03 February 2023

Verfassungsschutz

Bevor es losgeht: Unsere Spendenkampagne, im letzten Editorial angekündigt, ist gut angelaufen, ein Fünftel der Wegstrecke zu unserem Spendenziel von 85.000 Euro ist zurückgelegt.

Das heißt, dass vier Fünftel noch vor uns liegen.

Wenn Sie schon gespendet haben, dann bedanke ich mich sehr! Wenn Sie noch überlegen, dann fühlen Sie sich bitte hiermit sanft genudged: Wir brauchen Ihre Hilfe, damit wir gut durch das Jahr 2023 kommen und Sie hier auf dem Verfassungsblog weiter die radikale Abwesenheit von Paywalls, Datentracking und anderen zeitgenössischen Mediengeschäftsmodellen vorfinden, die Sie zu Recht von uns erwarten.

Sie können aber auch erst mal in Ruhe weiterlesen. Keine Sorge, ich erinnere Sie dann am Schluss noch mal dran.

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Was vor zehn Jahren in Ungarn angefangen hat, wird heutzutage überall auf der Welt kopiert: Der demokratische Rechtsstaat, eigentlich ein Ermöglicher von Meinungsvielfalt und fruchtbarer Auseinandersetzung unter Verschiedenen, wird zu einem Werkzeug des autoritären Machterhalts umgeschmiedet und damit ohne jeden offenen Verfassungsbruch faktisch abgeschafft. Das jüngste und krasseste Beispiel dafür ist Israel: Die rechte Regierungskoalition steht davor, eine Reihe von Verfassungs- und Rechtsänderungen in Kraft zu setzen, die darauf abzielen, dass ihre Gesetze und Beschlüsse kein Gericht mehr kontrolliert und keine Minderheiten- und Menschenrechte ihrer Macht mehr im Weg stehen. Wir haben hier schon mehrfach darüber berichtet (z.B. hier, hier, hier und hier), und ein umfassender deutschsprachiger Bericht, was genau da geplant ist und mit welchen Folgen, findet sich hier.

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Gesellschaftliche und rechtliche Dimensionen des Einsatzes „Künstlicher Intelligenz“ in der Kriminalitätskontrolle

Tagung am 5. Mai 2023 in Berlin

Forschende sind herzlich eingeladen, Vorschläge für Vorträge einzureichen.

Einreichungen sind bis zum 15. Februar an pelzer@ztg.tu-berlin.de, sebastian.golla@rub.de und lucia.sommerer@jura.uni-halle.de zu richten. Erforderlich sind Angaben zu Name, Institution/Ort und Thema des Vortrags. Eine Teilnahme ist auch ohne eigenen Vortrag möglich.

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In Ungarn und in Polen hatte es die Regierung deshalb so leicht, weil die Öffentlichkeit sich für verfassungs- und justizpolitische Themen nur schwer interessieren lässt. An Alarmrufen aus der Rechtswissenschaft hat es zwar nicht gefehlt, nicht zuletzt hier auf dem Verfassungsblog. Aber die hatten es gerade im eigenen Land und in der breiten Bevölkerung oft schwer, Resonanz zu erzeugen.

Das könnte in Israel jetzt anders sein. Dort findet gerade eine beispiellose Mobilisierung der Rechtswissenschaft statt, um die israelische Bevölkerung darüber aufzuklären, was das bedeutet, das da im Knesset beschlossen werden soll. Ich finde das extrem eindrucksvoll, was dort passiert.

Ich habe heute Tamar Hostovsky-Brandes angerufen, um mehr darüber zu erfahren.

MS: Tamar, was macht ihr da? Was geschieht da gerade?

THB: Wir haben eine Whatsapp-Gruppe, in der sich Rechtswissenschaftler*innen aus ganz Israel über aktuelle Themen austauschen. Die hat sich vor einigen Jahren gegründet, als in der israelischen Politik die Diskussion anfing, ob die Urteile des Supreme Court durch Parlamentsbeschluss überstimmt werden können sollten. Jetzt kommt das tatsächlich! Die meisten Leute verstehen das nicht, diese verfassungsrechtlichen Zusammenhänge. Das ist so juristisch, so abstrakt. Sie fragen: Was hat das mit meinem Leben zu tun? Aber wenn sie das spüren, was das mit ihrem Leben zu tun hat, dann ist es zu spät. Dann kann man nichts mehr machen. Dann ist der Rahmen, in dem man sich gegen die Verletzung seiner Rechte zur Wehr setzen kann, nicht mehr da. Das ist ja der Grund, warum die Regierung diese Verfassungsreformen so vorantreibt. Aber das dringt in der Öffentlichkeit von alleine nicht durch. Also hat meine Kollegin Shelly Aviv Yeini über ihre Social-Media-Accounts eingeladen, zu ihr nach Hause zu kommen und sich das erklären zu lassen. Sie hatte damit gerechnet, dass vielleicht 20 Leute kommen. Aber es gab eine überwältigende Resonanz. Sie gab einen Vortrag in ihrer Wohnung und dann noch einen in einem Café in der Nähe. Ein paar von uns beschlossen, ähnliche Vorträge anzubieten, und die Anfragen kamen und kamen.

MS: Und das macht jetzt Schule?

THB: Ja. Überall im Land. Wir fahren überall hin. Manche sind drei oder viermal die Woche unterwegs, mit dem eigenen Auto, auf eigene Kosten. Wir fahren in Schulen, zu High-Tech-Unternehmen, in Altersheime, in Gemeindezentren, in Privathäuser. Wo 20 Leute zusammen kommen, gehen wir hin. Es gibt ein Google-Formular, über das man uns buchen kann. Die Nachfrage wird immer größer. Über 130 solche Treffen sind dokumentiert, die Gesamtzahl ist vermutlich höher. 

MS: Wer macht da alles mit?

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Eine Karriere bei Hausfeld bietet die Möglichkeit, in einer anderen Art von Kanzlei zu arbeiten. Wir wachsen weiter und suchen Associates (m/w/d) für Commercial und/oder Competition Litigation mit oder ohne Berufserfahrung für unsere Büros in Berlin oder Düsseldorf in Voll- oder Teilzeit. Wenn Sie auch Teil unseres Teams werden möchten, freuen wir uns sehr auf Ihre Bewerbung an: bewerbung@hausfeld.com.

Die vollständige Stellenausschreibung finden Sie hier.

Bei Rückfragen helfen wir gerne auch telefonisch weiter unter: 030 322 903 001

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THB: Wir sind über 50 mittlerweile, hauptsächlich Wissenschaftler*innen aus allen möglichen Rechtsfakultäten, aber auch aus den Rechtsberufen. Das ist eine ziemlich erstaunliche Gemeinschaft. Wir sind durchaus nicht immer der gleichen Meinung, etwa was die Bewertung der expansiven Supreme-Court-Rechtsprechung angeht. Aber hier geht es um die Grundlagen. Die Demokratie selbst steht auf dem Spiel. Wir arbeiten seit zwei Monaten Tag und Nacht, um diese Revolution zu bekämpfen, ohne irgendwelche Credits, ohne Bezahlung. Das ist ungewöhnlich in der Wissenschaft. Aber die große Mehrheit der Professor*innen für öffentliches Recht in Israel glaubt, dass das extrem gefährlich ist, was da passiert. Wir haben definitiv den Elfenbeinturm verlassen.

MS: Gibt es Anzeichen, dass die Regierung sich gegen die Universitäten wendet?

THB: Noch nicht. Das kommt vermutlich in der zweiten Phase. Es gibt Äußerungen hier und dort. Es wird beispielsweise die unkündbare Festanstellung in Frage gestellt, was ja Universitätsprofessor*innen unmittelbar betrifft. Das liegt in der Luft, aber es gibt noch keine konkreten Maßnahmen. Der Fokus liegt auf den Veränderungen an der Verfassung. Alles andere liegt auf Eis. Erst die Regeln ändern, und dann, wenn die Instrumente zur Gegenwehr nicht mehr da sind, kommt alles andere.

MS: Was wäre das?

THB: Darüber kann man nur spekulieren. Worum ich persönlich mir Sorgen mache, ist die politische Beteiligung der arabischen Parteien, die Meinungsfreiheit, die zivilgesellschaftlichen Organisationen und die Menschenrechte in den besetzten Gebieten. Nichts davon ist offiziell, aber es gibt schon Äußerungen in diese Richtung.

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Ein möglicher Zeitpunkt, das mit der Spende zu erledigen, wäre zum Beispiel jetzt.

Oder Sie wollen natürlich erst noch zu Ende lesen, was in dieser …

Woche auf dem Verfassungsblog

… passiert ist, zusammengefasst von PAULA SCHMIETA:

Sind die von der israelischen Regierung vorgeschlagenen Justizreformpläne der israelische 6. Januar? JOSEPH H.H. WEILER warnt vor einer “Tyrannei der Mehrheit” und davor, dass der Gesetzesvorschlag der Regierung sogar gefährlicher sein könnte als ein Mob, der ein Parlament stürmt.

CHRISTIAN TIETJE geht der Frage nach, ob russisches Vermögen zu Gunsten des Wiederaufbaus der Ukraine enteignet werden könnte. Solche Enteignungen, so Tietje, seien – aufgrund erheblicher rechtsstaatlicher Grenzen – nicht ohne Weiteres möglich. Obwohl solche Forderungen nach Enteignungen nachvollziehbar seien, ruft er dazu auf rechtsstaatliche Standards mit nüchternem Blick weiter zu schützen.

AHMED ELLABOUDY gibt Einblicke in die Beschränkung von Eigentumsrechten durch Antiterrorgesetze in Ägypten. Strukturelle Probleme, wie z. B. die Unschärfe gewisser Definitionen oder der äußerst schwache Verfahrensschutz, hingen mit dem Aufstieg des “Präventivstaates” zusammen, der auch politische Aktivisten und zivilgesellschaftliche Organisationen des Terrorismus beschuldige.

FRIEDERIKE GRISCHEK erklärt, warum es schwieriger ist für die EU, die iranischen Revolutionsgarden zu einer terroristischen Vereinigung zu erklären, als man vielleicht denkt. So geht sie der Frage nach, wer als “zuständige Behörde” gilt, die Gruppen zu terroristischen Vereinigungen erklären kann.

RODRIGO KAUFMANN befasst sich mit dem zweiten Anlauf zur Ausarbeitung einer neuen chilenischen Verfassung. Ein wesentliches Merkmal dieses neuen Prozesses sei die darin vorhandene juristische Expertise. Er erinnert daran, dass juristisches Fachwissen nicht unpolitisch sei. Im Gegenteil, der neue Prozess berge das Potenzial für ein fruchtbares Zusammenspiel zwischen Fachwissen und Politik.

Kann ein Unternehmen sich weigern, einen Vertrag mit einem Selbstständigen abzuschließen oder zu verlängern, weil dieser homosexuell ist? Nein, so der EuGH. LENKA KŘIČKOVÁ & IVA FELLEROVÁ PALKOVSKÁ halten dieses Urteil zur Antidiskriminierungsrichtlinie für einen Meilenstein, aber auch für eine Hydra: während ein Problem gelöst worden sei, entstünden zwei neue.

MERIJN CHAMON stellt eine verstärkte Nutzung von Artikel 122 AEUV fest – insbesondere bei Maßnahmen zur Bekämpfung der Gesundheits- und Energiekrise. Neben der Krisenbewältigung verfolgten diese Maßnahmen jedoch sekundär auch wirtschaftspolitische Ziele. Zwei dieser Maßnahmen werden nun vor dem EuGH angefochten. Ist Artikel 122 AEUV angesichts der Ziele und Inhalte der Maßnahmen die richtige Rechtsgrundlage?

PETER MEIßNER analysiert den Zwischenstand um die Auslieferung katalanischer Politiker*innen, die sich derzeit in Belgien aufhalten. Nach der ursprünglichen Ablehnung der Auslieferung, erstritt das spanische Tribunal Supremo nun Etappensieg vor dem EuGH. Geklärt sei der Fall damit aber noch nicht, so Meißner; stattdessen könne der nächste Zug, nunmehr der belgischen Justiz, mit Spannung erwartet werden.

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We are delighted to announce that applications for the next Max Planck Masterclass with Professor Daniel Halberstam are now open (deadline 28 February).

The Masterclass on “The Construction and De(con)struction of Rights in America: Practice and Anti-Practice from Madison to Trump” will take place on 24-27 April 2023 at the Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law in Heidelberg, Germany.

More information can be found here.

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Mit Blick auf die Wahlen zum EU-Parlament im Jahr 2024 untersucht ALBERTO ALEMANNO die institutionelle und politische Reaktion der EU auf Qatargate. Die findet er zwar ernüchternd, meint aber trotzdem, dass Qatargate immer noch beides bieten könnte: eine einzigartige pädagogische Chance, Wähler zu ermutigen, ihre Stimmen abzugeben – und einen politischen Impuls für Reformen.

Das Gipfeltreffen des Europarats in Reykjavik nehmen ALICE DONALD & PHILIP LEACH zum Anlass, die Herausforderungen in den Blick zu nehmen, vor denen der Europarat steht: Klimanotstand, Russlands Angriff auf die Ukraine, die Verbesserung der Umsetzung von Urteilen des EGMR…

In der Bundeshauptstadt Berlin ist nach gut 60 Tagen die Friedrichstraße erneut autofrei. CHARLOTTE HEPPNER prüft die Erfolgschancen der Initiative „Rettet die Friedrichstraße“, dagegen vorzugehen, und schlussfolgert: Recht schützt nicht vor Veränderungen. Ob wir unsere Straßen im Sinne der Verkehrswende dauerhaft anders gestalten wollen, ist eine politische Frage. Sie wird an der Wahlurne entschieden und nicht vor Gericht.

ALEXANDER HOBUSCH ordnet das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Parteienfinanzierung aus der letzten Woche ein. Er kritisiert, dass die Begründung des Bundesverfassungsgerichts sich ohne Not von bereits bestehenden Argumentationslinien entfernten und hofft, dass eine mögliche Öffnung der Büchse der Pandora ausbleibt.

Anlässlich des 10. Geburtstags der AfD äußert sich ANNA-SOPHIE HEINZE zu deren bisherigem Erbe. Die Partei habe die deutsche Politik verändert – wenn auch im Vergleich zu anderen internationalen rechtsextremen Gruppen eher marginal. Dennoch stellt Heinze fest, dass der allgemeine politische Ausschluss der AfD bröckele – allein das sei für die AfD ein Grund zum Feiern.

Zuletzt: unsere Blog-Debatte Rechtsvergleichende Perspektiven zum Abtreibungsrecht geht weiter mit Beiträgen von ALBA RUIBAL, DANIELA ANTONOVSKA, LUCÍA BERRO PIZZAROSSA, SILJA BÁRA ÓMARSDÓTTIR und JULA HUGHES, JESSI TAYLOR & CHRISTINE HUGHES.

Das wäre es dann wieder für diesmal. Ihnen alles Gute und bis nächste Woche! Und wie gesagt: Bitte versäumen Sie nicht zu spenden!

Ihr

Max Steinbeis

Wenn Sie das wöchentliche Editorial als Email zugesandt bekommen wollen, können Sie es hier bestellen.


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Verfassungsschutz, VerfBlog, 2023/2/03, https://verfassungsblog.de/verfassungsschutz/, DOI: 10.17176/20230203-233132-0.

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