Grenzwertige Grenzverfahren
Zum Zusammenspiel von Asylverfahren an den europäischen Außengrenzen mit dem Konzept Sicherer Drittstaaten
Am heutigen Donnerstag, den 8. Juni 2023 treffen sich die EU-Innenminister*innen, um eine Einigung über Teile der umstrittenen Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) zu erzielen. Maßgeblich geht es darum, den Anwendungsbereich der problematische Grenzverfahren auszuweiten, die eine verkürzte Prüfung des Schutzanspruchs direkt an der Grenze vorsehen. Breite mediale Berichterstattung begleitet den gesellschaftlichen und politischen Diskurs (so beklagt etwa die Basis der Grünen in einem Brief an ihre Parteispitze deren Abrücken vom Koalitionsvertrag, siehe auch die von Pro Asyl initiierte Protestmail-Aktion). Auch in der rechtlichen Debatte wurden bereits zahlreiche Argumente ausgetauscht (u.a. hier von Maximilian Pichl und Daniel Thym). Über 800 Rechtsanwält*innen und Jurist*innen treten dem Reformvorhaben in einem offenen Brief vehement entgegen. Dieser Beitrag möchte eine kritische Perspektive auf die Reform und die begleitende Debatte werfen. Menschenrechte sind hier mehr als nur marginal berührt und es ist keine Übertreibung, wenn Kritiker*innen der Reform sich darauf berufen.
Was genau soll sich ändern?
Die Diskussion kreist im Wesentlichen um zwei Aspekte, die bereits in der heute geltenden Asylverfahrensrichtlinie vorgesehen sind und deren Relevanz in der geplanten Asylverfahrensverordnung weiter ausgebaut werden soll: Grenzverfahren und Sichere Drittstaaten. Hinsichtlich der Grenzverfahren (bisher Art. 43 Asylverfahrens-RL; geplant Art. 41 ff. Asylverfahrens-VO-E) ist zum einen vorgesehen, den Kreises an Personen auszuweiten, über deren Asylanträge in solchen Verfahren an der Grenze oder in Transitzonen entschieden wird. Zum anderen wird die Anwendung des Grenzverfahrens in vielen Fällen EU-weit verpflichtend – bisher war diese Entscheidung dem nationalen Recht des jeweiligen Mitgliedstaats überlassen. Das Konzept des Sicheren Drittstaates erlaubt gemäß Art. 33 Abs. 2 lit. c i.V.m. Art. 38 Asylverfahrens-RL (künftig: Art. 36 Abs. 1a lit. b i.V.m. 45 Asylverfahrens-VO-E), Asylanträge als unzulässig abzulehnen, wenn ein Nicht-EU-Staat als Sicherer Drittstaat für den/die Antragsteller*in betrachtet wird.
Die Crux liegt im Zusammenspiel dieser beiden Konzepte: Künftig – so die Kritik an den Entwürfen – wird die bisherige Ausnahme zur Regel. Einem beachtlichen Anteil der Schutzsuchenden droht das Szenario, unmittelbar an den europäischen Außengrenzen einem Grenzverfahren zugeleitet zu werden, dessen Ergebnis in vielen Fällen die formale Abweisung des Asylantrags als unzulässig sein wird; demgemäß wird die Rückführung in den entsprechenden Drittstaat veranlasst, ohne dass der Asylantrag überhaupt jemals inhaltlich geprüft wurde.
Die Idee hinter dem Konzept der „Sicheren Drittstaaten“
Hinsichtlich Sicherer Drittstaaten gilt es einiges auseinanderzuhalten. Zunächst ist der Begriff des Sicheren Drittstaats zu unterscheiden vom Sicheren Herkunftsstaat. Für Antragsstellende aus Sicheren Herkunftsstaaten gilt die Regelvermutung, es liege keine Verfolgungsgefahr vor. Die Asylanträge werden jedoch in der Sache geprüft – wenn auch mit verfahrensrechtlichen Einschränkungen, insbesondere unter verkürzten Rechtsmittelfristen. Am Ende des Verfahrens kann aber die Zuerkennung eines Schutzstatus stehen. Wird das Konzept der Sicheren Drittstaaten angewandt, werden Anträge hingegen bereits als unzulässig abgelehnt, ohne dass eine Sachprüfung erfolgt.
Auch wenn der Begriff „Sicherer Drittstaat“ im deutschen Kontext vor allem aus Art. 16a Abs. 2 GG geläufig sein dürfte, hat der dort normierte Ausschlusstatbestand, als Ergebnis des sog. Asylkompromisses 1993 ins Grundgesetz aufgenommen, wenig mit den hier erörterten Fragen zu tun. Die separaten und praktisch wichtigeren Schutzformen des Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention und des subsidiären Schutzes nach der EU-Qualifikationsrichtlinie sehen keine entsprechenden Ausschlussgründe vor. Art. 33 Abs. 2 der Asylverfahrensrichtlinie regelt die Sachverhalte abschließend, in denen Mitgliedsstaaten Asylanträge ohne Sachprüfung ablehnen können. Wer in den aktuellen Debatten Art. 16a Abs. 2 GG in den Ring wirft, hat nicht selten die Rechtslage missverstanden oder führt in die Irre. Lediglich die Grundidee des unionsrechtlichen Konzepts des Sicheren Drittstaats ist vergleichbar: Gibt es einen anderen aufnahmebereiten Staat, in dem gleichwertige asylrechtliche Garantien gewährleistet sind, so dürfte es keinen Unterschied machen, ob der Schutz dort oder hier gewährleistet bzw. versagt wird, so die Logik. Angesichts der bequemen Lösung, die dies bereitstellt, um die Verantwortung für die Durchführung des Asylverfahrens weiterzugeben, liegt das politische Interesse, das Konzept immer weiter auszubauen, auf der Hand.
Jeder Anwendung des Konzepts des Sicheren Drittstaats ist menschenrechtlich aber eine klare rote Linie durch das Refoulement-Verbot aus Art. 33 Abs. 1 GFK und Art. 3 EMRK gezogen: Eine Zurückweisung ist jedenfalls dann menschenrechtswidrig, wenn der zurückgewiesenen Person in dem entsprechenden Staat Verfolgung bzw. unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Besteht die Gefahr einer Kettenabschiebung vom Sicheren Drittstaat in das unsichere Herkunftsland oder einen unsicheren “Viertstaat”, ist bereits die erste Abschiebung verboten. Die Drittstaatenregelung des Art. 16a Abs. 2 GG befand das Bundesverfassungsgericht vor knapp 30 Jahren dennoch für verfassungskonform, auch ohne dass die tatsächliche Sicherheit des Drittstaats in jedem Einzelfall geprüft werden müsse. Viele Jahre später ist der EGMR deutlich strenger: Die Zurückweisung aus der ungarischen Transitzone nach Serbien mit dem Verweis, Serbien sei ein Sicherer Drittstaat, verletzte der Großen Kammer zufolge Art. 3 EMRK. Staaten können sich demnach unter Berufung auf das Konzept des Sicheren Drittstaats gerade nicht vollständig ihren verfahrensrechtlichen Pflichten entziehen. Vielmehr verschiebt sich der Fokus: Prüfen Staaten die Asylanträge nicht selbst, müssen sie stattdessen die Lebensbedingungen sowie Asylverfahren des Sicheren Drittstaats hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit und Adäquanz prüfen (hier, S. 5).
Die rechtswidrige Anwendung des Konzepts der Sicheren Drittstaaten
In der Theorie muss ein Staat hohe Standards erfüllen, um als Sicherer Drittstaat eingestuft zu werden. Diese sollen nun an entscheidenden Stellen abgesenkt werden (vgl. Art. 38 Asylverfahrens-RL mit Art. 45 Asylverfahrens-VO-E). Ob damit die Grenze der menschenrechtlichen Mindestbedingungen erreicht ist, kann an dieser Stelle nicht abschließend beurteilt werden. Die Einhaltung dieser Standards durch Einzelfallprüfungen abzusichern, dürfte menschenrechtlich geboten sein. Solche Einzelfallprüfungen sieht der Entwurf (wenn auch eingeschränkt, vgl. den geänderten Wortlaut in Art. 45 Abs. 2b lit. a Asylverfahrens-VO-E) an verschiedenen Stellen vor.
In der Umsetzung zeigen sich dennoch zwei gravierende Probleme: Erstens stellt sich die Frage, welche Staaten bei einer sorgfältigen und rechtskonformen Anwendung überhaupt als Sichere Drittstaaten in Betracht kommen. Libyen und angesichts jüngerer Ereignisse auch Tunesien scheiden etwa aus. Ein besonders häufig angeführter Drittstaat ist die Türkei. Dies führt zum zweiten Problem: Bereits jetzt ist es an der griechisch-türkischen Grenze nicht mehr die Ausnahme, sondern vielmehr die Regel (S. 19), dass Asylanträge im Grenzverfahren unter Verweis auf die Türkei als Sicheren Drittstaat als unzulässig abgewiesen werden. Die Türkei kann jedoch derzeit nicht als Sicherer Drittstaat gelten: Zunächst sind die tatsächlichen Verfahrens- und Aufnahmebedingungen – siehe etwa hier und hier zu Berichten über türkische Abschiebungen in syrische Kriegsgebiete – zumindest fragwürdig. Zudem weigert sich die Türkei seit März 2020, Personen überhaupt wieder zurückzunehmen. Das ist aber zwingende Voraussetzung für die Anwendung des Drittstaatskonzepts (Art. 38 Abs. 4 AsylverfahrensRL), übrigens auch in der vorgeschlagenen Neuregelung (Art. 45 Abs. 7 AsylVerfahrensVO). Die griechischen Behörden wenden das Konzept dennoch weiterhin an (S. 23 ff.) und verweigern damit die gebotene Sachprüfung der Asylanträge. Zu dieser Praxis ist ein Vorlageverfahren beim EuGH anhängig.
Hier zeigt sich das politische Kalkül der Neuregelung: Anstatt auf der Einhaltung von etablierten rechtlichen Standards zu beharren, die in der bisherigen Praxis regelmäßig unterlaufen werden, senkt die Europäische Union die Standards weiter ab, um den rechtsbrüchigen Mitgliedsstaaten entgegenzukommen. Auch Befürworter*innen einer ausgedehnten Anwendung des Konzepts Sicherer Drittstaaten sollten die realen Umstände in den Drittstaaten, die in Frage kommen, in den Blick nehmen. Als möglicher Drittstaat diskutiert wird nicht mehr – wie noch 1996 vor dem Bundesverfassungsgericht – über das damalige Nicht-EU-Land Österreich. Es wäre bequem, wäre die EU umgeben von Staaten mit hohen menschenrechtlichen Standards und funktionierenden Asylsystemen. Allein das erlaubt jedoch nicht, die Augen vor der Realität zu verschließen.
Entweder Haft an der Grenze …
Unabhängig von der Art der Entscheidungen, die dort getroffen werden, gehen Grenzverfahren mit massiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit einher. Einige der Freiheitsbeschränkungen in geschlossenen Zentren oder Lagern überschreiten die Grenze zur Haft (was im Übrigen nicht bedeutet, dass anderenfalls keine menschenrechtlichen Standards gelten würden, siehe hier, Kap. 2). Zwar ist Haft im Einreisekontext nicht in jedem Fall menschenrechtswidrig, wie Thym richtig feststellt. Allerdings wirft sie doch erheblich größere menschenrechtliche Probleme auf, als der zitierte Beitrag suggeriert. Richtig ist, dass das Bundesverfassungsgericht 1996 bei Flughafenverfahren in Deutschland massive Einschränkungen gerade auch der Bewegungsfreiheit akzeptierte. Der EGMR stufte hingegen entsprechende Situationen damals schon als Haft ein – mit genau gegenläufiger Argumentation, s. Rn. 46 ff.
Von den niedrigen Anforderungen an die Rechtfertigung von Einreisehaft hat sich der EGMR inzwischen entfernt, indem er nunmehr Elemente einer Quasi-Verhältnismäßigkeitsprüfung in die Prüfung von Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. f EMRK einfließen lässt (siehe exemplarisch bezüglich Malta und allgemeiner hier Rn. 25 ff. des zweiten zustimmenden Sondervotums, das diesen Rechtsprechungstrend instruktiv zusammenfasst). Auch in jüngeren Entscheidungenstellte der EGMR – und übrigens auch der EuGH – die Rechtswidrigkeit von Inhaftierungen im Einreisekontext fest. Streng ist der Gerichtshof insbesondere bei der Inhaftierung Minderjähriger (z.B. hier und hier). In diesem Kontext ist es zu begrüßen, dass sich die Bundesregierung offenbar für eine Ausnahme einsetzen will, welche die Inhaftierung Minderjähriger verhindert. Es ist menschenrechtlich geboten, in eine solche Ausnahme nicht nur unbegleitete Minderjährige, sondern auch Minderjährige in Begleitung ihrer Eltern einzubeziehen: Mehrmals hat der EGMR die Einreisehaft von Kindern in Begleitung ihrer Eltern verurteilt – mit der Folge, dass die ganze Familie nicht inhaftiert werden durfte (so explizit hier, Rn. 238). Zudem bleibt die von Pichl aufgeworfene Frage offen, wie eine entsprechende Alterseinschätzung vor der Aufnahme ins Grenzverfahren gewährleistet werden soll. Auch hier drohen erhebliche Schwierigkeiten in der Rechtspraxis.
Bei alledem darf nicht vergessen werden, dass nicht nur das ‚Ob‘ der Inhaftierung menschenrechtliche Probleme aufwirft, sondern auch das ‚Wie‘. Die Unterbringungsbedingungen in Grenznähe stellen häufig unmenschliche Behandlungen dar und verletzen folglich Art. 3 EMRK, wie erst kürzlich für die Hotspots auf Lampedusa und – besonders eklatant – Samos entschieden.
… oder „faktisch offene Grenzen“?
All diese restriktiven Maßnahmen werden gerne mit einer vermeintlichen Alternativlosigkeit begründet, möchte man gänzlich offene Grenzen oder das Kollabieren des Asylsystems vermeiden. Vor „faktisch offenen Grenzen“ muss man sich noch lange nicht fürchten. Vielmehr gilt es, der durch das hartnäckig gepflegte Narrativ der ankommenden Massen und kollabierenden Grenzsysteme geschürten diffusen Angst mit Fakten entgegenzutreten. Dass es genügen würde, an irgendeiner europäischen Außengrenze das Wort ‚Asyl‘ zu äußern, um nach Deutschland einwandern zu können, ist jedenfalls nach der praktischen Erfahrung der Schutzsuchenden bloße Utopie. Zudem darf bei den Debatten um Weiterwanderung nach Deutschland nicht aus den Augen verloren werden, dass viele der Ankommenden tatsächlich schutzberechtigt sind. Im Jahr 2022 betrug die Schutzquote in Deutschland 56,2 Prozent (diese Zahl rechnet formale „Dublin-Ablehnungen“ mit ein – die bereinigte Schutzquote der inhaltlich geprüften Anträge betrug über 72 Prozent). Da empirische Studien zur Qualität der Grenzverfahren im Rahmen des aktuellen Gesetzgebungsprozesses nicht durchgeführt wurden (hier, S. 195), lässt sich nur mutmaßen, wie viele Schutzberechtigte zukünftig fälschlicherweise abgewiesen werden, weil es ihnen nicht gelingt, ihren Schutzbedarf in einem verkürzten Verfahren unter Haftbedingungen und mit mangelndem Zugang zu anwaltlicher Beratung und Rechtsmitteln geltend zu machen.
Für die Aufrechterhaltung menschenrechtlicher Schutzstandards
Die Diskussion um Asyl und Schutzsuchende kippt schnell in eine politische Grüppchenbildung. Es ist ein legitimes Ziel, in einem politisch heiklen Kontext staatliche Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Gleichwohl täten gerade diejenigen, die sich selbst der politischen ‚Mitte‘ zuordnen, gut daran, nicht jegliche menschenrechtsbasierte Kritik an den aktuellen Vorschlägen allzu polemisch als „rhetorische Eskalation“ von links zu betiteln oder pauschal in ein Plädoyer für offene Grenzen umzudeuten. Das Hoch- und Einhalten kodifizierter Menschenrechte sollten gerade Jurist*innen nicht als Instrument der politischen Linken abtun. Über die Ausgestaltung und Reichweite von Menschenrechten kann gewiss gestritten werden. Dieser Streit ist notwendigerweise immer (auch) politischer Natur. Die Geltung der Menschenrechte jedoch ist als maßgebliche Errungenschaft anzuerkennen und darf nicht zur Nebensache verkommen.
Es ist daher auch nicht illegitim, wenn im Diskurs um die GEAS-Reform Menschenrechte – ja sogar der Pathos-gefährdete Verweis auf die Menschenwürde – als Argument stark gemacht werden. Wie in diesem Beitrag aufgezeigt, bewegen sich die Änderungsvorschläge in einem menschenrechtlich hochsensiblen Bereich. Wo genau die roten Linien verlaufen, gilt es gerade auszudiskutieren. Selbst wenn man die Entwürfe als menschenrechtskonform einstufte – einige Punkte, die mit großen Fragezeichen zu versehen sind, wurden angesprochen – und die Probleme „nur“ in der praktischen Umsetzung sieht, so ist dies noch lange kein Grund, aufzuatmen. Auch ein Vorschlag, der auf dem Papier menschenrechtskonform wäre, aber erwartungs- und erfahrungsgemäß zu einer menschenrechtswidrigen Praxis führen wird, ist aus einer menschenrechtlichen Perspektive entschieden abzulehnen.
Der Beitrag umgeht argumentativ geschickt einen Aspekt der “faktisch offenen Grenzen” in meiner Kritik: Die Zulässigkeit mehrfacher Asylanträge im “einheitlichen” EU-Asylsystem, wenn nämlich das Dublin-System derzeit rechtlich und faktisch sehr häufig die Weiterwanderung nach Deutschland und andere “Nordstaaten” bedeutet (faktisch und rechtlich, vgl. Chancen-Aufenthaltsrecht, selbst für sehr viele Nicht-Schutzberechtigten). Grenzverfahren sind auch der Versuch, dieses Dilemma abzumildern, das nicht dadurch verschwindet, dass man es verschweigt. Pointiert: Der Beitrag akzentuiert völlig zu Recht das Refoulementverbot als Kern des Asylrechts, aber das beinhaltet eben Schutz vor Verfolgung – und nicht freie Wahl des Orts, wo man diesen Schutz erhält. Das gilt erst recht innerhalb der EU und prinzipiell auch für die Drittstaatskooperation.
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Es stimmt: EU-Binnengrenzen sind auch für Personen ohne regulären Status deutlich leichter passierbar, also offener, als EU-Außengrenzen – ohne dass das Non-Refoulement-Prinzip eine freie Ortswahl implizierte. Aber auch das derzeitige Dublin-System sieht im Grundsatz ein einziges Asylverfahren vor (Art. 3 Abs. 1 S. 2 Dublin-III-VO). Würden die Asylsysteme der Mitgliedstaaten an den Grenzen den rechtlichen Anforderungen entsprechen, würde weniger Weiterwanderung erfolgen bzw. könnten die Personen deutlich problemloser in den zuständigen Mitgliedstaat zurückgeschickt werden (ohne dass der Rücküberstellung durch Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK menschenrechtliche Grenzen entgegenstünden). Dann würde das System (bereits nach jetziger Rechtslage) mehrfache Asylverfahren verhindern. Den von der im Beitrag beschriebenen griechischen Praxis Betroffenen, deren Antrag weder in Griechenland noch – mangels Aufnahmebereitschaft – in der Türkei geprüft wird, kann man es kaum zum Vorwurf machen, dass sie weiterziehen, um anderswo eine Sachentscheidung zu erlangen. Daher könnte man es auch umdrehen: Was schon innerhalb der EU oft scheitert, ist umso schwerer mit Drittstaaten umzusetzen.
Nun lässt sich das Recht von der defizitären Praxis mitziehen. Die EU hat es nicht geschafft, sich auf eine tatsächlich solidarische Verteilung der ankommenden Schutzsuchenden zu einigen und nur eine Lösung gefunden, die massiv zulasten der Betroffenen geht. Sicher können Grenzverfahren der Weiterwanderung teils entgegenwirken. Der menschenrechtliche Preis hierfür ist aber hoch – insbesondere im Hinblick auf die Inhaftierungen und die erhöhte Gefahr der fälschlichen Abweisung Schutzberechtigter. Die sachliche Diskussion sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Situation an den Außengrenzen bereits derzeit desaströs ist und Menschen dort oftmals unrechtmäßigen und gewaltvollen Maßnahmen ausgesetzt sind – vonseiten europäischer Akteur*innen.
unabhängig von den genannten Problemen ignoriert der Asylkompromis weiterhin die Realität der Einwanderung: diese zukünftig hoffentlich super geplanten und eingerichteten Einreisezentren sollten eben auch über “normale” Einwanderung etwa für Arbeit und Studium ermöglichen. Werden diese Zentren eigentlich Kosularstatus oder derartiges haben?
“unabhängig von den genannten Problemen ignoriert der Asylkompromis weiterhin die Realität der Einwanderung”
Man muss auch sagen: völlig zu Recht.
Asyl und Einwanderung haben von ihrem Regelungsansatz nunmal zwei völlig unterschiedliche Perspektiven. Während es beim Asyl um die Perspektive auf und die Geschehnisse im Heimatland geht, geht es beim Thema Einwanderung um die Situation in Deutschland.
Dass es Sinn machen würde, in Deutschland endlich ein vernünftiges Einwanderungsgesetz auf den Weg zu bringen, liegt allerdings – insoweit bin ich ganz bei Ihnen – auf der Hand; nur eben unabhängig von dem nunmehr avisierten “Asylkompromiss.”
Der Beitrag enthält sicher eine durchaus valide Position contra der Asylverfahrensverschärfung, welche derzeit im Gespräch ist. Er zeigt aber selbst sehr eindrücklich, weshalb der Vorwurf einer rhetorischen Eskalation – jedenfalls im Hinblick auf den hiesigen Beitrag – durchaus eine Berechtigung hat.
Der Beitrag zeichnet sich eben nicht nur durch eine eindeutige Positionierung der Autoren aus, sondern nutzt geschickt Sprachelemente, um den Diskurs gezielt zu emotionalisieren und die Gegenposition als “menschenrechtsfeindlich” zu delegitimieren.
Ein Beispiel sind die in der Vielzahl genutzten, negativ konnotierten Adjektive “gravierende”, “zumindest fragwürdig”, “rechtsbrüchigen”, “massiven”, “geschlossenen”, etc. pp.
Darüber hinaus wird die – zugegebenermaßen geplante – Internierung von Flüchtigen an der EU-Außengrenze und der Hinderung der Einreise unzulässig skandalisierend als “Haft” bezeichnet wird. Zurecht entschied das Bundesverfassungsgericht hier: “Das Grundrecht des Art.2 Abs.2 Satz 2 GG schützt die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen. Sein Gewährleistungsinhalt umfaßt von vornherein nicht eine Befugnis, sich unbegrenzt überall aufhalten und überall hin bewegen zu dürfen. Demgemäß liegt eine Freiheitsbeschränkung nur vor, wenn jemand durch die öffentliche Gewalt gegen seinen Willen daran gehindert wird, einen Ort oder Raum aufzusuchen oder sich dort aufzuhalten, der ihm an sich (tatsächlich und rechtlich) zugänglich ist (vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art.104 Rn.12). Der Tatbestand einer Freiheitsentziehung (Art.104 Abs.2 GG) kommt ohnehin nur in Betracht, wenn die – tatsächlich und rechtlich an sich gegebene – körperliche Bewegungsfreiheit durch staatliche Maßnahmen nach jeder Richtung hin aufgehoben wird.”
Die Situation ist auch nicht vergleichbar mit Abschiebeclustern am Flughafen, da dort faktisch tatsächlich die Freiheit eingeschränkt ist, da der Flughafen von dem Land, in das man nicht einreisen darf umgeben ist und somit faktisch kein Raum besteht, wo man sich (rechtmäßig) hinbegeben kann. Dies ist an einem Grenzübergang anders. Dort kann man immer in die Richtung zurückkehren aus der man kam.
Im Ergebnis ist diesem Beitrag eine rhetorische Eskalation nicht abzusprechen. Ein sachlicher Beitrag hätte dem Diskurs gut getan und hätte nicht auf den Menschenrechtsbezug verzichten müssen.
Eine kurze Ergänzung zur Terminologie “Haft” Die Differenzierung zwischen Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentziehung ist tatsächlich zentral – daher leitet sie auch den entsprechenden Absatz im Beitrag ein. Diese Unterscheidung kommt auch in der Rechtsprechungspraxis des EGMR prominent vor (restriction of liberty deprivation of liberty; nur letzteres ist “detention” im Sinne von Art. 5 EMRK und eröffnet dessen Anwendungsbereich). Nur in diesem Zusammenhang verwenden wir auch den Begriff “Haft”. Den Vorwurf, wir würden dieselbe Terminologie für die bloße Verhinderung der Einreise oder für Freiheitsbeschränkungen nutzen, weise ich zurück.
Ob “Haft” vorliegt hängt, wie Sie richtig sagen, von den tatsächlichen Begebenheiten ab. Die zitierten EGMR-Entscheidungen geben einen Überblick über die maßgeblichen Kriterien. Der Punkt ist: Unter Umständen ist der Anwendungsbereich von Art. 5 EMRK erfüllt. Dann müssen die Voraussetzungen eines Haftgrundes nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK vorliegen. Diese Voraussetzungen sind nicht immer erfüllt, wie die zitierten Entscheidungen belegen. Dann liegt (menschen-)rechtswidrige Haft vor. Ich wüsste nicht, wie ich das nüchterner ausdrücken soll.
Das gleiche hilt für die von Ihnen aufgelisteten Adjektive – zum Beispiel “geschlossene Zentren”: Ein Vorbild für die Einrichtungen, in denen Grenzverfahren stattfinden sollen, sind die – von den griechischen Behörden offiziell so betitelten – “Closed Controlled Access Centres”. Das Adjektiv “geschlossen” ist nicht unsere Zuschreibung, sondern steht im Namen der Einrichtung.
Man kann darüber streiten, ob Tatbestandsmerkmale erfüllt sind oder nicht. Der Vorstellung, der Diskurs wäre sachlicher, wenn rechtlich weniger zutreffende Begriffe verwendet würden, möchte ich aber doch entschieden entgegentreten.
im Vergleich mit anderen Beiträgen, die in diversen Medien ihre Kritik äußern, ist der Vorliegende überaus sachlich, inhaltlich fundiert und auch sprachlich zurückhaltend….
Vielen Dank auch für diesen Kommentar. Einige wenige Gedanken zur Klarstellung: Eine Positionierung war in obigem Beitrag gerade beabsichtigt, womit die Verwendung negativer Wörter bewusst einhergeht. Eine sachliche Diskussion sollte nicht mit einer ‚neutralen‘ verwechselt werden. (Und bei der Subsumtion unter die Voraussetzungen der Haft sollten in diesem Kontext eher die EMRK und entsprechend die Rechtsprechung des EGMR in den Blick genommen werden).
In meinen Augen ist der Debatte gerade im rechtlichen Kontext weniger eine Emotionalisierung als vielmehr eine fehlende Kontextualisierung vorzuwerfen: Die meisten Diskussionsteilnehmenden in Deutschland haben wohl kaum vor Augen, wie drastisch, wie eskaliert die Situation an den europäischen Außengrenzen bereits ist.
Niemand hat einen “neutralen” Beitrag angemahnt. Man kann durchaus eine juristische Position darstellen und verteidigen. Sie haben beide das erste Staatsexamen offenkundig hervorragend bestanden (Sie haben beide die Voraussetzung für eine Promotion erreicht). Dann kennen Sie beide auch die juristisch-sachliche Herangehensweise an eine durchaus kontrovers diskutierte Rechtsfrage:
1. Darstellung des Problems, 2. Darstellung der unterschiedlichen Positionen, 3. eigene Positionierung und Begründung.
Tatsächlich lässt sich um das Argument “Haft – ja oder nein” juristisch durchaus streiten. Eine stringente juristische Argumentation wird aber durch Emotionen eher entwertet als verstärkt. Juristisch stringent wäre gewesen die konträren Positionen des BVerfG und des EGMR herauszuarbeiten, um dann die von Ihnen bezogene Begründung des EGMR mit Argumenten als die stärkere herauszustellen. Stattdessen gehen Sie auf den Streit in der Frage der Auslegung des Begriffs (und die Besonderheiten eines Airport-Clusters) nicht ein, sondern erklären apodiktisch die Position des EGMR als die richtige. Das ist – mit Verlaub – nicht der juristische Weg.
Dieses bewährte System (sachlicher) juristischer Argumentation verlassen Sie, um einen politischen Meinungsartikel zu schreiben. Das ist durchaus legitim und bei einem solchen ist auch legitim emotionalisierende Sprache zu verwenden, um einen politischen (aber eben keinen juristischen) Punkt zu machen. Allerdings müssen Sie sich dann – zumindest meines Erachtens – die Kritik fehlender juristischer Sachauseinandersetzung durchaus gefallen lassen.
Es scheint, der Zeitgeist der jederzeitigen “Kontextualisierung” bzw. “Einordnung” von Argumenten und Positionen erfasst nunmehr die Rechtswissenschaft. Allerdings zeigt der hiesige Beitrag, dass Ihre offenkundige Anteilnahme am Schicksal der an der Grenze festsitzenden, die juristische Argumentationsqualität hier an einem entscheidenden Punkt schwächt.
Das zentrale Argument das ich ausmachen kann, ist kein rechtliches, sondern ein tatsächliches: es wird behauptet, im dritten Absatz unter “Die rechtswidrige Anwendung des Konzepts der Sicheren Drittstaaten” , dass die Grenzverfahren, den rechtswidrig handelnden Staaten entgegenkommen.
Das spricht nicht gegen das Grenzverfahren als solches, sondern gegen die praktische Umsetzung durch die Mitgliedstaaten.
Die Forderung sollte also nicht lauten: “um alles in der Welt bloß keine Grenzverfahren”, sondern “rechtmäßige Grenzverfahren”.
In den Medien und leider auch in diesem Beitrag (wie das obige Kommentar aufzeigt) wird ein Bild konstatiert, es handle sich bei den Reformanstrebungen um eine Menschenrechtswidrige Verschärfung der Asylverfahren.
Dabei wird allerdings nicht betont, dass nicht der rechtliche Rahmen Menschenrechte verletzt, sondern allenfalls deren rechtswidrige Umsetzung.
Das macht eine wesentlichen Unterschied, der nur selten zu Ausdruck kommt.
Das ist in der Tat ein wichtiger Unterschied. Daher widmen wir ihm auch die letzten beiden Sätze des Textes:
“Selbst wenn man die Entwürfe als menschenrechtskonform einstufte – einige Punkte, die mit großen Fragezeichen zu versehen sind, wurden angesprochen – und die Probleme „nur“ in der praktischen Umsetzung sieht, so ist dies noch lange kein Grund, aufzuatmen. Auch ein Vorschlag, der auf dem Papier menschenrechtskonform wäre, aber erwartungs- und erfahrungsgemäß zu einer menschenrechtswidrigen Praxis führen wird, ist aus einer menschenrechtlichen Perspektive entschieden abzulehnen.”
Ich kann nur für mich sprechen, aber meine Forderung lautet keineswegs “um alles in der Welt bloß keine Grenzverfahren” – sondern: “Besser keine Grenzverfahren, als solche Grenzverfahren, deren Umsetzung zu Menschenrechtsverstößen führen wird.” Diese Prognose ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern speist sich aus den bisherigen Erfahrungen mit Grenzverfahren.