Ein Nachruf ohne Tränen
Durch die nun beschlossene Wahlrechtseform tritt erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die begrüßenswerte Situation ein, dass die Fünfprozenthürde wirklich ausnahmslos für alle Parteien gilt. Wenn manche Akteure das als schmerzhaft erleben, liegt das in erster Linie daran, das sie sich an das verfassungsrechtlich fragwürdige Privileg der Grundmandatsklausel zumindest als Sicherheitsnetz gewöhnt haben und es ihnen zugleich nicht mehr gelingt, verlässlich mehr als fünf Prozent der Wähler hinter sich zu versammeln. Ein irgendwie valides verfassungsrechtliches Argument kann gegen die Streichung der Klausel nicht vorgebracht werden.
Continue reading >>Demokratische Proteste als Majestätsbeleidigung des Grundgesetzes
Das „Grundgesetz 49“-Denkmal des israelischen Künstlers Dani Karavan unweit des Reichstags in Berlin zeigt die Art. 1-19 GG in ihrer Fassung von 1949 auf gläsernen Scheiben. Es mahnt zur Achtung und zum Schutz der Grundrechte. Am Samstag, den 04. März 2023 haben Klimaschutz-Aktivist:innen der „Letzten Generation“ es mit schwarzer Farbe übergossen. Auf die Glasscheiben klebten sie sodann Plakate mit den Aufschriften „Erdöl oder Grundrechte?“ und „In der Klimahölle gibt es keine Menschenwürde, keine Freiheit, kein Recht auf Leben“. Die breite und heftige Kritik, die die Aktion ausgelöst hat, hält einer juristischen Analyse nicht stand und stellt dem Zustand der freiheitlichen Demokratie in Deutschland kein gutes Zeugnis aus.
Continue reading >>Berlin hat gewählt, doch der Senat regiert weiter
Nachdem der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin am 16. November 2022 die Wahl zum 19. Abgeordnetenhaus vom 26. September 2021 für ungültig erklärt hatte, durften die Berliner Wahlberechtigten am vergangenen Sonntag erneut wählen. Auf den ersten Blick lief der Wahlabend für Franziska Giffey und ihre Berliner SPD alles andere als gut: Das schlechteste Wahlergebnis aller Zeiten bedeutet Platz 2 hinter der CDU und nur etwa hundert Stimmen vor den Grünen. Zwar haben sich damit die Kräfteverhältnisse innerhalb der regierenden rot-grün-roten Koalition verändert, doch eine parlamentarische Mehrheit hat das Bündnis behalten. Auf den zweiten Blick könnte sowohl der besondere Charakter der Wiederholungswahl als auch die Eigenart des sogenannten „ewigen Senats“ die Regierende Bürgermeisterin vor dem Machtverlust bewahren.
Continue reading >>Im asylrechtlichen Niemandsland zwischen Europa und Italien
Geflüchtete, für deren Asylanträge nach europäischem Recht grundsätzlich Italien zuständig wäre, können derzeit nicht dorthin überstellt werden – weil Italien die Rücknahme „vorübergehend“ eingestellt hat. Aus dem rechtlichen Niemandsland, in dem sich die Betroffenen dadurch befinden, müssen die Verwaltungsgerichte einen Ausweg finden. Doch das ist keine leichte Aufgabe.
Continue reading >>Is Criminality a Russian Virtue Worth Cultivating?
On 13 December 2022, the Russian State Duma unanimously approved, in the first reading, the bill on the imposition of Russian criminal law and criminal procedure upon the Donetsk, Kherson, Luhansk and Zaporizhzhia provinces of Ukraine. The Bill flagrantly infringes the Russian Constitution, criminal legislation and international law, essentially transforming the occupied territories of Ukraine into a lawless area. Yet again, the Bill underscores the imperial nature of the Russian war of aggression.
Continue reading >>Ein Hoffnungsschimmer, aber kein grünes Licht für Vergesellschaftung Berliner Wohnungsunternehmen
Die Expert:innenkommission zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer möglichen Vergesellschaftung bzw. Sozialisierung der in Berlin ansässigen Wohnungsunternehmen hat am 15. Dezember ihren ersten Zwischenbericht veröffentlicht. Schon eine Woche zuvor lag der Bericht mehreren Zeitungen vor und sorgte für entsprechende Schlagzeilen. Von Befürworter:innen wurde der Bericht bereits vor Veröffentlichung als „Zwischenerfolg“ gefeiert, die Kommission gebe „grünes Licht“ für Vergesellschaftungen. Das ist bei näherem Hinsehen aber nicht der Fall.
Continue reading >>Regieren der Erinnerung durch Recht
Knapp zwölf Jahre nach Ablauf der Umsetzungsfrist implementiert Deutschland die von einem EU-Rahmenbeschluss vorgegebene Pflicht, die Leugnung von Völkermorden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe zu stellen. Was ein hehres Ziel ist – die Bekämpfung von Geschichtsrevisionismus –, zieht Probleme nach sich, die zum Teil im Rahmenbeschluss selbst wurzeln, zum Teil in der deutschen Umsetzung.
Continue reading >>Masernimpfpflicht: Zur Notwendigkeit einer Debatte über die Grenzen des (bislang) erlaubten Risikos
Die Einführung einer Masernimpfpflicht für bestimmte Personenkreise markiert ein neuerliches Nachgeben gegenüber einem Zeitgeist, der immer weniger bereit ist, selbst altbekannte Gesundheitsrisiken zu tolerieren. Das Bundesverfassungsgericht gebietet dem keinen Einhalt – im Gegenteil. Als Gesellschaft sollten wir hierüber sprechen, zumal alles andere als ausgemacht ist, dass eben jene gesundheitsbezogene Risikoaversion mehr ist als ein medial getriebener Trend, dessen Akteure das kritische Fragen – gerade auch hinsichtlich vermeintlich uneingeschränkt feststehender naturwissenschaftlicher Wahrheiten – verlernt haben.
Continue reading >>Abschied von der Verhältnismäßigkeit?
Überraschen konnte der Beschluss des BVerfG zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht“ nicht: Die Pflicht, eine COVID-19-Schutzimpfung nachzuweisen, ist verfassungsgemäß. Der Beschluss vom 27. April 2022 führt die Neuausrichtung der Verhältnismäßigkeitsprüfung fort, die bereits in den Entscheidungen zur Bundesnotbremse vorangetrieben wurde.
Continue reading >>Z-Symbol, russische Flagge und Georgsband
Seit Wochen rufen prorussische Demonstrationen auf deutschen Straßen im In- und Ausland scharfe Kritik hervor. Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk hat ihre Duldung als „Riesenblamage Deutschlands“ bezeichnet und gefordert, das „Tragen aller offiziellen Symbole eines Aggressor-Staates“ zu verbieten. Tatsächlich konzentriert sich die Diskussion in Deutschland bislang zu sehr auf das überwiegend für strafbar gehaltene Z-Symbol. Denn das Gesetz scheint weitergehende Einschränkungen zu erlauben – die rechtlichen Grenzen sind jedoch nicht leicht zu ziehen.
Continue reading >>Repression by Law
China did not need 9/11 to further restrict civil and political rights, but it jumped onto the bandwagon in using the legitimizing force of counterterrorism to intensify its repressive policies. China’s so-called “People’s War on Terror” has had a stifling impact on the ability to practice Islam in China (and especially in Xinjiang) and is, when discussed in the context of counterterrorism and human rights, therefore best be characterized as a significant encroachment of religious freedoms, bringing China’s human rights record to a new low point in the 21th century.
Continue reading >>Sendeverbot durch Sanktionen
Die Europäische Union hat eine Reihe von Sanktionen gegen russische Staatsmedien erlassen. In normalen Zeiten wäre ein (quasi-)staatliches Verbot von Medien wohl erheblichen Einwänden ausgesetzt gewesen. Doch unter dem Eindruck der immer rücksichtsloseren Invasion Russlands in der Ukraine erhält die EU breite Zustimmung bei nur wenigen kritischen Stimmen. Trotzdem muss auf europäischer Ebene eine tragfähige und geeignete Rechtsgrundlage für den Kampf gegen staatliche Propaganda entwickelt werden. Statt auf das Sanktionsrecht sollte hierfür auf das Medienrecht gesetzt werden. Dafür sollte auf Unionsebene das Medienrecht nach deutschem Vorbild weiterentwickelt werden.
Continue reading >>Die Bundeswehr braucht klare Rechtsgrundlagen
Der russische Angriff auf die Ukraine hat Europa verändert. Auch die Auswirkungen auf das Völkerrecht der Friedenssicherung sind unabsehbar. Es zeichnet sich ein historischer Wendepunkt in der Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands ab. Innerstaatlich bieten die Umstände eine Gelegenheit, dringend notwendige Präzisierungen der sogenannten Wehrverfassung zu beschließen. Dabei soll nicht der Handlungsspielraum für Militäreinsätze erweitert, sondern die Rechtslage klargestellt werden. Das Völkerrecht sollte hier als Vorbild dienen.
Continue reading >>Three Constituent Peoples and “the Others”
This fall, presidential and general elections are supposed to take place in crisis-torn Bosnia and Herzegovina. Already in 2009, the electoral system in force and its approach of ethnic representation was found to be discriminatory in terms of the ECHR by the Strasbourg court’s famous Sejdić and Finci decision. Without necessary amendments to the Constitution and the Election Act, the country now risks facing an electoral boycott or entering an election process contrary to the ECHR for the fourth time in a row.
Continue reading >>Der Europarat muss Russland jetzt suspendieren
Der russische Angriff auf die Ukraine hat zahlreiche europäische Akteure unsanft aus dem Schlaf gerissen und die Träume von einem friedlichen Europa zerplatzen lassen. Nun gilt es Antworten zu finden, um den Krieg möglichst schnell zu beenden, aber auch zu fragen, welche Fehler gemacht wurden und wie die Zukunft Europas als Wertegemeinschaft gestaltet werden kann. Dies gilt auch in der aktuellen Situation für den Europarat und die Europaratspolitik der Mitgliedstaaten.
Continue reading >>Jenseits der roten Linien
Abgeordnete aus Russland sollten nicht an der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) teilnehmen können. Dies haben am vergangenen Montag, zu Beginn der neuen Sitzungsperiode, Abgeordnete aus der Ukraine und dem Baltikum gefordert und die Beglaubigungsschreiben der russischen Delegation angefochten. Am Mittwoch muss nun über diese abgestimmt werden, damit die russische Delegation ihr Mandat in der PACE aufnehmen kann. Auch die deutschen Delegierten sollten die russischen Beglaubigungsschreiben, wenn überhaupt, dann nur unter Auflagen ratifizieren.
Continue reading >>Auf heiklem Terrain
Die Zusage der Bundesregierung gegenüber der Europäischen Kommission, künftige Ultra-Vires-Feststellungen durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu vermeiden, ist verfassungsrechtlich mindestens bedenklich. Nicht nur aus Perspektive der richterlichen Unabhängigkeit handelt es sich hierbei um einen heiklen Vorgang. Auch in Hinblick auf die Unparteilichkeit und Distanz des BVerfG gegenüber den zu kontrollierenden obersten Bundesorganen wirft die Zusage möglicherweise Fragen auf.
Continue reading >>Der schmale Grat zwischen Mut und Murks
Mitte September 2021 ist in Berlin das „Gesetz zur Stärkung der Berliner Wissenschaft“ in Kraft getreten, das unter anderem eine Regelung zur Entfristung von Postdoktoranden vorsieht. Dass die gerade erst wiedergewählte Präsidentin der Humboldt-Universität, Sabine Kunst, Ende Oktober erklärt hat, wegen der Neuregelung zum Jahresende 2021 zurückzutreten, war dann ein leibhaftiger Paukenschlag, der das Thema auch bundesweit in die Schlagzeilen brachte. Verfassungsrechtlich begegnet die Regelung erheblichen inhaltlichen und formellen Bedenken.
Continue reading >>Eine Kommunikationsordnung für Soziale Netzwerke
Entscheide nach Deinen Regeln, aber entscheide rational, transparent und frei von Willkür. In diese Formel lassen sich die beiden Facebook-Urteile des Bundesgerichtshofs vom 29.7.2021 zum Umgang von Betreibern Sozialer Netzwerke mit nutzergenerierten Inhalten auf ihren Plattformen gießen. Eine prima facie-Auseinandersetzung mit den Urteilen auf Grundlage der Pressemitteilung zeigt, dass das Zivilrecht selbst unter Zuhilfenahme der mittelbaren Drittwirkung von Grundrechten keine abschließenden Antworten zu liefern vermag.
Continue reading >>Plattformregulierung durch AGB-Kontrolle?
Mit seiner gestrigen Entscheidung hat der BGH die zivilrechtliche AGB-Kontrolle als Instrument der Plattformregulierung endgültig aus dem Schatten des vielgescholtenen NetzDG geholt. Die Entscheidung des BGH, nach der sich der Betreiber das Recht zu Beitragslöschung bei Regelverstößen nur vorbehalten kann, wenn er zugleich hohe, vom Gerichtshof konkret bezeichnete Transparenzmaßstäbe einhält, stellt eine neue Stufe der zivilrechtlichen Regulierung dar – und wirft zugleich kritische Fragen nach ihrem Prüfungsmaßstab auf.
Continue reading >>Verfassungswidrige Staatsnähe
Am 22.06.2021 haben die Bundestagsabgeordneten der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, der FDP und der Linken beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle im Hinblick auf eine Regelung des saarländischen Mediengesetzes eingereicht. Diese sieht die Wahl und die vorzeitige Abberufung des Direktors der Saarländischen Medienanstalt durch den Landtag vor. Das ist mit dem Grundsatz der Staatsferne der Medien nicht vereinbar.
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