somit fiel auch die jetzige Entscheidung in seine Zuständigkeit als Berichterstatter.
Ein weiteres Problem dieses Urteils ist der „chilling effect“. Politiker der Exekutive werden nämlich von jetzt ab immer das Damoklesschwert einer Verurteilung durch das BVerfG vor Augen haben. Das wird sich als Schere im Kopf auswirken – mit erheblichen Schäden für die demokratische Debatte. 2 Beispiele:
a) Die AfD stellt im BUndestag den Antrag, Deutschland möge aus der EU und der NATO austreten und mit Russland eine territoriale Neuordnung Europas vereinbaren. Grundlage dafür solle die „Beendigung der Besatzung der Deutschen Ostgebiete durch Polen und die Wiederherstellung des deutschen Volkstums in seinen angestammten Siedlungsgebieten sein.
Am Tag danach wird Anna-Lena Baerbock bei Markus Lanz auf diesen Antrag angesprochen. Sie sagt: „dieser Antrag ist ein schwerwiegender Angriff und den Frieden in Europa. Man kann an solchen Anträgen erkennen, was Geistes Kind die AfD ist und wie gefährlich diese Partei ist.
Hat Baerbock hier als „Privatperson“ oder als „amtsperson“ gesprochen? Das ist gar nicht so einfach, denn diese Frage ist „differenziert“ zu betrachten (Rn: 83: „ Veranstaltungen des allgemeinen politischen Diskurses wie Talkrunden, Diskussionsforen, Interviews sowie die Nutzung sozialer Medien außerhalb regierungsamtlicher Konten (vgl. hierzu Spitzlei, JuS 2018, S. 856 ; Mast, K&R 2016, S. 542 ) bedürfen differenzierter Betrachtung. Inhaber eines Regierungsamtes können hier sowohl als Regierungsmitglied als auch als Parteipolitiker oder Privatperson angesprochen sein. Die Verwendung der Amtsbezeichnung allein ist noch kein Indiz für die Inanspruchnahme von Amtsautorität, weil staatliche Funktionsträger ihre Amtsbezeichnung auch in außerdienstlichen Zusammenhängen führen dürfen (vgl. BVerfGE 138, 102 ; 154, 320 ; jeweils m.w.N.). Insoweit kommt es für die Geltung des Neutralitätsgebots entscheidend darauf an, ob der Inhaber eines Regierungsamtes seine Aussagen in spezifischer Weise mit der Autorität des Regierungsamtes unterlegt “. Wenn Baerbock also sagt „ich als Außenministerin“ – dann ist sie drinnen in der Neutralitätspflicht.
Was aber ist dann „sachpolitik“ und was ist „einseitige Parteinahme“? Und gibt es möglicherweise („verhältnismäßige“) Rechtfertigungsgründe?
Es kommt nicht darauf an, ob das BVerfG in ein paar Jahren vielleicht zu dem Schluss kommt, dass das alles ok war, was Baerbock sagt, es kommt drauf an, dass von der unklaren Rechtsprechung schon jetzt ein „chilling effect“ für das freie Wort ausgeht.
b) historisches Beispiel: nach der Ermordung Walther Rathenaus hielt der damalige Reichskanzler Wirth eine Rede, die mit folgenden bekannten Worten endete;
„ In jeder Stunde, meine Damen und Herren, Demokratie! Aber nicht Demokratie, die auf den Tisch schlägt uns sagt: wir sind an der Macht! – nein, sondern jene Demokratie, die geduldig in jeder Lage für das eigene unglückliche Vaterland eine Förderung der Freiheit sucht! In diesem Sinne, meine Damen und Herren, Mitarbeit! In diesem Sinne müssen alle Hände, muß jeder Mund sich regen, um endlich in Deutschland diese Atmosphäre des Mordes, des Zankes, der Vergiftung zu zerstören!
Da steht (nach rechts) der Feind, der sein Gift in die Wunden eines Volkes träufelt. – Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!“
Nach der Rechtsprechung des BVerfG hätte sich Wirth hier so nicht äußern dürfen. Ohne Zweifel sprach der „als Reichskanzler“ und ohne Zweifel nahm er „einseitig Partei“ – gegen den antisemitischen Mord. Bemerkenswert ist dabei, dass das BVerfG den Kampf gegen den Extremismus nicht als „Rechtfertigungsgrund“ anerkannt hat.
c) die Rechtsprechung des BVerfG erlegt also einseitig (!) den Mitgliedern der Exekutive einen Maulkorb auf, während die Mitglieder der Opposition keinerlei besondere Grenzen beachten müssen. Die AfD (vielleicht bald unter Höcke) wird schon wissen, wie sie aus diesem Tatbestand Honig saugen kann,