25 May 2023

Showdown zur Asylpolitik in Brüssel

Es droht kein Ausverkauf der Menschenrechte

In Brüssel beginnt in Kürze der Endspurt für die EU-Asylrechtsreform. Heftige Kritik erfährt hierbei die deutsche Verhandlungsposition. Sie stütze eine „Aushebelung“ von Flüchtlingsschutz und Menschenrechten, flankierend identifizierte Pichl auf dem Verfassungsblog einen „reaktionären Wind“ und sah eine Seehofersche Politik fortgesetzt, was in linken Kreisen als Übel gilt. Ein Kolumnist holte die verfassungspatriotische Bazooka heraus: Angriff auf die Menschenwürde! Dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) strenge Grenzverfahren, Drittstaatsklauseln und reduzierte Asylverfahrensrechte ausdrücklich als menschenwürdekonform erachtete, wird dabei geflissentlich ignoriert.

Nun könnte man die rhetorische Eskalation als typisches Phänomen des Twitter-Zeitalters abtun und meine Einwände – „BVerfG sieht es anders“ – als professorale Besserwisserei. Doch es geht um mehr: Die politische Mitte darf nicht die Fähigkeit verlieren, in der Migrationspolitik widerstreitende Zielvorgaben auszugleichen. Die pragmatische Lösungssuche droht zwischen den binären Alternativen faktisch offener Grenzen und einer gewaltsamen Abschottungspolitik zerrieben zu werden.

Die Steuerung der Asylmigration ist legitim

Einen Ausgleich will die Bundesregierung durchaus, nachdem noch der Koalitionsvertrag sich zur EU-Debatte nicht klar positioniert hatte. Das „Leid an den Außengrenzen“ und Pilotprojekte für eine solidarische Verteilung wurden ebenso erwähnt wie eine Rückführungsoffensive, Migrationsabkommen mit Drittstaaten und, horribile dictu, externalisierte Asylverfahren. Ganz allgemein will die Regierung legale Migration ermöglichen und „irreguläre Migration reduzieren“ – was offensichtlich auf die Asylmigration abzielt, weil vor allem diese irregulär stattfindet.

Ob man nun von der aktuellen Regierungsposition enttäuscht ist oder nicht, ist naturgemäß subjektiv. Mich überrascht das Ergebnis nicht. Schließlich regiert die SPD seit zehn Jahren. Innenminister Seehofer vertrat die Politik einer Großen Koalition (und verzichtete dafür auf Zurückweisungen). Faeser steht also in der Tradition der „Flüchtlingskanzlerin“ Merkel, hat aber dennoch ein „linkeres“ Profil. Das Aufnahmeprogramm Afghanistan, großzügige Bleiberechte für abgelehnte Asylbewerber, der Doppelpass und legale Zuwanderung für mittelqualifizierte Menschen. Über all dies kann man trefflich streiten. „Rechts“ ist es nicht.

Für den anstehenden Showdown auf EU-Ebene folgt hieraus, dass Deutschland in Brüssel einen Mittelweg zwischen kruder Abschottung und faktisch offenen Grenzen unterstützt. Auf offene Grenzen laufen die Forderungen der linken Regierungskritiker hinaus, die Grenzverfahren, innereuropäische Überstellungen („Dublin-System“) oder Drittstaatsklauseln als menschenrechtswidrig oder inhuman zurückweisen. Wer an der Außengrenze „Asyl“ sagt, kann dann faktisch nach Deutschland einwandern, zumal dieselben Akteure alles kritisieren, was die spätere Rückführung ermöglich soll.

Das kann man so wollen, muss es jedoch nicht – es sei denn man erachtet, wie der Asta der Uni Frankfurt, bereits das Steuerungsziel als solches als rechtspopulistisch. Dabei verfolgen eben dieses der UN-Migrationspakt, der 17 mal von Steuerung spricht, § 1 AufenthG („Steuerung und Begrenzung“), Artikel 79 AEUV und der aktuelle Koalitionsvertrag („aktiv und ordnend“, „irreguläre Migration reduzieren“).

Wer der politischen Mitte die Legitimität abspricht, die Asylmigration ordnend zu steuern, verkennt, wo der eigentliche Gegner sitzt. Längst gibt es nämlich eine dritte Alternative neben faktisch offenen Grenzen und einem ordnenden Steuern. Victor Orbán will Migration „stoppen“, anstatt diese wie Brüssel zu managen; die FPÖ nutzt die „Festung Österreich“ als Werbeslogan; australische und britische Regierungen setzen auf: „stop the boats“; und Dänemark will „zero asylum seekers“.

Steuerung im Einklang mit den Menschenrechten

Nachfolgend werde ich in der gebotenen Kürze dartun, dass die EU-Vorhaben menschenrechtskonform sind – im vollen Bewusstsein dafür, dass der sprichwörtliche Teufel im Detail steckt. Es geht also nicht darum, die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) oder die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zu überarbeiten, wie dies Jens Spahn andachte.

Dabei bleibt es jedoch nicht. Meine Überlegungen sind keine Apologetik der Brüsseler Projekte, geschweige denn der Abschottungspolitik einzelner Länder wie Griechenland oder Polen. Mir scheint, dass der sich abzeichnende EU-Kompromiss halbherzig bleibt. Selbst wenn eine politische Einigung gelänge und in den Folgejahren halbwegs ordentlich umgesetzt würde, bestünden zentrale Strukturdefizite des europäischen Asylrechts fort. Eine konsequente Lösung sollte deutlich weitergehen als die richtigen Ansätze der EU-Kommission und der Bundesregierung.

Grenzverfahren nur für eine Minderheit

Wenn es kein Asylrecht gäbe, müssten die meisten Asylsuchenden kurzerhand zurückgewiesen werden, weil sie die gesetzlichen Einreisevoraussetzungen nicht erfüllen. Demgemäß erfolgt die Gebietszulassung „ausschließlich zum Zwecke des Verfahrens“ (hier, Art. 9). Ein Aufenthaltsrecht gibt es erst nach der Anerkennung. Allein deshalb ist der Gedanke von Grenzverfahren bzw. Transitzonen einleuchtend, weil nämlich erst geprüft werden muss, ob ein Asylgrund vorliegt oder nicht. Tatsächlich gibt es Grenzverfahren europaweit schon heute. Am Frankfurter Flughafen auch in Deutschland – mit ausdrücklicher Billigung des BVerfG.

Künftig sollen Grenzverfahren in der EU länger dauern und mehr Personen erfassen, wobei die Details hoch umstritten sind (hier, Art. 43a ff.). Die Bundesregierung will sie nur bei einer Anerkennungsquote von weniger als 15 % gutheißen. Wenn sich dies durchsetzte (was unwahrscheinlich ist), änderte sich wenig. Doch selbst nach der strengeren Ratsmeinung werden künftig viele Herkunftsländer nicht vom Grenzverfahren erfasst. Deren Bürger reisen sofort ein und besitzen damit eine faktische Reisefreiheit.

Im Schengen-Raum ist das nicht nachhaltig. Stattdessen sollten langfristig Grenzverfahren für nahezu alle Asylsuchenden eingeführt werden. Eine Einreise erfolgt erst nach einem positiven Bescheid. Um Perspektivlosigkeit vorzubeugen, dürften auch abgelehnte Asylsuchende irgendwann einreisen, wenn die Rückführung scheitert, weil die Heimatländer selbst attraktive Gesamtpakete mit legalen Arbeitsmöglichkeiten ausschlagen.

Keine Reisefreiheit während der Asylprüfung

Die viel kritisierte „Fiktion der Nichteinreise“ erscheint in einem anderen Licht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Aufenthalt anfangs nur zum Zweck der Antragsprüfung gestattet wird. Eine Rechtlosigkeit folgt daraus nicht, weil in Transitzonen die Grundrechte vollauf gelten. Gleiches gilt für gesetzliche Unterbringungsstandards und das Asylverfahrensrecht. Europa muss sich dafür schämen, dass dies in einigen Hotspots anders war und ist, weshalb perspektivisch die EU-Asylagentur und Frontex vielerorts die Grenzverfahren betreiben sollten (in Brüssel wird dies derzeit nicht einmal mittelfristig als Option diskutiert).

Sinn und Zweck der Grenzverfahren ist die Asylprüfung ohne Reisefreiheit. Für die Anfangsphase besteht insofern eine „haftähnliche“ Situation, weil nach BVerfG und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nicht jede „Beschränkung“ der Bewegungsfreiheit zugleich eine „Entziehung“ (Haft) darstellt. Bei einer Verfahrensdauer von zwölf Wochen und länger schlägt die Beschränkung irgendwann in eine Haft um. Gerade im Einreisekontext ist dies jedoch keine grundrechtliche Tabuzone.

Im Gegenteil schlussfolgerte die Große Kammer des EGMR entgegen UNHCR, dass im Einreisekontext ein niedrigerer Standard greift (hier, Rn. 66-80), ohne dass abschließend geklärt wäre, ob dieser auf die EU-Grundrechtecharta übertragbar ist. Wiederholt akzeptierte der EGMR ein mehrmonatiges Festhalten in maltesischen Transitzonen, wenn angemessene Haftbedingungen existieren. Jüngere Urteile sind strenger, weil nationales Recht unklar oder EU-Vorgaben großzügiger waren. Wenn sich dies ändert, wird sich die Große Kammer an das Grundsatzurteil erinnern. Alles Weitere bleibt ausführlicher zu diskutieren.

Verantwortungsteilung mit Drittstaaten

Vereinfacht kann man zwei Formen der Drittstaatskooperation unterscheiden. Erstens die präventive Vorfeldkontrolle, wenn Nachbarn dafür sorgen, dass weniger Menschen die Außengrenzen erreichen und dort Asyl beantragen. Diese „Externalisierung“ floriert seit Jahren (hier, Kap. 18), hat jedoch mit der EU-Gesetzgebung nichts zu tun. Ein Konnex besteht allenfalls mittelbar. Solange die EU intern über die Verteilung streitet und keine effizienten Grenzverfahren hinbekommt, wird die Externalisierung immer attraktiver. Wenn weniger kommen, gibt es weniger Streit.

Zweitens kann man Asylsuchende, die in der EU einen Asylantrag stellten, an sichere Drittstaaten oder sogenannte erste Asylländer selbst dann überstellen, wenn sie prinzipiell schutzberechtigt sind. Derartige Klauseln gibt es schon heute (hier, Art. 35-39), allerdings mit großzügigen Standards. Deshalb setzte sich Angela Merkel im Juni 2017 dafür ein, dass der Europäische Rat sich konsensual dafür aussprach, die Anforderungen auf das flüchtlings- und menschenrechtliche Mindestschutzniveau abzusenken. Daran wird noch gearbeitet, die finale Abstimmung folgt bald.

Hintergrund war und ist der Wunsch, die Logik der EU-Türkei-Vereinbarung auf südliche Nachbarstaaten übertragen zu können. Ganz konkret will die Bundesregierung sichere Teilgebiete größerer Länder akzeptieren, jedoch am (völkerrechtlich unverbindlichen) Verbindungskriterium festhalten. Dies verhinderte, dass Menschen, die über Libyen einreisen, nach Ruanda überstellt werden. Das kann man so machen, allein es verhinderte typischerweise auch eine Überstellung etwa nach Tunesien.

Ohnehin gibt es keinerlei Garantie, dass leichter anzuwendende sichere Drittstaatsklauseln praktisch auch genutzt werden. Wenn die NGOs vor umfassenden Überstellungen warnen, übersieht dies nicht nur, dass weiterhin jeder Einzelfall geprüft wird (hier, Art. 44(2)(a), 45(2b)(a), 47(4)) und die Sicherheitsgewährleistung real sein muss (hier, Art. 48-50). Vor allem jedoch scheiterten die allermeisten Versuche, Drittstaaten davon zu überzeugen, für die Europäer offen die „Drecksarbeit“ zu machen. UNHCR kann damit übrigens durchaus leben, solange eine ehrliche und solidarische Zusammenarbeit jenseits einer Abschottung stattfindet.

Schlanke Asylverfahren

Eine Lehre aus der Brüsseler Entscheidung, die Ukraine-Vertriebenen nicht durch reguläre Asylverfahren zu schleusen, besteht in den Vorzügen prozeduraler Simplizität. Deren schlanke und unbürokratische Aufnahme kontrastiert mit den europaweit schleppenden Asylverfahren. Der aktuelle Verhandlungsstand lässt nicht erwarten, dass sich hieran viel ändern wird. Im Gegenteil besteht speziell das Europäische Parlament auf zahlreiche weitere Verfahrensschritte mit behördlichen Begründungspflichten und zusätzlichen Rechtsschutzoptionen, während der Rat zwar Ausnahmen vorsieht, ohne jedoch die Grundstruktur anzutasten.

Drei notwendig selektive Beispiele. Erstens behaupten einige, dass eine Rückführung voraussetzte, dass ein Gericht in der Hauptsache entschied. Das Parlament fordert das nicht mehr (weshalb viele grüne MEPs nicht dafür stimmten). Menschenrechtskonform ist es (hier, S. 16 f.). Zweitens müssen Grenzverfahren angeordnet und Ausnahmen geprüft werden. Soweit dies Haft beinhaltet, erfordert dies gesonderte Begründungen, die isoliert anfechtbar sind. Drittens sind diverse Vulnerabilitätsprüfungen obligatorisch, die sodann eine andere Behandlung nach sich ziehen.

Für all diese Verfahrensschritte gibt es Gründe, allein sie kosten Zeit und Ressourcen. Dem europäischen Asylrecht droht auch nach der Reform eine überbordende Komplexität, weshalb schnelle und faire Verfahren illusorisch bleiben dürften. Ein struktureller Ur-Fehler der EU-Harmonisierung besteht darin, die Erfahrungen der klassischen Zielstaaten verallgemeinert zu haben. Diese Pfadabhängigkeit einer prozeduralen Verästelung ist ein Stolperstein, den die aktuelle Reform nicht beseitigt. Um zwingende menschenrechtliche Vorgaben geht es hierbei nur am Rande.

Keine faktisch freie Zielstaatswahl

Ein weiterer Designfehler der EU-Harmonisierung ist das Dublin-System, das mehr umfasst als das strukturell unfaire Ersteinreisekriterium, wonach häufig die Außengrenzstaaten einen Asylantrag prüfen müssen. Zugleich erlaubt das EU-Asylrecht nämlich mehrfache Asylanträge und setzt im Fall einer irregulären Sekundärmigration auf reaktive Überstellungsverfahren, die meistens scheitern. Ganz konkret folgt hieraus, dass eine Person, die unerlaubt nach Deutschland weiterreist, hierzulande ein zweites Asylverfahren bekommt, wenn etwa Italien sie nicht zurücknimmt.

Im Schengen-Raum ist das ein Rezept für Dysfunktionalität (hier, S. 103 ff.) – und vergiftet noch dazu die Debatte, wenn sowohl Italien als auch Deutschland sich nachvollziehbar beschweren, dass die EU-Regeln sie benachteiligen. Ein großer Schwachpunkt der Kommissionsvorschläge war von Anfang an, die Grundstrukturen der Dublin-Verordnung beibehalten zu haben. Das ist wohlgemerkt keine Forderung nach einer Verteilungsquote, die realpolitisch illusorisch bleibt und für sich genommen die Sekundärmigration nicht beseitigt. Quoten sollten zum Instrumentarienkasten einer Dublin-Reform gehören, nur eben der Königsweg sind sie nicht.

Wenn die Bundesregierung sich für punktuell längere Überstellungsfristen einsetzt, ist dies nachvollziehbar, beseitigt jedoch – ebenso wie die gesamte Brüsseler Debatte – nicht die Designfehler. Einfache Lösungen gibt es nicht. Allerdings könnte eine langfristige Vision darin bestehen, künftig nur noch einen Asylantrag zuzulassen und ordentliche Lebensbedingungen in ganz Europa möglichst einheitlich zu gewährleisten, die wohl nicht das deutsc