Systemwechsel im Wehrdienstrecht
Entlassung verfassungsfeindlicher Soldat*innen durch Verwaltungsakt
Am 17. November 2023 hat der Bundestag ein Gesetz „zur Beschleunigung der Entfernung von verfassungsfeindlichen Soldatinnen und Soldaten aus der Bundeswehr“ beschlossen (BT-Drs. 20/8672). Dieses Gesetz setzt zusammen mit dem gleichgelagerten Gesetzesbeschluss zur Beschleunigung von Disziplinarverfahren in der Bundesverwaltung (BT-Drs. 20/6435 u. BT-Dr. 20/9252) das Koalitionsversprechen der Ampel um, Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Öffentlichen Dienst und damit auch aus der Bundeswehr zu entlassen, nämlich durch Verwaltungsakt statt durch Disziplinarklage. Formal ist dieser Systemwechsel vom Richtervorbehalt zur Dienstherrenentlassung im Soldatenrecht verfassungsrechtlich unbedenklich. Auch der Wortlaut der neuen Normen ist verfassungsrechtlich unauffällig: Der Dienstherr entlässt nur in schwerwiegenden Fällen von Verfassungsfeindlichkeit und auch nur dann, wenn die betreffenden Soldat*innen für die Bundeswehr untragbar geworden sind. Wie bei allen unbestimmten Rechtsbegriffen kommt es aber auf deren Auslegung an und dabei zunächst auch darauf, was der Gesetzgeber will und wie der Dienstherr der betreffenden Soldat*innen mit seinem neuen Instrument folglich umgehen wird. Und hier deutet sich in der Gesetzesbegründung an, dass dem Gesetzgeber Anwendungsfälle dieses neuen Norminstrumentariums vor Augen zu stehen scheinen, bei denen eine beschleunigte Entlassung verfassungsfeindlicher Soldat*innen durch VA dem verfassungsrechtlichen Übermaßverbot nicht entsprechen wird.
Das Prozessrisiko tragen nun die Soldat*innen
Die Neufassung des Soldatengesetzes (SG) trifft vor allem Berufssoldat*innen (BS) und Soldat*innen auf Zeit, die bereits mehr als vier Jahre gedient haben (SaZ Ü4). Das Gesetz ergänzt § 46 SG um einen neuen § 46 Abs. 2a SG (neu). Diese neue Norm adressiert zunächst die BS. Ein Berufssoldat ist durch einen VA des Dienstherrn zu entlassen, wenn er als Einzelperson in schwerwiegender Weise verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt oder verfolgt hat, oder in schwerwiegender Weise einen verfassungsfeindlichen Personenzusammenschluss nachdrücklich unterstützt oder unterstützt hat, und sein Verbleiben im Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Vertrauen der Allgemeinheit in die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr ernstlich gefährden würde. Der Entlassung ist ein zweistufiges, formalisiertes Anhörungsverfahren nach 47a SG (neu) vorgeschaltet. Die Entlassungsverfügung durch den Dienstherrn ist sofort vollziehbar. Wehrbeschwerde und Anfechtungsklage haben keine aufschiebende Wirkung nach § 23 Abs. 6 WBO. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das anzurufende Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung von Beschwerde und Klage gegen die Entlassungsverfügung aber wiederherstellen. Den Berufssoldat*innen wird bis zur Unanfechtbarkeit der Entlassungsverfügung ein Überbrückungsgeld nach § 86b Abs. 1 SVG (neu) gewährt, das die Hälfte ihrer Dienstbezüge umfasst, aber bis zur Pfändungsfreigrenze des § 850c ZPO zurückzuzahlen ist, wenn die Bestandskraft der Entlassung eintritt.
Über § 55 Abs. 1 SG (neu) findet der Entlassungstatbestand auf alle Soldaten auf Zeit Anwendung. Soldaten auf Zeit, die noch nicht über vier Jahre gedient haben, können – im Sinne von Sollen – darüber hinaus aber auch weiterhin nach § 55 Abs. 5 SG fristlos entlassen werden, wenn sie ihre Verfassungstreuepflicht nach § 8 SG schuldhaft verletzt haben. Die §§ 29 Abs. 1 Nr. 6 und 30 Abs. 1 WPflG (neu) erstrecken den neuen Entlassungstatbestand auf Freiwillig Wehrdienstleistende. Über § 13 Abs. 2 ResG (neu) trifft er auch die Reservist*innen.
Der Systemwechsel ist formal verfassungsgemäß
Bislang wurden Soldat*innen – vor allem BS und SaZ Ü4 – für verfassungsfeindliches Verhalten ausschließlich disziplinarisch belangt. Kam wegen eines besonders gravierenden Verstoßes gegen ihre Verfassungstreuepflicht aus § 8 SG eine schwere statusrelevante Disziplinarmaßnahme wie etwa ein Beförderungsverbot, die Herabsetzung in der Besoldungsgruppe, eine Dienstgradherabsetzung oder die Entfernung aus dem Dienst nach § 58 WDO in Betracht, musste der Dienstherr eine Disziplinarklage in der Truppendienstgerichtsbarkeit einleiten. Eine Entlassung stand oftmals erst am Ende eines mittlerweile i.d.R. vier Jahre dauernden Gerichtsverfahrens. Jetzt soll der Dienstherr in Vorlage gehen und selbst entlassen dürfen. Das Prozessrisiko wird auf die Soldat*innen verlagert. Die Entlassung eines Verfassungsfeindes durch Verwaltungsakt steht nun am Anfang eines Gerichtsverfahrens. Die Gesetzesänderung betrifft dabei allerdings nur einen einzigen Entlassungstatbestand. Sie zieht nur die Entfernung von schwerwiegend verfassungsfeindlichen Soldat*innen aus dem Dienst als statusrelevante Maßnahme aus der disziplinarrechtlichen Truppendienstgerichtsbarkeit ab und weist sie den Verwaltungsgerichten in den nachgelagerten Rechtsschutz zu. Der außenwirksame und symbolisch wertvolle Beschleunigungseffekt wird also dadurch erzielt, dass der Dienstherr die Entlassungsentscheidung künftig selbst fällen darf.
Die einer Entlassung sonst vorgeschaltete Disziplinarklage sichert bei BS und SaZ Ü4 sowohl das Lebenszeitprinzip als auch das Prinzip der Fürsorge durch den Dienstherrn ab. Obwohl auch diese Soldat*innen keine Beamt*innen sind, ist ihr Dienstverhältnis beamtenrechtsähnlich ausgestaltet. Soldat*innen stellen diejenige Berufsgruppe im Staatsdienst, deren Pflicht es ist, im Verteidigungs- oder Kriegsfall für den Staat ihr Leben zu opfern. Deshalb sind beamtenrechtliche Schutzprinzipien auch auf sie anwendbar (BVerfGE 145, 249 Rn. 42 ff.). Allerdings findet das BVerfG selbst im Beamtenrecht keinen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums, nach dem eine Entfernung von Beamt*innen aus dem Dienstverhältnis nur durch einen Richter ausgesprochen werden dürfte (BVerfGE 152, 345 Rn. 33 ff.). Es hält beamtenrechtliche Entlassungsverfügungen durch den Dienstherrn und deren Umsiedelung in den nachgelagerten Verwaltungsrechtsschutz für verfassungsgemäß. Da im Soldatenrecht überhaupt keine hergebrachten Grundsätze gelten, ist auch hier der Systemwechsel vom Richtervorbehalt zur Entlassung von BS und SaZ Ü4 durch Verwaltungsakt formal verfassungsgemäß. Dass diese soldatenrechtlichen Statusgruppen ihre Rechte künftig im nachgelagerten Verwaltungsrechtsschutz verteidigen müssen, ist verfassungsrechtlich unproblematisch: Auch nachgelagerter Rechtsschutz ist effektiver Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG und der Disziplinarklage damit funktional äquivalent. Die von § 46 Abs. 2a SG (neu) gebundenen Entlassungsentscheidungen unterliegen der gerichtlichen Vollkontrolle. Rechtswidrige Entscheidungen des Dienstherrn können also abgewehrt werden, sollte dieser auf die Idee kommen, aus sachwidrigen Gründen oder bei Bagatellverstößen zu entlassen. Und vor allem ist Eilrechtsschutz möglich.
Das vierstufige Raster des BVerwG entspricht dem Übermaßverbot – die Gesetzesbegründung womöglich nicht
Eine Entlassung aus dem Dienstverhältnis wegen Verfassungsfeindlichkeit ist der denkbar schwerste Eingriff der Disziplinargewalt in das Grundrecht von Soldat*innen aus Art. 12 GG und in das Lebenszeitprinzip bei BS und SaZ Ü4. Die materiellrechtlichen Maßstäbe für den Inhalt des neuen Entlassungstatbestands ergeben sich auch für diese soldatischen Statusgruppen nach wie vor aus dem Extremistenbeschluss des BVerfG aus 1975 und der gleichgelagerten Entscheidung des EGMR aus 1996 (Vogt vs. Deutschland). Eine verfassungskonforme Entlassung wegen eines verfassungsfeindlichen Dienstvergehens setzt deshalb nicht nur einen objektiven und schuldhaften Verstoß gegen die politische Treuepflicht der Soldat*innen aus § 8 SG voraus, sondern darüber hinaus auch eine gelebte verfassungsfeindliche Gesinnung. Der 2. Wehrdienstsenat des BVerwG hat innerhalb dieses Rahmens ein sehr ausgeklügeltes, vierstufiges Raster zu möglichen Disziplinarmaßnahmen wegen verfassungsfeindlichen Verhaltens von Soldat*innen (BS und SaZ Ü4) entwickelt (BVerwG, Urt. v. 18.6.2020 – 2 WD 17.19): (1) Da jeder schuldhaft begangene, objektive Verstoß gegen die politische Treuepflicht aus § 8 SG ein schweres Dienstvergehen darstellt, kommt als disziplinarische Maßnahme grundsätzlich das Höchstmaß, nämlich die Entlassung derjenigen Soldat*innen als Regelmaßnahme in Betracht, die verfassungsfeindlich gehandelt haben. (2) Diese Höchstmaßnahme darf aber nur dann tatsächlich auch das Mittel der Wahl sein, wenn die verfassungsfeindliche Verhaltensweise – z.B. die Leugnung des Holocaust, ein Hitlergruß, das Posieren vor einer Hakenkreuzfahne, das Liken und Verlinken verfassungsfeindlicher Posts, das Besitzen und Hören rechtsextremer Musik, reichsbürgertypische Verhaltensweisen – auch Ausdruck einer dahinterstehenden verfassungsfeindlichen Gesinnung ist. (3) Für Verhaltensweisen, die zwar den Eindruck einer hohen Identifikation mit verfassungsfeindlichem Gedankengut vermitteln, die aber nicht auf einer verfassungsfeindlichen Einstellung der betreffenden Soldat*innen fußen, muss eine mildere Disziplinarmaßnahme, i.d.R. die Dienstgradherabsetzung, gezogen werden. (4) Weniger schwerwiegende Verhaltensweisen, die verfassungsfeindlichen Extremismus bagatellisieren, aber von einigem Gewicht sind, werden dagegen i.d.R. mit dem Beförderungsverbot beantwortet, auch wenn sie ohne manifeste verfassungsfeindliche Gesinnung gezeigt wurden.
Dieses disziplinarische Prüfungsschema spiegelt die verfassungsrechtlichen Vorgaben von BVerfG und EGMR wider und entspricht gleichzeitig dem Übermaßverbot. Die schwerwiegenden verfassungsfeindlichen Verhaltensweisen, die § 46 Abs. 2a SG (neu) adressiert und einer Entlassungsverfügung unterwirft, müssen sich also zusammensetzen aus einem objektiven Verstoß gegen die politische Treuepflicht, der nicht nur schuldhaft begangen wurde, sondern zusätzlich auch nachweislich auf eine verfassungsfeindliche Gesinnung schließen lässt. Das BMVg als Dienstherr der betreffenden Soldat*innen ist also auf der verfassungsrechtlich sicheren Seite, wenn es sich bei Entlassungsverfügungen an das Raster des BVerwG halten und den breiter gesteckten Rahmen, den ihm die Gesetzesbegründung aufzuspannen scheint, ignorieren wird.
Die richtige Anwendung der Norm ist entscheidend
Denn der Gesetzgeber scheint hier mehr zu wollen als er verfassungsrechtlich darf. In seiner Gesetzesbegründung schreibt er zwar zunächst, dass nur solche verfassungsfeindlichen Handlungen von dem Entlassungstatbestand erfasst sein sollen, die das Ausmaß eines schweren Dienstvergehens erreichen. Dann aber rudert er zurück und stellt recht kryptisch fest: „Die Verwirklichung des neu geschaffenen Entlassungstatbestandes setzt aber nicht voraus, dass zugleich die Voraussetzungen für das Vorliegen eines schweren Dienstvergehens vorliegen müssen.“ (BT-Drs. 20/8672, S. 22). Mit diesem Schlenker scheint der Gesetzgeber genauso aus dem Raster des BVerwG ausbrechen zu wollen, wie er die Vorgaben des EGMR für eine Entlassung aus dem Öffentlichen Dienst beiseiteschiebt, wenn er als Regelbeispiel für die entlassungswürdige Unterstützung einer verfassungsfeindlichen Gruppierung die rein passive Mitgliedschaft in einer nichtverbotenen Partei oder Vereinigung nennt und damit wohl auch ausreichen lassen will (BT-Drs. 20/8672, S. 23).
Richtig angewandt ist die Neuregelung aber verfassungskonform. Sie stellt weder alle Soldat*innen unter den Generalverdacht der Verfassungsfeindlichkeit, noch öffnet sie einem dienstherrlichen Missbrauch Tür und Tor. Vielmehr ermahnt sie das BMVg vor einer drakonischen Entlassungsverfügung auch zu prüfen, ob nicht mildere disziplinarische Maßnahmen wie eine Dienstgradherabsetzung oder ein Beförderungsverbot in Betracht kommen. Das ruft § 46 Abs. 2a Nr. 2 SG (neu) dem Dienstherrn noch einmal ausdrücklich in Erinnerung. Hiernach ist die Entlassung einer Soldatin/eines Soldaten, die oder der schwerwiegend verfassungsfeindlich gehandelt hat, nämlich von der zusätzlichen Bedingung abhängig, dass ihr/sein Verbleiben im Dienst unzumutbar ist, weil es eine ernstliche Gefährdung der Bundeswehr bedeuten würde. Läuft trotzdem etwas schief auf Seiten des Dienstherrn, besteht die Möglichkeit eines dreiinstanzlichen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegen eine rechts- bzw. verfassungswidrige Entlassungsverfügung. Diesen Weg müssen die betroffenen Soldat*innen allerdings tatsächlich eigeninitiativ beschreiten, um ins Dienstverhältnis zurück zu kommen.