Diachrone Verantwortung statt „schuldig gesprochener Vergangenheit“
Warum sich koloniales Erbe nicht einfach ausschlagen lässt
Diese Woche druckte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Text des emeritierten Alt-Historikers Egon Flaig ab. Unter dem Titel „Schuldig gesprochene Vergangenheit“ versucht sich der Autor an einer Dekonstruktion der „postkolonialen Debatte“ und wirft dafür sämtliche Gewalttaten der Menschheitsgeschichte zusammen. „Der antikoloniale Diskurs“ leugne, so Flaig, dass „sämtliche Hochkulturen […] sklavistische Systeme waren, […] die weltweite Abschaffung der Sklaverei eine westliche Errungenschaft ist; sämtliche Eroberer diverse Formen von Kolonialismus praktizierten […]; dass Rassismus ein ubiquitäres Phänomen […] ist, und dass der hautfarbige Rassismus eine arabische Kreation ist.“ Die Anliegen postkolonialer Debatten seien daher „absurd“ und “historische Gerechtigkeit“ ein „Unbegriff, ein Nonsense-Postulat“. Die zahlreichen Fehlschlüsse, argumentativen Strohmänner und geschichtsrevisionistische Gleichmacherei sind im Folgenden aber nicht Hauptgegenstand dieser Replik, die über eine bloße Korrektur etwaiger „Falschaussagen“ hinausgehen will. Es sei für die Einordnung auf einschlägige Forschungsliteratur verwiesen.1)
Stattdessen konzentriert sich die Replik auf zwei Aspekte, die im Zusammenhang mit postkolonialen Debatten tatsächlich diskussionswürdig und klärungsbedürftig sind und die von allgemeinerem Interesse auch in den Rechtswissenschaften sein dürften. Diese Aspekte betreffen erstens das Verhältnis von Schuld und Verantwortung zu Unrecht und Recht (I.) und zweitens den Kern und die Reichweite des geschichtswissenschaftlichen „Anachronismusverbots“, insbesondere des Dogmas, die Vergangenheit nicht aus heutiger Perspektive (fehl) zu interpretieren (II.).
Teilweise können die Aussagen Flaigs – etwa, dass ein „Schuldigsprechen der Vergangenheit“ nur möglich sei, „weil wir Maßstäbe anlegen, die wir nicht hätten, wenn die vergangenen Epochen sie nicht historisch geschaffen hätten […].“ – als Ausdruck einer breiteren Verunsicherung gegenüber postkolonialen Debatten verstanden werden. Denn postkoloniale Debatten legen den Finger in die Wunde der modernen westlichen Gesellschaft, ihrer Wissenschaften, ihrer aufgeklärten Werte, ihrer Geschichte und ihres Selbstbilds. Das schmerzt. Doch Warnungen, das Heranziehen heutiger Werte und Maßstäbe in postkolonialen Debatten führe dazu, dass „die Geschichtswissenschaft die nächsten fünfzig Jahre nicht überleben“ werde oder dass gar die „menschliche Gattung auf[hörte], als diachrone Gesamtheit ideell zu existieren“ (so je Flaig), sind in erster Linie Panikmache und missverstehen postkoloniale Debatten. Dass solch oberflächliche und reißerische Diskreditierung sämtlicher postkolonialer Ansätze in den Rechtswissenschaften nicht verfängt, ist ein Anliegen dieses Beitrags.
Zum Verhältnis von Schuld und Verantwortung zu Unrecht und Recht
Egon Flaig scheint von einem Dualismus von Schuld und Unschuld (oder nicht-Schuld) auszugehen, welcher der Komplexität der angelegten Kategorien (insb. Schuld und Unrecht) nicht gerecht wird.
„Wenn „natürliche“ Rechte verletzt werden – durch Mord, Folter, Versklavung oder Raub –, dann handelt es sich um ein Übel, falls die Schädiger kein Bewusstsein davon haben, dass sie damit Verbrechen begehen. Hingegen handelt es sich um ein Unrecht, falls ihnen das bewusst ist. Historisches Übel bringt keine Schuld mit sich. Historisches Unrecht hingegen bedeutet Schuld der Täter sowie Haftung der folgenden drei Generationen.“
Flaig bezieht sich hierfür auf den Philosophen Michael Schefczyk, den Flaig jedoch teilweise aus dem Kontext und missverständlich zitiert.2) Für Flaig stehen auf der einen Seite die Kategorien von Schuld, Unrecht und Haftung (aber bitte auf Zeit) und Unschuld und „bloßem“ Übel, das (überhaupt?) keine Verantwortlichkeiten mit sich bringe, auf der anderen. Das ist simpel, mit Schefczky und vielen andere Philosoph*innen, Literatur- und Sozialwissenschaftler*innen deutlich zu simpel. Denn „Schuld“ ist mehrdimensional und vielschichtig, so sehen es viele mit Karl Jaspers.
Dass auch Flaig Jaspers für sich in Anspruch nimmt, ist mindestens verwunderlich. Jaspers adressierte in Die Schuldfrage (1946) bemerkenswert früh und direkt die Schuld und Verantwortung der Deutschen. Die Schuldfrage war zum einen ein Appell gegen die Verdrängung der Schuld aller Deutschen (als Individuen) und zum anderen einer für die Differenzierung bei der Diskussion um die Nürnberger Prozesse und eine „Kollektivschuld“. Dass Flaig mit undifferenzierten Pauschalaussagen die koloniale „Schuldfrage“ mit Jaspers verdrängen, ja abwürgen will, ist daher doppelt ironisch. Karl Jaspers plädierte, anstatt dass „alles stufenlos auf eine einzige Ebene gezogen wird, um es im großen Zufassen in der Weise eines schlechten Richters zu beurteilen“,3) für vier Kategorien der Schuld: kriminelle Schuld, politische Schuld, moralische Schuld, metaphysische Schuld (Schuldfrage, S. 17 ff.). Insbesondere kriminelle und moralische Schuld sind nach Jaspers streng individuell (vgl. z.B. S. 25). Politische Schuld dagegen „kollektiviert“ dadurch, dass individuelle Subjekte in einem politischen Gemeinwesen leben:
„Das Begehen der zahllosen kleinen Handlungen der Lässigkeit, der bequemen Anpassung, des billigen Rechtfertigens des Unrechten, der unmerklichen Förderung des Unrechten, die Beteiligung an der Entstehung der öffentlichen Atmosphäre, welche Unklarheit verbreitet, und die als solche das Böse erst möglich macht, alles das hat Folgen, die die politische Schuld für die Zustände und das Geschehene mit bedingen.“ (Schuldfrage, S. 19)
Nicht allein politische Mitwirkung, sondern öffentliches Leben bewirkt nach Jaspers also individuelle Zurechnung, potentiell zu Lasten aller Mitglieder des Gemeinwesens als Individuen. Metaphysische Schuld schließlich ist
„der Mangel an der absoluten Solidarität mit dem Menschen als Menschen. Sie bleibt noch ein unauslöschlicher Anspruch, wo die moralisch sinnvolle Forderung schon aufgehört hat. […] wenn ich überlebe, wo der andere getötet wird, so ist in mir eine Stimme, durch die ich weiss: dass ich noch lebe, ist meine Schuld“. (S. 48)
Mit dieser Art der „Schuld“ entfernt sich Jaspers (weit) von direkter, individueller Schuld im kriminellen oder moralischen Sinne. Das „Dabeisein“, welches bei einem Nicht-Handeln die Schuld nach Jaspers begründet, ist metaphorisch zu verstehen. Wo Jaspers andernorts insistierte: „Wir sind nicht, als unsere jüdischen Freunde abgeführt worden, auf die Straße gegangen, haben nicht geschrien, bis man uns vernichtete. […] Daß wir leben, ist unsere Schuld“,4) dort sind nach Jaspers nicht bloß die an dem konkreten Ort physisch Anwesenden metaphysisch „schuldig“, sondern alle sich in dem Gemeinwesen „befindlichen“, auch wenn sie „in völliger Ohnmacht verzweifelt[en],“ (Schuldfrage, S. 49) denn:
„Es ist das Verhängnis jedes Menschen, verstrickt zu sein in Machtverhältnisse, durch die er lebt. Dieses ist die unausweichliche Schuld aller, die Schuld des Menschseins.“ (S. 19)
Dass Jaspers mit seinen Schuldbegriffen auf der synchronen Zeitachse bleibt, also die Schuld für zeitgenössisches, nicht historisches Unrecht betrachtet, ist offenkundig. Befasst mit der Schuld seiner Generation hatte Jaspers die Schuld auf diachroner Ebene kaum im Blick, also die Schuld für historisches Unrecht (ausgeübt etwa vor Lebzeiten des Subjekts). Hier setzen nun nicht nur postkoloniale Ansätze an und fragen, wie sich Kategorien der „Schuld“ über den Verlauf der Zeit zu Subjekten verhalten. Dass der Begriff der Schuld hierbei durch seinen kriminellen oder moralischen, jedenfalls aber seinen individuellen Impetus irreführend sein kann, ist beinahe einhellige Meinung (vgl. nur die von Flaig selbst zitierten Bücher, Schefczyk, Verantwortung für historisches Unrecht und Lukas Mayer, Historische Gerechtigkeit).
Insbesondere in der postkolonialen Debatte geht es offenkundig nicht um kriminelle oder andere individuelle Schuld. (Die „Täter“ leben nicht mehr. Das haben postkoloniale Ansätze auch schon bemerkt.) Es geht um mehrdimensionale, vielschichtige und diachrone Arten von Schuld und Verantwortung.5) Letztere ist gerade die semantische aber auch moralische Kategorie, die den Kern der Debatte wohl am ehesten beschreibt: Verantwortung. Schon im allgemeinen, aber auch im philosophischen oder juristischen Sprachgebrauch unterscheidet sich der Begriff der Verantwortung regelmäßig dadurch von der Schuld, dass er ohne eine Form der subjektiven Zurechnung auskommen kann (nicht aber muss). Kurz und vereinfacht: Schuld ist grundsätzlich verhaltensabhängig; Verantwortung nicht zwingend. Auch daher gibt es in der Kategorie der Verantwortung keine Entsprechung für Konzepte wie Rechtfertigung oder Entschuldigung. Verantwortung muss man gerecht werden.
Dass derartig grundlegende Überlegungen oder Klarstellungen in „der“ postkolonialen Debatte mitunter zu kurz kommen, wäre eine legitime Kritik, wäre sie denn von Flaig so geäußert worden. Doch dass der Beitrag vor der Komplexität und Vielschichtigkeit kapituliert, zeigt etwa die gegen Mayers Historische Gerechtigkeit gerichtete Frage: „Doch sind nicht sämtliche jetzt lebenden Menschen in irgendeiner Hinsicht „mittelbare Opfer“?“ Flaig scheint der Ansicht zu sein, hiermit eine Absurdität der nuancierten Betrachtung Mayers aufgedeckt zu haben. Doch diese „Absurdität“ ist grade eine Jaspers großer Einsichten. Tatsächlich sind alle jetzt lebenden Menschen in irgendeiner Hinsicht „mittelbare Opfer“, aber eben auch „mittelbare Täter“; dies aber jeweils – und das ist entscheidend – nicht in gleichem Maße. Hier zeigt sich die Notwenigkeit, semantisch und analytisch die Dichotomien von Täter-Opfer und Schuld-Unschuld aufzubrechen. Michael Rothberg schlägt die Kategorie des involvierten Subjekts vor (implicated subject, Übers. d.V.).6) Rothberg basiert den Begriff auf der Etymologie des englischen Wortes „implicated“:
„Abgeleitet vom lateinischen Wortstamm implicare, was verstricken [entangle], involvieren [involve] oder eng verbinden [connect closely] bedeutet, richtet „Implikation“, wie der verwandte aber nicht identische Begriff „Komplizenschaft“, Aufmerksamkeit darauf, wie wir „eingebunden in“ [folded into (im-pli-cated in), M.R.] Ereignisse sind, die zunächst jenseits unserer Handlungsmacht [agency] als individuelle Subjekte liegen.“ (Übers. d.V.)7)
Nicht alle lebenden Menschen sind also „schuldig“; sie sind aber involviert und verstrickt in sämtliche Gewalttaten, auf synchroner wie diachroner Zeitachse. Wo Flaig dies gegen die Verantwortungsfrage wendet und sie damit abzuwürgen meint, beginnt der postkoloniale Diskurs erst richtig nachzudenken. Denn hier liegen die eigentlich relevanten wie herausfordernden Fragen: was folgt aus der Feststellung, dass alle „irgendwie“ verantwortlich sind? Woraus resultiert diese Verantwortung genau? Wo ist sie ähnlich, wo verschieden zu anderen Arten der Schuld und Verantwortung? Flaig will mit der Gleichstellung der meisten angeführten Beispiele die Verantwortungsfrage ad absurdum führen, anstatt die verschiedenen Übel und Gewalttaten zu historisieren, die Ursprünge, ideologischen Fundamente und Auswirkungen zu betrachten (und meist voneinander abzugrenzen). Dass Flaig das Vergleichen und Differenzieren nicht besonders nahe liegt, ist angesichts seiner wohl bekanntesten Äußerung zur Verteidigung von Vergleichen mit der Shoah nicht erstaunlich.8) Vor allem ist es aber zynisch wie intellektuell unbefriedigend, von der Vielzahl an systematischen Gewaltverbrechen, darauf zu schließen, keine dieser könne Reparationen begründen, da dies zu einem „Regress von Noah bis Ham“ (Flaig) führte. Abgesehen davon, dass Flaig anscheinend den Begriff der Reparation als vor allem monetären missversteht,9) wird hier jedes Unrecht gleichgestellt und ein Null-Summen-Spiel betrieben, das weder den historischen Unterschieden der Gewalttaten noch den postkolonialen Debatten gerecht wird.
Ironischerweise führt Flaig im Verlauf des Textes grade die Singularität der Shoah als Argument gegen postkoloniale Reparationsforderungen an. Im Spiegel der Gegenüberstellung von historischem Übel, das ohne subjektive Zurechnung begangen worden sei und somit keine Schuld begründen könne, und historischem Unrecht, bei dem sich die Täter bewusst gewesen seien, Unrecht zu tun, werde
„freilich eine Kluft aufgerissen zwischen der Shoah und der Sklaverei. Letztere war jahrtausendelang legitim. Sie wurde sehr spät und zunächst nur in Segmenten des westlichen Kulturkreises zum Unrecht. Die Shoah hingegen wurde, während sie geschah, als ein Verbrechen begriffen, sowohl von den Opfern als auch von den meisten Tätern, ebenso wie vom abendländischen Kulturkreis insgesamt.“
Ohne Zweifel: Eine pauschale Gleichsetzung von Sklaverei und Kolonialismus mit der Shoah könnte schon historisch nicht überzeugen und sähe sich zurecht dem Vorwurf ausgesetzt, die Shoa zu relativieren, indem die fundamentale Singularität der Shoa verkannt würde (nicht eine banale, wie Flaig sie 2007 verstand)10). Ebenso wenig kann es jedoch normativ wie historisch überzeugen, die Abgrenzung in subjektiven Elementen von Opfern (!), Tätern und dem „abendländischen Kulturkreis“ zu suchen.
Abgesehen davon, dass eine derartige Gegenüberstellung des zeitgenössischen Legitimitätsempfinden hinsichtlich der Shoah und der Sklaverei (neben anderen problematischen Aspekten) historisch wohl kaum plausibel zu machen ist,11) zeigt sich hier doch, dass jedenfalls bei der Frage nach historischer Verantwortung ein Insistieren auf subjektiven Elementen nicht zielführend ist.
Überzeugend grenzt Michael Rothberg daher die „metaphysische“ Verantwortung (mit Karl Jaspers und Hannah Arendt weitergedacht) von der individuellen Schuld ab. Individuelle Schuld kommt kaum ohne subjektive Zurechnung aus. Doch in Debatten um den heutigen Umgang mit Straßennamen,12) philosophischen Klassikern13) oder Museen14) geht es – wie gesagt – selten um Schuld. Subjektive Elemente sind (beinahe) irrelevant. Es geht um heutige Verantwortung, die historisch begründet wird, und welche Sachverhalte betreffen, die oft zwar rechtlich, aber nicht etwa delikts- oder strafrechtlich zu regeln sind. Die Vergangenheit wird nicht in dem Sinne angeklagt, dass sie – wie Flaig es meint – „schuldig gesprochen“ (vgl. Titel) werden könnte. Es geht postkolonialen Debatten (verallgemeinert) um die Aufarbeitung der Vergangenheit, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten.
Diesem Denken über die Zeitachse, dem Befragen von Kontinuitäten und Brüchen wird sodann (nicht nur von Flaig) der Einwand des Anachronismus entgegengehalten. Das führt zur zweiten Herausforderung für postkoloniale Ansätze, auch solchen in den Rechtswissenschaften:15) die Frage, wie mit dem „Anarchronismusverbot“ umzugehen ist.
Zum Kern und der Reichweite des „Anachronismusverbots“
Ähnlich wie hinsichtlich der Schuld- und Verantwortungsfrage scheitert Flaig an einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Anachronismus als Anknüpfungspunkt für methodische Kritik an postkolonialen Ansätzen, mit welcher er vorgibt, die Geschichtswissenschaft als Disziplin retten zu wollen.
„Dieser Wahn [der „Allversöhnung“] belädt unsere Generation mit der Aufgabe, gottgleich die Welt neu zu erschaffen. Sollte die Weltgeschichte sich in dieser Form des Weltgerichts erfüllen, dann hörte die menschliche Gattung auf, als diachrone Gesamtheit ideell zu existieren. Am schwersten beschädigt wird die Geschichtswissenschaft. Das Tun der Menschen vergangener Zeit dem moralischen und juristischen Verdikt der Gegenwart zu unterstellen heißt, elementare Grundsätze des Faches zu missachten.“
Flaig scheint hier sowohl auf die Universalgeschichte nach Friedrich Schiller und Georg W.F. Hegel als auch auf Immanuel Kants Weltbürgertum anzuspielen. Anders als Flaig es darstellt, kann aber „[d]ie Utopie von der Einholung der menschlichen Geschichte ins Recht […] nach Kant“ als „der Auftrag der praktischen Vernunft an die Gattung“ verstanden werden.16) Das stößt sich freilich mit Grundsätzen der heutigen Geschichtswissenschaft. Kants, Schillers und erst recht Hegels Geschichtsverständnisse gelten größtenteils als „überholt“.
Gerade gegen hegelianische Geschichtsschreibung war der Satz Leopold von Rankes gerichtet, die Geschichte solle „bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen“. Dieser Ausspruch wurde – überspitzt formuliert – zum Schlachtruf des Historismus, dessen Kernanliegen der „bloßen“, also objektiven Darstellung der „wahren“ Ereignisse bis heute als Fundament der Geschichte als Wissenschaft dient, insbesondere in Abgrenzung zur Philosophie. Aus diesem Slogan („bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen“) leitet sich auch das Gebot ab, nicht mit heutigen Maßstäben über die Vergangenheit zu urteilen. Diese „Sünde“ der Historiker*in wird als Anachronismus oder Präsentismus betitelt. Doch das durchaus sinnvolle Prinzip, die Vergangenheit nicht durch eine Brille der Gegenwart misszuverstehen, wird mitunter seinerseits missverstanden und als Allzweckwaffe – in diesem Fall gegen postkoloniale Ansätze – missbraucht.
Dass die Geschichtswissenschaft sich nicht auf eine abschließende Definition oder einen genauen Umfang des „Anachronismusverbots“ einigen kann, spricht bereits für sich. In einem Versuch, verschiedene Arten des Anachronismus (bzw. Präsentismus) zu charakterisieren, zählt etwa David Armitage „mindestens fünf Bedeutungen“ des Präsentismusvorwurfs: erstens die teleologische Interpretation der Vergangenheit; zweitens den Druck der Gegenwart, die Vergangenheit zu „rekonstruieren“; drittens die „Gegenwärtigkeit“ (present-mindedness), welche die Fragen von Historiker*innen leitet; viertens die Begrenzung auf gegenwärtig relevante Fragen; und fünftens die Omnipräsenz der Vergangenheit im heutigen Alltag.17) Armitage fragt sodann rhetorisch, ob Historiker*innen gegen alle diese Elemente auf einmal seien, „wenn sie den ‚Präsentismus‘ in unserem Feld oder breiter als ein kulturelles Phänomen beweinen“. Die Antwort ist ganz klar und offenkundig (und das schon seit Ranke): Nein.
Etwa zu den ersten beiden Elementen (teleologische Interpretation und „Rekonstruktionsdruck“) ist spätestens seit den 1970er Jahre bekannt, dass die Geschichtsschreibung gar nicht ohne eine retrospektive Benennung und Umbenennung der Vergangenheit in die heutige Sprache existieren kann.18) Ein striktes „Anachronismusverbot“ kann es für die Geschichtsschreibung schon deswegen nicht geben. Ferner schrieb schon Leopold von Ranke zu dem „Problem“, dass Gegenwärtigkeit die Forschungsfragen bestimmt: „Würde man sie aber ohne den Impuls der Gegenwart überhaupt studieren?“.
Um dies hier abzukürzen: Die Geschichtswissenschaft ist seit jeher überfrachtet mit und kann nicht ohne Anachronismen.19) Die entscheidende Frage ist also die nachgelagerte: Welche Anachronismen sind handwerklich „gute“ und welche „schlechte“, welche „nützlich“ und welche „gefährlich“. Anachronismen sind stets „Risiko und Chance“, wie Matthias Goldmann treffend formulierte.20) Zweifelsohne handwerklich „schlecht“ und „gefährlich“ ist ein solcher Anachronismus, welcher die Vergangenheit zu gegenwärtigen Zwecken irreführend darstellt oder manipuliert.
Dies ist der Vorwurf, der gegen postkoloniale Ansätze mitschwingt, aber selten explizit und konkret gemacht wird. Könnte Flaig hier etwa auf konkrete Argumente oder Äußerungen aus heutigen postkolonialen Debatten verweisen, bei denen Akteure die Vergangenheit aus gegenwärtigen Zwecken manipulierten, so wäre dies ein valider Einwand, über den sich (meist dann im Einzelfall) diskutieren ließe.
In dieser Form liest sich Flaigs diffuser Anachronismusvorwurf jedoch eher als ein Versuch, sich von der Vergangenheit loszusagen; jedenfalls von der ungemütlichen, nicht von der „ruhmreichen“. Denn Flaig bezeichnet die „Maßstäbe“, die in postkolonialen Debatten angelegt würden, als „Erbe für uns“. Er meint, „wir verdanken just diesen Generationen, die wir anprangern, dass wir so sein dürfen, wie wir sind, dass wir so denken können, wie wir denken“. Gut hörbar sind hier Spuren von „Dankbarkeit“ für ein „kollektives Erbe“ (siehe zum Verhältnis dieser „Dankbarkeit“ zur „Pflicht“ den von Flaig kritisierten Mayer)21). Flaig wähnt sich hier als „Erbe“ der europäisch-christlichen Aufklärung, aber ohne die „Schulden“ (oder Verantwortung) dieser Aufklärung mit erben zu wollen. Beinahe will man Flaig in Manier eines guten Juristen entgegnen: § 1967 BGB – Der Erbe haftet für die Nachlassverbindlichkeiten!
Der Vergleich zum deutschen Zivilrecht hinkt natürlich gewaltig. Doch dass Flaig hier „cherry picking“ betreibt, wird deutlich. Anders als nach §§ 1967 ff. BGB aber können wir mit Flaig, der Geschichts- und Rechtswissenschaft, der westlichen Philosophie und allem, was unsere moderne westliche Gesellschaft ausmacht, das Erbe der (kolonialen) Vergangenheit nicht ausschlagen. Wir bleiben involvierte Subjekte. Die koloniale Vergangenheit holt uns überall ein, beim Museumsgang bis hin zum Kauf von Kaffee bei Edeka (vormals „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler“, kurz E.d.K.). Mit dieser Verantwortung müssen wir leben, oder nach Karl Jaspers: Dass wir leben, ist unsere Verantwortung. Dieser wird, ein letztes Mal mit Jaspers, „entgegengewirkt durch Einsatz für die Macht, welche das Recht, die Menschenrechte, verwirklicht.“ (Schuldfrage, S. 19)
Formen der diachronen Verantwortung (und/oder Schuld) genauer zu charakterisieren, ihre Ursprünge (historisch) aufzuarbeiten und ihre Auswirkungen für heute (normativ, auch im Recht) zu fassen und umzugestalten, sind Aufgaben unserer Wissenschaften, auch der Geschichts- und Rechtswissenschaften.22) Ein Beitrag, wie der von Egon Flaig, ist hier kontraproduktiv und unter dem Deckmantel vermeintlich fachspezifischer Expertise gar gefährlich.
Dank gilt Gabriel Noll und Maxim Bönnemann für hilfreiche und kritische Anregungen. Etwaige Fehler sind allein meine.
References
↑1 | Überblicksartig und einführend etwa: Andreas Eckert, Geschichte der Sklaverei: Von der Antike bis ins 21. Jahrhundert, Beck 2021; Christian Geulen, Geschichte des Rassismus, Beck 2007; eklatant etwa: „Die freien Afrikaner von heute verdanken ihre Freiheit just den abolutionistischen Interventionen von Briten und Franzosen. Sollen diese von den Afrikanern einen Kostenausgleich verlangen für die Rettung eines ganzen Kontinents vor der sicheren Versklavung?“, statt vieler, zur Zivilisierungsmission, der Rechtfertigung des europäischen Kolonialismus schlechthin: Beiträge in: Barth/Osterhammel (Hg.), Zivilisierungsmissionen, UVK 2005; zur Sklaverei: nochmals Eckert, Geschichte der Sklaverei (s.o); zu den ökonomischen Folgen des europäischen Kolonialismus in Afrika etwa: Walter Rodney, How Europe Underdeveloped Africa, 1972; oder: „Wenn wir menschliche Verhältnisse und Handlungen über alle Zeit hinweg radikal juridifizieren, dann werden wir […] unentwegt verlangen müssen, dass Menschenrechte ohne Rücksicht auf nationale Grenzen – auch gewaltsam – durchzusetzen sind. Denn der Artikel 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte [Folterverbot, G.M.] ist nach internationalem Recht ius cogens. Er müsste per Intervention mit UN-Mandat durchgesetzt werden. Solches Intervenieren bedeutet, ganze Regionen unter UN-Protektorat zu stellen. Und so hatte der britische und französische Kolonialismus in Afrika begonnen.“, abgesehen davon, dass dies augenscheinlich niemand ernsthaft argumentiert, zum (umstrittenen) Konzept der „responsibility to protect“ etwa: Anne Orford, International Authority and Responsibility to Protect, CUP 2011; Alex Bellamy u.a. (Hg.), The Responsibility to Protect and International Law; zur Geschichte des Mandatsystems des Völkerbundes nach dem Ersten Weltkrieg etwa: Nele Matz, Civilization and the Mandate System under the League of Nations as Origin of Trusteeship, in Armin v. Bogdandy u.a. (Hg.), Max Planck Yearbook of United Nations Law, IX, 2005, 47–95; den Bogen spannend: Anthony Anghie, Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law, CUP 2005. |
---|---|
↑2 | Vgl. allein Flaig: „Er [Schefczyk] stellt sich gegen „die Utopie von der Einholung der menschlichen Geschichte ins Recht““; Schefczyk: „Die Utopie von der Einholung der menschlichen Geschichte ins Recht ist nach Kant und Rawls der Auftrag der praktischen Vernunft an die Gattung. Freilich: Weder die […] weltbürgerliche Geschichtsbetrachtung Kants, noch die in der Gesellschaft wahlgeordneten Völker kulminierende Utopie von Rawls sieht eine Korrektur historischen Unrechts vor. In welchem Umfang sie nötig ist, was sie bedeutet und wo ihre vernünftigen Grenzen liegen, stellt ein noch zu formulierendes und aufzulösendes Problem dar“, in Schefczyk, Verantwortung für historisches Unrecht, de Gruyter 2012, 9, im Folgenden richtet sich Schefczyk keinesfalls pauschal „gegen“ diese Utopien als solche. |
↑3 | Karl Jaspers, Die Schuldfrage: Von der politischen Haftung Deutschlands, Piper 1987, 19. |
↑4 | Karl Jaspers, Hoffnung und Sorge: Schriften zur deutschen Politik 1945–1965, Piper 1965, 32. |
↑5 | Michael Rothberg, Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford University Press 2009; vgl. auch Michael Riegner, Postkoloniale Erinnerungspolitik im deutschen Recht: Von der Dekolonisierung des öffentlichen Raumes zur antikolonialen Demokratie, in Dann/Feichtner/v.Bernstorff, (Post)Koloniale Rechtswissenschaft: Geschichte und Gegenwart des Kolonialismus in der deutschen Rechtswissenschaft, Mohr Siebeck i.E., 551–580, sowie weitere Beiträge in diesem Band. |
↑6 | Michael Rothberg, The Implicated Subject: Beyond Victims and Perpetrators, Stanford University Press 2019. |
↑7 | Rothberg, Implicated Subject, 1. |
↑8 | Flaig, Das Unvergleichliche, hier wird’s Ereignis: Reflexion über die moralisch erzwungene Verdummung“, Merkur Nr. 201, Oktober 2007: „Doch wenn ich wissen will, in welcher Hinsicht etwas singulär ist, dann komme ich nicht umhin zu vergleichen. Wer wird bestreiten, daß das Warschauer Gheotto „singulär“ war? Aber jede einzelne Krankheit meines Großvaters war es ebenso. Sogar der Rotz in meinem Taschentuch ist singulär.“, archivierter Zugriff: https://www.babykaust.de/01/2017/das_unvergleichliche.pdf. |
↑9 | „Reparation“ umfasst regelmäßig die Restitution (insb. materielle Rückgabe), Kompensation (insb. monetär) und Wiedergutmachung (insb. immateriell), vgl. etwa International Law Commission, Articles on State Responsibility, Art. 34–37, verfügbar: legal.un.org/ilc/texts/9_6.shtml. |
↑10 | Flaig, Das Unvergleichliche (Fn. 8), dort mit Zitat und Zugriff. |
↑11 | Zum einen steht Karl Jaspers Schuldfrage ja grade in diesem Kontext des Durchbrechens des Schweigens und der Verdrängung, was gegen ein Bewusstsein bei den „meisten Tätern“ im NS spricht, zum anderen wurde auch die Legitimität der modernen europäischen Sklaverei seit jeher angezweifelt, bekannt etwa: Bartholomé de las Casas in der Konferenz von Valladolid Conference 1550, vgl. z.B. in Natsuko Matsumori, The School of Salamanca in the Affairs of the Indies: Barbarism and Political Order, Routledge 2019; ähnlich kritische Äußerungen von Alexander von Humboldt: Humboldt, Essai politique sur l‘île de Cuba (1826), hierzu etwa: Aniela Maria Mikolajczyk, Alexander von Humboldts Manuskript Isle de Cube: Antilles en général in der Biblioteka Jagiellońska als Vorstufe des Essai politique sur l’île de Cuba. HiN – Alexander Von Humboldt Im Netz, (2017) Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien, 18(34), 59–80; ebenso Immanuel Kant mit seiner Abkehr von der zuvor vertretenen „Racenhierarchie“ und Befürwortung des Kolonialismus und der Sklaverei in: Kant, Zum Ewigen Frieden: Ein philosophischer Entwurf (1795), zur Einordnung: Pauline Kleingeld, Kant’s Second Thoughts on Colonialism, in: Katrin Flikschuh/Lea Ypi (Hg.), Kant and Colonialism: Historical and Critical Perspectives, OUP 2014, 43–67; insgesamt zur Einordnung Flaigs pauschaler Gleichmacherei aller Arten von Sklaverei nochmals: Eckert, Geschichte der Sklaverei (Fn. 1). |
↑12 | Für eine rechtliche Perspektive: Michael Riegner, Postkoloniale Erinnerungspolitik (Fn. 5). |
↑13 | Peggy H. Breitenstein, Wie umgehen mit rassistischen, sexistischen und antisemitischen Inhalten in „klassischen Werken“ der Deutschen Philosophie?, (2021) Deutsche Zeitschrift für Philosophie 69, 130–135; ähnlich James/Knappik (Gast-Hg.), Hegel Bulletin Special Issue: Racism and Colonialism in Hegel’s Philosophy, i.E. |
↑14 | Feldwin Sarr/Bénédicte Savoy, Zurückgeben: Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter, Berlin 2019 (frz. Original 2018). |
↑15 | Jüngst mit einer überspitzen Karikatur der empirischen Methode in der Völkerrechtsgeschichtsschreibung: Anne Orford, International Law and the Politics of History, CUP 2021; überzeugender: Lauren Benton, Beyond Anachronism: Histories of International Law and Global Legal Politics, (2019) Journal of the History of International Law 21, 7–40; hierzu ebenso: Andrew Fitzmaurice, Context in the History of International Law, (2018) Journal of the History of International Law 20, 5. |
↑16 | Schefczyk, Verantwortung für historisches Unrecht, 9, (Herv. d.V.). |
↑17 | David Armitage, In Defence of Presentism, in Darrin McMahon (Hg.), History and Human Flourishing (OUP 2022), 59–84. |
↑18 | Vgl. etwa Arthur Danto, Analytische Philosophie der Geschichte (original 1965; dt., Suhrkamp 1980); ferner z.B.: Doris Gerber, Analytische Metaphysik der Geschichte: Handlungen, Geschichten und ihre Erklärungen, Suhrkamp 2012; Jörn Rüsen, Geschichte denken: Erläuterungen zur Historik, Springer 2020. |
↑19 | Vgl. etwa: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Suhrkamp 1989. |
↑20 | Matthias Goldmann, Anachronismen als Risiko und Chance: Der Fall Rukoro et al. gegen Deutschland, (2019) Kritische Justiz 52, 92–117. |
↑21 | Lukas Mayer, Historische Gerechtigkeit, De Gruyter 2005, 202–218. |
↑22 | Vgl. etwa Ansätze und Gedanken in: Bernhard Schlink, Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht, Suhrkamp 2002; Reinhart Koselleck, Zeitschichten: Studien zur Historik, Suhrkamp 2003, dort insb. Kapitel „Geschichte, Recht und Gerechtigkeit“, 336–358; konkreter: Beiträge in Dann/Feichtner/v.Bernstorff, (Post)Koloniale Rechtswissenschaft (Fn. 5). |
Danke für die klasse Auseinandersetzung! Ich freue mich immer als jemand, der keine Ahnung von einem Thema hat, wenn ich über einen (für mich zumindest als Laien so aussehenden) differenzierten Text stolper.
Ich wünschte nur manchmal, dass so etwas einfach präsenter wäre. Als Außenstehender von so inhaltlich tieferen Beiträgen, der praktisch nur mitbekommt wie Leute emotional aufgeheizt sich auf sozial Media an den Kopf schmeißen, dass dort andere Leute emotional aufgeheizt anderen was an den Kopf schmeißen würden, wünschte ich mir, dass man öfters sehen würde, dass es ja wissenschaftlich bzw. fachlich fundierte inhaltliche Diskussionen geben kann (zwar vielleicht nicht groß auf Twitter, aber generell). Zumindest bei mir geht das Wissen darum öfters mal unter, wenn ich dann wieder gewisse emotionale Posts oder Artikel sehe.
Das ist jetzt in meinem Fall der erste Beitrag zu einer “postkolonialen Debatte”, den ich gelesen habe. Auch wenn ich da wie gesagt inhaltlich nicht große Einschätzungen machen kann, freut es mich etwas über das Thema in einer nüchternen Art zu lesen. Wieder was gelernt auf dem Verfassungsblog 😉
“Doch dass Flaig hier „cherry picking“ betreibt, wird deutlich. Anders als nach §§ 1967 ff. BGB aber können wir mit Flaig, der Geschichts- und Rechtswissenschaft, der westlichen Philosophie und allem, was unsere moderne westliche Gesellschaft ausmacht, das Erbe der (kolonialen) Vergangenheit nicht ausschlagen. ”
Dass hier der gesamte Westen resp. die gesamte westliche Gesellschaft als Erben der kolonialen Vergangenheit dargestellt werden, erstaunt doch ein wenig. Von den Ländern und Gesellschaften im Westen gibt es nicht wenige, die nicht nur nie Kolonialismus betrieben haben sondern gar Opfer dessen waren. Man denke etwa an Irland, Zypern oder Malta. Oder an Estland oder die Ukraine, die beide unter Genozid, Unterdrückung und Kolonialismus sowohl durch Deutschland als auch Russland/der Sowjetunion gelitten haben. Länder wie Estland und die Ukraine (beide klar Teile des Westens) als Miterben der kolonialen Vergangenheit zu brandmarken scheint mir ein Hohn angesichts des beachtlichen historischen Leides dieser Länder. Man würde sich wünschen, dass der Westen nicht nur eindimensional (und auf einige Länder wie Deutschland, Frankreich, UK etc. beschränkt) gedacht wird, sondern in seiner gesamten Komplexität. Wer den gesamten Westen als Kolonialisten versteht, wird dieser Komplexität nicht gerecht.
Guten Tag.
“Man würde sich wünschen, dass der Westen nicht nur eindimensional (und auf einige Länder wie Deutschland, Frankreich, UK etc. beschränkt) gedacht wird, sondern in seiner gesamten Komplexität.”
Das ist ein valider Kritikpunkt. Vielen Dank dafür! Es zeigt sich, wie wichtig eine differenzierte Sprache ist.
In Ihrem ersten Teil der Antwort verfallen Sie aber leider auch in eine Täter-Opfer-Dichotomie und eine Rhetorik des “schuldig sprechens” bzw. gar “brandmarken”, was aus historischer Perspektive noch unpassender ist und diesem Beitrag wie kolonialen Debatten völlig fern liegt.
Ihrer These, dass es “[v]on den Ländern und Gesellschaften im Westen […] nicht wenige [gibt], die […] nie Kolonialismus betrieben haben”, trifft nur insoweit zu, als dass Sie scheinbar etwaige Verstrickungen etwa von Unternehmen/Handelsgesellschaften, Redereien und insb. Missionaren nicht berücksichtigen (lese ich zumind. implizit bei Ihnen heraus).
Z.B. zur Rolle irischer Missionare bei der Kolonisation Afrikas vgl. etwa Denis Linehan, Irish Empire: assembling the geographical imagination of Irish missionaries in Africa (https://doi.org/10.1177/1474474013511037)
Ob/Wie andere “westliche” Gesellschaften, die scheinbar nicht in den außer-europäischen Kolonialismus verwickelt waren, evtl. doch mit dem Kolonialismus in Berührung kamen, wäre historisch zu untersuchen.
Wichtig wäre dann, dass eine solche historische Arbeit nicht solchen unsachlichen und undifferenzierten Kritiken ausgesetzt ist, wie denen aus besagtem FAZ Artikel.
Beste Grüße, G.M.
Danke für Ihre Antwort. Ihr Verweis auf angebliche wirtschaftliche oder missonarische Verstrickungen ist leider wieder in der eindimensionalen Denkweise gefangen: Von einem einzigen Beispiel (Irland) wird auf den gesamten Westen geschlossen. Dass es viele Unternehmen oder Missionaren aus dem Heimatland meiner Mutter, dem Kosovo gab, die in den Kolonialismus verstrickt waren, wage ich nach einem intensiven Studium der Geschichte des Landes zu bezweifeln.
Sie sagen, dass man diese Verstrickungen für jedes Land einzeln untersuchen müsste. Dem stimme ich zu. Aber bevor man diese Untersuchungen durchgeführt hat, ist es doch etwas gar fahrlässig einfach kollektiv die gesamte westliche Gesellschaft als verstrickt resp. als Erben des Kolonialismus darzustellen. Vorliegend scheint die Verstrickung von Irland, Deutschland etc. gut untersucht worden zu sein. Aber kann man wirklich eine Aussage über “den Westen” als Erben des Kolonialismus machen bevor man sich ebenfalls mit den Hintergründen in Andorra, Bulgarian, Moldavien und der Slowakei befasst hat? Diese Länder sind genauso “der Westen” wie Deutschland und Irland.
Seriöse historische Arbeit verlangt gerade, dass man die mühsame Grundlagenforschung macht, bevor man ein Urteil über das Bestehen oder Nicht-Bestehen eines Erbes fällt.
Mit historischen und interssierten Grüssen