Good Things Take Human Rights
Das UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes und die Diskussion über die Senkung des Mindestalters strafrechtlicher Verantwortlichkeit – ein Realitätscheck
Die Tötung von Luisa aus Freudenberg am 11. März durch zwei geständige Freundinnen im Alter von 12 und 13 Jahren hat zu Forderungen aus der Politik geführt, das Mindestalter strafrechtlicher Verantwortlichkeit herabzusetzen. Justizminister Buschmann hat diese mit Hinweis auf bestehende Möglichkeiten zum Umgang mit strafrechtlich nicht verantwortlichen Täter*innen und wissenschaftliche Erkenntnisse, nach denen eine strafrechtliche Sanktionierung von Jugendlichen den Strafzweck nicht erfülle, zurückgewiesen. Seitdem berichten verschiedene Medien verstärkt über Straftaten, insbesondere Gewaltdelikte, minderjähriger Täter*innen. Es ist also mit einer Rückkehr dieses Themas in die Diskussion zu rechnen.
Wäre die Herabsetzung der Strafmündigkeit überhaupt mit den internationalen Verpflichtungen Deutschlands, insbesondere aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes (CRC), vereinbar? Weitere Verpflichtungen könnten sich aus dem UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte (CCPR) ergeben.
Kinderrechte sind Menschenrechte
Die Präambel des CRC, die zur Auslegung herangezogen werden sollte, verweist in Absatz 4 auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und dem darin verkündeten Anspruch von Kindern auf besondere Fürsorge und Unterstützung. Zwei Absätze weiter wird die Erkenntnis ausgedrückt, dass Kinder zur vollen und harmonischen Entfaltung ihrer Persönlichkeit in einer Familie aufwachsen sollten. Aus der mangelnden körperlichen und geistigen Reife ergibt sich nach Absatz 10 ein besonderes Schutzbedürfnis. Der ausdrückliche Hinweis auf die Mindestnormen zur Jugendgerichtsbarkeit (Beijing-Regeln) erfordert, dass diese zur Konkretisierung der Verpflichtungen aus dem CRC heranzuziehen sind.
Die Rechte des Kindes im Strafverfahren sind in Art. 40 CRC geregelt. Dies schließt die Festlegung des Mindestalters der Strafmündigkeit mit ein, Art. 40 III lit.a CRC. Ausführliche Hinweise zu den Fragen des Mindestalters strafrechtlicher Verantwortlichkeit gibt das Komitee für die Rechte des Kindes, das die Umsetzung des CRC durch die Mitgliedstaaten überwacht, in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 24 (2019). Allgemeine Bemerkungen der Vertragsüberwachungsorgane der UN-Menschenrechtsverträge enthalten Zusammenfassungen von Erkenntnissen, die sie bei der Überprüfung von Staatenberichten und Individualentscheidungen gewonnen haben. Die Allgemeine Bemerkung Nr. 24 verweist darüber hinaus ausdrücklich auf die Verkündung neuer internationaler und regionaler Normen, neue Erkenntnisse über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie Belege für wirksame Praktiken, einschließlich derjenigen im Zusammenhang mit der opferorientierten Justiz, als Grundlage seiner Empfehlungen. Zwar sind Allgemeine Bemerkungen völkerrechtlich nicht formal bindend, in der Praxis beruht die Überprüfung von periodischen Staatenberichten und Individualbeschwerden gegen Deutschland jedoch auf dieser Grundlage. Innerstaatlich hat das BVerfG aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG eine Verpflichtung von Gerichten und Behörden abgeleitet, bei der Auslegung und Anwendung nationalen Rechts die Allgemeinen Bemerkungen zu berücksichtigen. Darüber hinaus kann in Allgemeinen Bemerkungen unter Hinweis auf die Staatenpraxis auch Völkergewohnheitsrecht enthalten sein.
Der Kontakt mit der Strafjustiz schadet Kindern erwiesenermaßen
Die Allgemeine Bemerkung Nr. 24 (2019) versteht das Mindestalter für die Strafmündigkeit als das Alter, unter dem Kinder nach dem Gesetz nicht in der Lage sind, gegen das Strafrecht zu verstoßen. Zunächst betont das Komitee, dass sich Kinder von Erwachsenen in ihrer physischen und psychischen Entwicklung unterscheiden. Diese Unterschiede bilden die Grundlage für die Anerkennung einer geringeren Schuldfähigkeit und für ein separates System mit einem differenzierten, individuellen Ansatz. Es ist erwiesen, dass der Kontakt mit der Strafjustiz Kindern schadet und ihre Chancen, verantwortungsvolle Erwachsene zu werden, einschränkt. (Ziff. 2) Das Komitee erkennt ausdrücklich an, dass die Wahrung der öffentlichen Sicherheit ein legitimes Ziel der Justiz ist, das auch gegenüber Kindern durchgesetzt werden kann. Es ist jedoch erwiesen, dass die Zahl der von Kindern begangenen Straftaten nach der Einführung von Strafrechtssystemen, die mit den Verpflichtungen aus der CRC in Einklang stehen, tendenziell zurückgeht. (Ziff.3) Der Ausschuss erinnert die Mitgliedstaaten daran, dass sie gemäß Art. 41 CRC keine in diesem Sinne rückschrittlichen Maßnahmen ergreifen sollten. Hinsichtlich geeigneter Maßnahmen im Allgemeinen verweist das Komitee auf den Bericht des Unabhängigen Experten, der die globale Studie der Vereinten Nationen über Kinder im Freiheitsentzug leitet (A/74/136), die gemäß der Resolution 69/157 der Generalversammlung vorgelegt wurde und vom Komitee initiiert worden war. (Ziff. 4) Auf dieser Grundlage führt das Komitee zur Frage des Alters im strafprozessualen Verfahren aus, dass das international gebräuchlichste Mindestalter für die Strafmündigkeit 14 Jahre ist. Aus den von den Vertragsstaaten vorgelegten Berichten gehe jedoch hervor, dass einige Staaten ein unannehmbar niedriges Mindestalter für die Strafmündigkeit beibehalten.
Für die Unannehmbarkeit eines niedrigeren Mindestalters zieht das Komitee verschiedene Kriterien heran: Belege aus den Bereichen der kindlichen Entwicklung und der Neurowissenschaften, dass die Reife und die Fähigkeit zum abstrakten Denken bei Kindern im Alter von 12 bis 13 Jahren noch in der Entwicklung begriffen sind, da sich ihr frontaler Kortex noch entwickelt. Daher ist es unwahrscheinlich, dass sie die Auswirkungen ihrer Handlungen verstehen oder Strafverfahren nachvollziehen können. Die Reifung des Gehirns von Heranwachsenden dauert über das Teenageralter hinaus an und beeinflusst bestimmte Arten von Entscheidungen. Daher empfiehlt das Komitee den Vertragsstaaten sogar, ein höheres Mindestalter, z. B. 15 oder 16 Jahre, vorzusehen, und fordert die Vertragsstaaten nachdrücklich auf, das Mindestalter für die Strafmündigkeit gemäß Art. 41 CRC unter keinen Umständen herabzusetzen.
Das Komitee ist besorgt über Praktiken, die die Herabsetzung des Mindestalters für die Strafmündigkeit in Fällen zulassen, in denen das Kind einer schweren Straftat beschuldigt wird. Solche Praktiken entstehen nach der Beobachtung des Komitees in der Regel, um auf öffentlichen Druck zu reagieren, und beruhen nicht auf einem rationalen Verständnis der Entwicklung von Kindern. Mehrere Vertragsstaaten wenden zwei Mindestalter für die Strafmündigkeit an (z. B. 7 und 14 Jahre), wobei davon ausgegangen wird, dass ein Kind, das das niedrigere Alter erreicht oder überschritten hat, das höhere Alter aber noch nicht erreicht hat, nicht strafrechtlich verantwortlich ist, sofern nicht eine ausreichende Reife nachgewiesen wird. Dieses ursprünglich als Schutz konzipierte System hat sich in der Praxis nicht bewährt. Obwohl der Gedanke einer individuellen Beurteilung der Strafmündigkeit in gewissem Maße unterstützt wird, hat das Komitee festgestellt, dass dies zu viel dem Ermessen des Gerichts überlässt und zu diskriminierenden Praktiken führt. (Ziff. 20ff.) Das Komitee schlussfolgert, dass ein System der Kinderjustiz für alle Kinder gelten sollte, die das Mindestalter für die Strafmündigkeit überschritten haben, aber zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat noch nicht 18 Jahre alt waren. (Ziff. 29)
Die Garantie des Kindeswohls macht einen besonderen Schutz erforderlich
Zentrale Verpflichtung des CRC ist die Garantie des Kindeswohls nach Art. 3 CRC. Der Begriff des Kindswohls ist ausgehend vom Begriff des best interest of the child im englischen Originaltext des CRC auszulegen und erfordert die Entwicklung eines auf Rechten basierenden Ansatzes, der alle Akteure einbezieht, um die ganzheitliche physische, psychologische, moralische und geistige Integrität des Kindes zu gewährleisten und seine Menschenwürde zu fördern. Das Wohl des Kindes ist in der Praxis des Komitees sowohl materielles Recht und Auslegungsregel als auch Verfahrensrecht. Weitere Hinweise zur Anwendung dieser Verpflichtung enthält die Allgemeine Bemerkung Nr. 14 (2013) zum Recht des Kindes auf Berücksichtigung des Kindeswohls. Danach ist auch die Gesetzgebung verpflichtet, das Wohl des Kindes als eine vorrangige Erwägung zu beachten. Angesichts der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den Auswirkungen der Reifung des Gehirns auf Verhaltensweisen von Teenagern und der Betonung des Grundsatzes der Erziehung der Kinder durch die Eltern wäre auch in dieser Hinsicht eine Anhebung des Mindestalters strafrechtlicher Verantwortlichkeit kaum vertretbar.
Die Notwendigkeit des besonderen Schutzes der Kinder ist auch in Art. 23 CCPR über den Schutz der Familie und dem Recht der Eheschließung und in Art. 24 CCPR über bestimmte Rechte des Kindes anerkannt, so die Präambel des CRC. Im Zusammenhang mit dem Mindestalter für strafrechtliche Verantwortlichkeit könnte insbesondere das Recht des Kindes auf Schutzmaßnahmen ohne Diskriminierung nach Art. 24 I CCPR Bedeutung gewinnen. In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 19 hat der Menschenrechtsausschuss nur allgemein betont, dass die Vertragsstaaten gesetzgeberische, administrative oder andere Maßnahmen ergreifen müssen, um den in Art. 23 CCPR vorgesehenen Schutz zu gewährleisten (Ziff. 3). In seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 17 weist der Ausschuss darauf hin, dass die in Art. 24 CCPR vorgesehenen Rechte nicht die einzigen sind, die der CCPR den Kindern zuerkennt und dass Kinder als Einzelpersonen in den Genuss aller im CCPR verankerten Bürgerrechte kommen. Einige Bestimmungen des CCPR weisen die Staaten ausdrücklich auf Maßnahmen hin, die zu ergreifen sind, um Minderjährigen einen größeren Schutz als Erwachsenen zu gewähren (Ziff. 2). Der CCPR gibt jedoch nicht das Alter an, in dem das Kind die Volljährigkeit in Zivilsachen erreicht und strafrechtliche Verantwortung übernimmt. Dies ist auf der Grundlage gesellschaftlicher und kultureller Gegebenheiten von jedem Staat selbst festzulegen (Ziff.4). Für Vertragsstaaten des CRC wird diese Entscheidung zusätzlich die o.g. Verpflichtungen beachten müssen.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Wirkungen eine Herabsetzung des Mindestalters strafrechtlicher Verantwortlichkeit in Deutschland auf internationaler Ebene für die Entwicklung der Kinderrechte haben würde. Angesichts der globalen Tendenz, die Rolle von Kindern und Jugendlichen in gesellschaftlichen und politischen Diskussionen mit den Mitteln des Strafrechts zu begrenzen, wäre bereits die Diskussion über dieses Thema in Deutschland ein Risiko für eine Aufweichung der Verpflichtungen aus der CRC. In Hinblick auf die Herausforderungen durch minderjährige Straftäter*innen ist nach den durch die Anwendung des CRC gewonnen Erfahrungen eine Absenkung des Mindestalters wenig zielführend. Die deutsche Diskussion sollte von den internationalen Menschenrechtsstandards und den Richtlinien für ihre Umsetzung ausgehen und die praktischen Erfahrungen anderer Staaten im Umgang mit minderjährigen Straftäter*innen innerhalb der bestehenden Gesetze nutzen, um das Problem umfassend und damit auch langfristig zu lösen.