Wie viel Unwahrheit verträgt die Kunst?
Zur neusten Aktion des Zentrums für Politische Schönheit
Bundeskanzler Olaf Scholz verkündet im Namen der Bundesregierung, ein Verbotsverfahren gegen die AfD anzustrengen. Diesen Eindruck erweckt ein Video, das das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) am 27. November veröffentlichte, später entfernte und mit einem Urheberhinweis zu Beginn des Videos neu hochlud. Der Bundeskanzler präsentiert sich darin ungewohnt pathetisch, untermalt mit Musik und Videoeinblendungen. Für dem politischen Diskurs nahestehende Menschen war und ist erkennbar, dass es sich um ein sogenanntes Deepfake handelt. Gleichzeitig ist jedoch kaum bezweifelbar, dass es auch viele Menschen gegeben haben muss, die dem Deepfake-Video Glauben schenkten. Zusätzlich schaltete das ZPS eine Website frei, auf der vermeintliche Beweise für die Verfassungsfeindlichkeit der Partei zusammengetragen werden. Zudem stellte es vor dem Kanzleramt Plakate auf, die namhafte AfD-Politiker*innen hinter Gefängnisgittern zeigen.
Regierungssprecher Steffen Hebestreit nannte die Aktion „manipulativ“, sie schüre „Verunsicherung“ und sei „kein Spaß“. Dem höchsten Regierungsvertreter des Staates eine politisch hochbrisante Aussage in den Mund zu legen, die gesellschaftlich und medial, auch auf diesem Blog, breit diskutiert wird, lotet die Grenzen der Frage, was Kunst darf, im Kontext des digitalen Zeitalters neu aus. Das ZPS fiel bereits in der Vergangenheit mit Aktionen im Grenzbereich von künstlerischer Intervention und politischem Aktivismus auf, teilweise in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Bundestagswahlkampf (Flyerservice Hahn). Am 15. Dezember 2023 erklärte das ZPS, dass YouTube das Deepfake-Video in seiner ursprünglichen Form wieder freigeschaltet hat. Im konkreten Fall dürfte sich ein Verbreitungsverbot des Videos dennoch als verhältnismäßiger Eingriff in die Kunstfreiheit des ZPS erweisen.
Fiktion und Verfremdung
Ist das in Rede stehende Video überhaupt ein Kunstwerk und nicht ausschließlich eine politisch-aktivistische Aktion? Erwähnenswert ist, dass das ZPS unterschiedlich rezipiert wird, als „Politgruppierung“ (FAZ), „Satire- und Politikinitiative“ (ZDF) oder „Künstlergruppe (taz)“. Diese terminologischen Unterschiede kommen nicht von Ungefähr: Der Grat zwischen Kunst und Politik kann schmal sein – und damit einhergehend auch zwischen Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit.
Die Kunstwerkeigenschaft des Videos lässt sich jedenfalls nicht grundsätzlich mit dem Argument verneinen, im Video werde eine unwahre Tatsache (geplante Einleitung eines AfD-Verbotsverfahrens) verbreitet. Vielmehr sind manche Kunstformen, insbesondere die Literatur, im Grenzbereich von Fiktion und Wirklichkeit angesiedelt. Teilweise gehört es zum künstlerischen Prozess, die Wirklichkeit zu interpretieren, reale Sachverhalte zu verfremden und auf diese Weise Neuartiges zu kreieren (vgl. Hufen, HdbGR, Bd. 4, § 101 Rn. 54). Dabei bleibt die durch das Kunstwerk verarbeitete Wirklichkeit indes stets als Substrat erkennbar. „Auch wenn der Künstler Vorgänge des realen Lebens schildert, wird diese Wirklichkeit im Kunstwerk ‚verdichtet‘. Die Realität wird aus den Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten der empirisch-geschichtlichen Wirklichkeit gelöst und in neue Beziehungen gebracht […]. Die Wahrheit des einzelnen Vorganges kann […] der künstlerischen Einheit geopfert werden.“ (BVerfGE 30, 173 (190)). Kunstwerke kreieren eine eigene, ästhetisierte Wirklichkeit, wie Erwin Stein in seinem Sondervotum zur Mephisto-Entscheidung darlegt: „Ein Kunstwerk […] strebt eine gegenüber der realen Wirklichkeit verselbständigte ‚wirklichere Wirklichkeit‘ an, in der die reale Wirklichkeit auf der ästhetischen Ebene in einem neuen Verhältnis zum Individuum bewußter erfahren wird. […] Auch bei […] Anknüpfung an reale geschichtliche Gegebenheiten hat eine Überhöhung oder Transzendierung […] in die eigene, von der künstlerischen Phantasie geschaffene ‚ästhetische Realität‘ des Kunstwerks stattgefunden. Die künstlerische Darstellung kann […] nicht am Maßstab der Welt der Realität, sondern nur an einem kunstspezifischen, ästhetischen Maßstab gemessen werden.“ (BVerfGE 30, 173 (204)).
Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit haben ein unterschiedlich weites Schutzniveau: Bewusst unwahre Äußerungen werden von Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG nicht geschützt (vgl. nur BVerfGE 99, 185 (197, Rn. 52)). Von Art. 5 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 GG hingegen können derartige Aussagen aufgrund ihres Verfremdungsgrades noch gedeckt sein (Otto, JR 1983, 1 (10); Gostomzyk, NJW 2008, 737 (739)). So erlaubt die künstlerische Form, etwa Satire und Karikatur, gegenüber einer bloßen Meinungsäußerung auch hinsichtlich provokativer, polemischer, übertriebener – gegebenenfalls ehrverletzender – Äußerungen ein Mehr (vgl. BVerfGE 75, 369 (377); Beisel, Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes und ihre strafrechtlichen Grenzen, S. 55; Hufen, JuS 2022, 897 (899)). Dafür müsste im Fall des Scholz-Deepfakes aber überhaupt eine künstlerische Form vorliegen.
Politische Kunst und Kunstfreiheit
Eine politisch-engagierte Ausrichtung schließt die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 5 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 GG selbstverständlich nicht aus (vgl. BVerfGE 30, 173 (190 f.); 75, 369 (377); Germelmann, Dreier, Art. 5 Abs. 3 (Kunst), Rn. 49). Regimekritisch ausgerichtetes Kunstschaffen hat eine lange Tradition; Kunst entwickelte sich auch – obgleich nicht ausschließlich – aus Anlass der (entwicklungsgeschichtlich meist affirmativen) Darstellung öffentlicher Angelegenheiten (vgl. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 221), ist „verflochten mit Geschichte und Gesellschaft“ (Adorno, Ästhetische Theorie, S. 268.). Ob aber das konkrete Video Art. 5 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 GG unterfällt, ist im Sinne einer wertenden Gesamtbetrachtung, insbesondere unter Rekurs auf die drei gängigen Kunstbegriffe, die nicht kumulativ erfüllt sein müssen, zu eruieren.
Der formale Kunstbegriff fragt, ob bei „formaler, typologischer Betrachtung die Gattungsanforderungen eines bestimmten Werktyps erfüllt sind“ (BVerfGE 67, 213 (226 f.)). Eine etablierte Kunstgattung Deepfake existiert nicht. Es ließe sich jedoch diskutieren, ob eine Zuordnung zur Aktionskunst (dazu Hufen, JuS 2022, 897 (899 f.)) oder einem Artivismus möglich ist. Der materiale Kunstbegriff (BVerfGE 30, 173 (188 f.)) wiederum definiert Kunst als freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden, wobei Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammenwirken. Kunst ist demnach primär nicht Mitteilung, sondern unmittelbarer Ausdruck der Persönlichkeit. Ob im hier besprochenen Fall der Schwerpunkt auf dem persönlichen schöpferischen Ausdruck liegt, ist bezweifelbar, kam es dem ZPS hier doch – wie die Begleitumstände belegen – vor allem auf die mit dem Video vermittelte politische Botschaft an. Dennoch stellt das Video eine sich vom Alltäglichen unterscheidende Formensprache dar, durch die auf kreative Weise (Herstellung des Deepfakes, Zusammenschnitt, Hinterlegung mit Musik) Eindrücke – insbesondere politischer Art – verarbeitet werden. Bei gebotener kunstfreundlicher Auslegung (Lenski, Jura 2016, 35 (41, 43)) kann das Video im Sinne des offenen Kunstbegriffs (BVerfGE 67, 213 (227)) als Warnung vor KI-generierten Desinformationskampagnen verstanden werden, weshalb auch genau dieses Mittel gewählt wurde: als Aufforderung, individuelle und kollektive Medienkompetenz zu hinterfragen. Dafür spricht auch, dass es hier zu einer Vermischung von Faktischem und Fiktivem kommt, da neben dem Deepfake-Video eine Website mit realen AfD-assoziierten Äußerungen generiert wurde.
Eine wertende Gesamtbetrachtung darf jedoch nicht den Charakter der Kunstfreiheit als spezielles Kommunikationsgrundrecht außer Acht lassen (BVerfGE 81, 278 (289); Germelmann, Dreier, Art. 5 Abs. 3 (Kunst) Rn. 15, 52, 96.). Zu echtem kommunikativen Austausch kann es nur dann kommen, wenn klar ist, wer mit wem kommuniziert. Ähnlich wie bewusst falsche Tatsachenbehauptungen nicht von der Meinungsfreiheit geschützt werden, gibt es auch eine Grenze, innerhalb derer die Kunstfreiheit falsche Aussagen erfasst. Stellen sich Fiktion und Verfremdung zwar nicht als grundsätzlich kunstkonträr dar, so ist doch hervorzuheben, dass Kunstrezipierende Fiktionalisierungen oder verschwimmende Grenzen zwischen Realität und Fiktion als Teil eines Kunstwerks erwarten (können); etwas anderes gilt, soweit ein Werk gar nicht als Kunst rezipiert wird, wie es hinsichtlich des Videos jedenfalls teilweise der Fall ist, da es nicht als Kunstwerk erkennbar ist, solange man die Unechtheit nicht erkennt. Ein Roman geriert sich nicht als Abbild der Realität, ein Deepfake schon; eine Karikatur ist immer erkennbar, ein Deepfake nicht unbedingt. Dennoch überwiegt, unter zusätzlicher Berücksichtigung des künstlerischen Selbstverständnisses des ZPS, der kreativ-schöpferische Charakter. Das Deepfake-Video unterfällt somit dem sachlichen Schutzbereich der Kunstfreiheit. Die Grenze hinsichtlich bewusst unwahrer Tatsachenäußerungen ist bei der Kunstfreiheit somit – anders als bei der Meinungsfreiheit – nicht generalisierbar im Rahmen des Schutzbereichs zu ziehen. Vielmehr ist eine Verbreitung unwahrer Tatsachenäußerungen im Rahmen der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung eines Eingriffs im Einzelfall zu berücksichtigen.
Das ZPS hat gegen ein von der Bundesregierung bereits bemühtes Verbreitungsverbot juristische Schritte angekündigt. Es stellt sich somit die Frage, ob sich ein Verbreitungsverbot des Videos verfassungsrechtlich rechtfertigen ließe. Natürlich darf (satirische) Kunst nicht alles – trotz vorbehaltloser Gewährleistung der Kunstfreiheit. Augenscheinlich relevant wird das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Bundeskanzlers, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, insbesondere in der Ausprägung des Rechts am eigenen Bild und eigenen Wort. Auch das Urheberrecht (Ukraine-Rede des Bundeskanzlers) und Markenrecht (Flaggenstab mit Bundesadler) wären im Rahmen einer verhältnismäßigen Abwägung zu berücksichtigen. Hervorzuheben ist, dass der Bundeskanzler allein in seiner Sozialsphäre (Bildnis in amtlicher Eigenschaft; Worte im politischen Kontext) berührt wird, sodass die Intensität der individuellen Beeinträchtigung eher gering ausfällt. Als Regierungschef und Person des öffentlichen Lebens muss er Kritik – und als solche ist das Deepfake-Video auch zu verstehen – in gewissem Maße aushalten. Jedoch schmälert sich die Machtkritik-Befugnis des ZPS dadurch, dass das Video nicht transparent als künstlerischer Beitrag zum politischen Diskurs firmiert; vielmehr stellt sich die künstlerische Formensprache als bloßes Beiwerk zur verdeckt erfolgenden Kundgabe des politischen Standpunktes dar. Da der Schwerpunkt der künstlerischen Tätigkeit somit nicht im unmittelbaren Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, sondern in der Beteiligung am politischen Diskurs liegt, mithin eine deutliche Nähe zur Meinungsfreiheit besteht, wiegt es umso schwerer, dass das Kunstwerk unwahre Tatsachenäußerungen beinhaltet.
Politische Kunst braucht keine Deepfakes
Dass KI-generierte Desinformationskampagnen bereits Wahlkämpfe und Kriege beeinflussen, verdeutlicht, wie problematisch der Einsatz von Deepfakes für die Demokratie sein kann: Werden Bürger*innen mit falschen Tatsachen hinsichtlich politisch brisanter Themen konfrontiert, tangiert dies mitunter die von Art. 20 Abs. 1 und 2 GG gewährleistete freie Willensbildung, insbesondere soweit Ausschnitte eines Deepfake-Videos leicht rausgeschnitten und digital verbreitet, Falschinformationen also in großem Maße reproduziert werden können.
Und dennoch: Künstlerische Interventionen sind in freiheitlichen Demokratien wichtig; sie können ein Gefühl der Unordnung hervorrufen und Missstände öffentlichkeitswirksam aufgreifen. (Politische) Kunst darf dabei auch mit Unwahrheiten spielen, doch sie sollte es offen tun. In der Erkennbarkeit als Kunst unterscheidet sich das Scholz-Deepfakevideo insofern von früheren Aktionen des ZPS (ähnlich bereits Flyerservice Hahn). Zwar führt die fehlende Transparenz grundrechtsdogmatisch nicht per se zum Versagen der Kunstwerkeigenschaft, doch stellt sich im konkreten Fall ein Verbreitungsverbot des Videos in seiner ursprünglichen Form nicht als Verletzung der Kunstfreiheit dar. Eine etwaige gerichtliche Auseinandersetzung ist im Hinblick auf zukünftig immer relevanter werdende Fragen der Grenzen politischer Kunst im digitalen Zeitalter mit Spannung zu erwarten.