27 October 2023

Das Ende der Linksfraktion, nur wann?

Sahra Wagenknecht und weitere neun Abgeordnete der Fraktion „Die Linke im Bundestag“ sind am Montag aus der Partei „Die Linke“ ausgetreten. Zugleich haben die ausgetretenen Parteimitglieder den Verein „Bündnis Sahra Wagenknecht“ gegründet und angekündigt, damit die Gründung einer neuen Partei vorzubereiten. Dennoch möchten sie vorerst Mitglied ihrer Bundestagsfraktion bleiben. Ob die Fraktion den vorübergehenden Verbleib unterstützt, soll sich in der übernächsten Woche entscheiden. Auf den ersten Blick scheint das Fraktionsende bis auf Weiteres aufgeschoben, weil die nun ausgetretenen Parteilosen noch keiner konkurrierenden Partei angehören.

Doch auf den zweiten Blick könnte das Gebot der politischen Homogenität einer Fraktion das Ende der Linksfraktion schon jetzt besiegeln: Dürfte der Bundestag der Linksfraktion den Fraktionsstatus aberkennen? Oder hat die Fraktion ihren Rechtsstatus bereits am Montag automatisch verloren?

Die Parteimitgliedschaft als Voraussetzung einer Fraktion

Das „Fraktionsbildungsrecht koalitionswilliger Abgeordneter“ – verfassungsrechtlich aus Art. 38 I 2 GG abgeleitet – bildet die legitimatorische Grundlage für Fraktionen.1) Sie üben eine „Scharnierfunktion“ aus, indem sie das Parlament mit den Parteien verbinden und verschränken. Zudem sind Fraktionen unerlässlich, um die parlamentarische Arbeit zu strukturieren und die Entscheidungen des Gesetzgebers vorzubereiten. Der einfache Gesetzgeber hat das Recht zur Fraktionsbildung in § 53 I AbgG deklaratorisch ausformuliert, ohne jedoch weitere Bedingungen aufzustellen. Vielmehr hat der Bundestag als Geschäftsordnungsgeber – gedeckt von seiner Geschäftsordnungsautonomie aus Art. 40 I 2 GG – die Voraussetzungen zur Fraktionsbildung näher konkretisiert: Nach § 10 I 1 GO-BT sind Fraktionen „Vereinigungen von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages, die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen“. Damit wird die Bildung einer Fraktion von einer quantitativen und einer qualitativen Vorgabe abhängig gemacht.

Quantitativ ist eine Fraktionsmindeststärke erforderlich, um die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern. Nach dem BVerfG erfüllt die Mindestgröße von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages den weiten Gestaltungsspielraum des Parlamentes in verfassungsrechtlich zulässiger Weise.2) Auch wenn die Linkspartei bei der Bundestagswahl 2021 knapp an der 5%-Sperrklausel gescheitert ist, konnte sie aufgrund des Gewinns von drei Direktmandaten über die damals noch geltende Grundmandatsklausel3) mit 39 Abgeordneten und mithin in Fraktionsmindeststärke in den Bundestag einziehen. Nach dem Fraktionsaustritt von Thomas Lutze zählt die Fraktion mittlerweile nur noch 38 Abgeordnete. Sobald die Fraktionsmindeststärke – die im 20. Deutschen Bundestag bei 37 Abgeordneten liegt – unterschritten wird, erlischt der Fraktionsstatus automatisch.4) In der Folge endet gem. § 62 Abs. 1 Nr. 1 AbgG die Rechtsstellung der Fraktion; eine Liquidation findet statt.

Zehn Abgeordnete der Linksfraktion sind am Montag zwar aus der Linkspartei, nicht aber aus der Linksfraktion ausgetreten. Spätestens mit der geplanten Gründung einer neuen Partei Anfang 2024 möchten die nun parteilosen Abgeordneten jedoch auch aus der Fraktion austreten, sodass dann die Fraktionsmindeststärke unterschritten und der Fraktionsstatus automatisch erlöschen würde. Alternativ könnten die anderen Fraktionsmitglieder schon jetzt die zehn parteilosen Mitglieder aus der gemeinsamen Fraktion ausschließen, würden damit jedoch den Fraktionsstatus opfern.

Das Gebot der politischen Homogenität einer Fraktion

Qualitativ setzt eine Fraktion eine politische Homogenität ihrer Mitglieder voraus, indem zuvorderst nur Abgeordnete eine Fraktion bilden können, die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen. Die privilegierte Stellung von Fraktionen ist nämlich nur dann gerechtfertigt, wenn sich auch wirklich koalitionswillige Abgeordnete zusammenschließen, die aus der gleichen politischen Grundhaltung heraus ein politisches Programm durchsetzen möchten.5) Andernfalls könnten sich z.B. radikale Gruppen verschiedener Parteien zusammenfinden, nur um die mit einer Fraktion verbundenen Vorteile in Anspruch zu nehmen. Wenn sich politisch heterogene Abgeordnete dennoch zusammenschließen möchten, bedarf ihre Anerkennung als Fraktion gem. § 10 I 2 GO-BT der Zustimmung des Bundestages. Das Erfordernis der Anerkennung gewährleistet eine aktive Entscheidung des Parlamentes, die zwischen dem Assoziationsrecht der betroffenen Abgeordneten und der Funktionsfähigkeit des Bundestages abwägt.

Der Linksfraktion gehören seit Montag nicht mehr nur Mitglieder derselben Partei an, sondern auch solche, die aus genau dieser Partei ausgetreten und nunmehr parteilos sind. Der Wortlaut des § 10 I 1 GO-BT erfasst diesen Fall nicht ausdrücklich, sondern kann in die eine wie in die andere Richtung gedeutet werden: Zum einen könnte lediglich ein „parteiliches Konkurrenzverhältnis“ die politische Homogenität ausschließen, weil § 10 I 1 GO-BT nur Mitglieder konkurrierender Parteien negativ ausschließt, parteilose Fraktionsmitglieder aber nicht erwähnt. Zu einem parteilichen Konkurrenzverhältnis würde es demnach erst kommen, wenn die parteilosen Mitglieder einer anderen Partei beitreten (bzw. eine solche gründen) sollten. Zum anderen könnte die Fraktion ihre politische Homogenität jedoch bereits verlieren, sobald einzelne Mitglieder aus der die Fraktion tragenden Partei(en) austreten; ein parteiliches Konkurrenzverhältnis wäre nicht erforderlich. Insofern ließe sich z.B. darauf abstellen, ob „die Mitglieder der bestehenden Fraktion weiterhin als geschlossene politische Aktionseinheit auftreten oder gegeneinander arbeiten“,6) „die politische Homogenität der Fraktion ernstlich in Frage gestellt“7) ist oder „es konkrete Anhaltspunkte gibt, an ihrer politischen Geschlossenheit zu zweifeln“.8)

Gegen ein zwingend „parteiliches“ Konkurrenzverhältnis sprechen sowohl der Wortlaut als auch der Sinn und Zweck der Regelung: Erstens können gem. § 10 I 1 GO-BT nur solche Abgeordnete positiv Mitglied einer Fraktion werden, die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen. Den Fall eines parteilosen Mitglieds erfasst S. 1 gerade nicht, sodass § 10 I 2 GO-BT einschlägig ist. Zweitens erfährt eine Fraktion ihre Legitimation durch koalitionswillige Abgeordnete, die gemeinsam ein politisches Programm durchsetzen möchten. Wenn Mitglieder aus der entsprechenden Partei austreten, drücken sie damit für gewöhnlich ihre Missbilligung gegenüber dem politischen Kurs der Fraktion aus, zumal der Austritt aus einer Partei regelmäßig auch den Ausschluss aus der dazugehörigen Fraktion rechtfertigt.

Dass die zehn aus der Partei ausgetretenen Abgeordneten rund um Sahra Wagenknecht und die übrigen 28 Abgeordneten in der Zukunft noch geschlossen auftreten und ein gemeinsames politisches Programm verfolgen, dürfte eher nicht anzunehmen sein. Vielmehr möchten die Fraktionsmitglieder lediglich vorübergehend zusammenbleiben, um mit Rücksicht auf die Beschäftigten einen geordneten Übergang zu gewährleisten. Damit fehlt es aber an der gebotenen politischen Homogenität der Fraktion. Würden sich die 38 Mitglieder der Linksfraktion heute erneut zu einer Fraktion zusammenschließen wollen, könnten sie sich mangels politischer Homogenität gerade nicht auf § 10 I 1 GO-BT berufen, sondern müssten den Weg über S. 2 gehen und sich vom Bundestag anerkennen lassen.

Die Aberkennung des Fraktionsstatus oder dessen automatischer Verlust?

Wenn die qualitative Voraussetzung der politischen Homogenität entfallen ist, sind prinzipiell zwei rechtliche Folgen denkbar: Entweder könnte die Fraktion ihren Status automatisch verlieren9) oder der Bundestag dürfte der betroffenen Fraktion wegen Rechtsmissbrauchs den Fraktionsstatus aberkennen.10)

Für einen automatischen Verlust spricht, dass die Bildung einer Fraktion allein auf der positiven Erfüllung der zwei Voraussetzungen des § 10 I 1 GO-BT beruht und der Bundestag nicht über eine Anerkennung der Fraktion zu entscheiden hat. Wenn der actus contrarius zur Aberkennung aber fehlt, dürfte allein der Verlust der Voraussetzungen schon zum Erlöschen des Fraktionsstatus führen. Die damit verbundene Einschränkung der Assoziationsfreiheit der Abgeordneten kann allerdings nur mit der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Bundestages gerechtfertigt werden. Diese Abwägung sollte allein dem betroffenen Bundestag obliegen – trotz einer parlamentarischen „Entscheidung in eigener Sache“, schließlich wäre für die Anerkennung einer politisch heterogenen Fraktion gem. § 10 I 2 GO-BT ebenfalls der Bundestag zuständig. Ein Missbrauch durch die Parlamentsmehrheit scheint insofern ausgeschlossen, als der Fraktionsstatus nicht willkürlich, sondern nur aberkannt werden darf, wenn tragfähige Indizien (z.B. der Parteiaustritt) für einen Wegfall der politischen Homogenität überwiegen. Zudem lässt sich die mangelnde Rechtssicherheit bei einem automatischen Verlust anführen, die jedoch insbesondere für formale Verfahrensfragen notwendig ist. Denn anders als die quantitative Voraussetzung der Fraktionsmindeststärke kann die qualitative Voraussetzung der politischen Homogenität nicht unmittelbar festgestellt werden, sondern bedarf einer wertenden Betrachtung.

Im Ergebnis darf der Bundestag der Linksfraktion den Fraktionsstatus schon jetzt aberkennen; dazu verpflichtet ist er indes nicht. Spätestens mit dem Unterschreiten der Fraktionsmindeststärke von 37 Abgeordneten endet der Fraktionsstatus aber automatisch.

References

References
1 Lontzek/Dietsche, in: Austermann/Schmahl, Abgeordnetenrecht, 2. Aufl. 2023, AbgG § 53 Rn. 5 mwN.
2 BVerfGE 84, 304 (322); 96, 264 (279).
3 Inzwischen wurde die sog. Grundmandatsklausel des § 6 Abs. 3 S. 1 Var. 2 BWG a.F. durch das Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 08.06 2023 (BGBl. I Nr. 147) ersatzlos gestrichen.
4 Klein/Schwarz, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, 101. EL Mai 2023, Art. 38 Rn. 277 mwN.
5 Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 40 Rn. 70.
6 Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 40 Rn. 77.
7 Klein/Krings, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2015, § 17 Rn. 13
8 Butzer, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 56. Ed. 15.08.2023, Art. 38 Rn. 185; Lontzek/Dietsche, in: Austermann/Schmahl, Abgeordnetenrecht, 2. Aufl. 2023, AbgG § 53 Rn. 37.
9 Ipsen, NVwZ 2006, 176 (178): „Zeitpunkt, zu dem das negative Tatbestandsmerkmal des § 10 I 1 GeschOBT entfällt“.
10 Butzer, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 56. Ed. 15.08.2023, Art. 38 Rn. 185; Klein/Krings, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, 2015, § 17 Rn. 13; Kluth, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 15. Aufl. 2021, Art. 40 Rn. 77; Lontzek/Dietsche, in: Austermann/Schmahl, Abgeordnetenrecht, 2. Aufl. 2023, AbgG § 53 Rn. 42.

SUGGESTED CITATION  Klein, Jannik: Das Ende der Linksfraktion, nur wann?, VerfBlog, 2023/10/27, https://verfassungsblog.de/das-ende-der-linksfraktion-nur-wann/, DOI: 10.59704/5aad437647c4327c.

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