17 August 2023

Thüringen-AfD verbieten?

Der Blick auf den Deutschlandtrend ist beängstigend. Die AfD liegt bundesweit zwischen 19 und 23 %, in Sachsen und Thüringen, wo am 01. September 2024 gewählt wird, bei 32-33 %. Gleichzeitig geben über 50 % der Deutschen an, mit dem Funktionieren der Demokratie „weniger zufrieden“ oder „überhaupt nicht zufrieden“ zu sein, in den ostdeutschen Ländern sagen dies gar zwei Drittel der Befragten. Die deutsche Demokratie ist bewusst nicht allein eine deliberative, sie ist auch eine wehrhafte. Sie bietet einen Instrumentenkasten zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Der besonders radikale Thüringer Landesverband bietet Anlass, ein Parteiverbotsverfahren nach Art. 21 II, IV GG „föderal zu durchdenken“.

Verfassungsrechtlich nicht aussichtslos, aber hürdenreich

Ein Verbot allein des Thüringer Landesverbands ist rechtlich möglich. Antragsberechtigt in einem Verbotsverfahren wären nach § 43 I BVerfGG alternativ der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung sowie nach § 43 II BVerfGG die Landesregierung Thüringens. Das Bundesverfassungsgericht kann nach § 46 II BVerfGG die Feststellung der Verfassungswidrigkeit auf einen Landesverband als rechtlich bzw. organisatorisch selbstständigen Teil beschränken.

Zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit müsste die AfD Thüringen gemäß Art. 21 II GG „nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden“. Angesichts des Demokratieprinzips, Art. 20 II 1 GG, sind diese Voraussetzungen eng auszulegen. Die freiheitlich demokratische Grundordnung ist nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enger als die Legaldefinition des § 4 II BVerfSchG und umfasst nur die für den freiheitlichen Staat unentbehrlichen Wesensmerkmale: die Menschenwürdegarantie, die gleichberechtigte Teilhabe aller Bürger:innen an der politischen Willensbildung als Ausfluss des Demokratieprinzips sowie die Unabhängigkeit der Gerichte und das staatliche Gewaltmonopol als Merkmale des Rechtstaatsprinzips, Art. 20 III GG. Die AfD Thüringen müsste in aggressiv-kämpferischer Weise aktiv auf die Abschaffung eines dieser Wesenselemente oder deren Ersetzung durch eine andere Verfassungsordnung hinwirken (BVerfGE 144, 20 Rn. 550) oder nach ihrem politischen Konzept eine spürbare Gefährdung dieser Grundprinzipien verursachen (BVerfGE 144, 20 Rn. 556).

Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz (AfV) hat die AfD Thüringen bereits im März 2021 gemäß § 4 I 2 Nr. 1 ThürVerfSchG als eine erwiesenermaßen rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung eingestuft. Das Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet die Bundespartei hingegen bislang nur als Verdachtsfall. Aufgrund des Parteienprivilegs liegt das Entscheidungsmonopol für die Verfassungswidrigkeit einer Partei allein beim Bundesverfassungsgericht, Art. 21 IV GG. Einschätzungen der Verfassungsschutzämter sind angesichts ihrer Natur als Exekutivorgane nicht gleich in judikative Kategorien übersetzbar. Die Pressefassung des Verfassungsschutzberichts des AfV bietet gleichsam sachliche Anhaltspunkte, die eine Verfassungswidrigkeit begründbar erscheinen lassen.

Dem Bericht zufolge zeigen die maßgeblichen Akteur:innen des Landesverbands keine Mäßigung in ihren politischen Äußerungen, wobei Aussagen von Funktionär:innen der Parteiführung dem Landesverband grundsätzlich ohne Weiteres zuzurechnen sind. Verfassungsfeindliche Positionen gegen die Menschenwürde sowie das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip seien die „beherrschende und weitgehend unumstrittene politische Ideologie“ (S. 18). Der beispielsweise im Verschwörungsnarrativ des „Großen Austauschs“ propagierte ethnisch-kulturelle Volksbegriff der Thüringen AfD (S. 18-24 des Berichts für weitere Beispiele) ginge von biologischen und damit irreversiblen Ungleichheitsmerkmalen zwischen Menschen und Bevölkerungsgruppen aus. Dieser Volksbegriff ist – auch nach einem Urteil des VG Köln vom 08.03.2022 – nicht „rein deskriptiv“, sondern mit „Wertungen“ verbunden, „die zu einer Abwertung zugewanderter Menschen führen“. In diesem Zusammenhang werden Aussagen des Co-Landessprechers Björn Höcke zitiert, die neben einem „zutiefst rassistischen Menschenbild“ jedenfalls „implizit Gewalt als Mittel“ bejahen. Beständig wiederkehrende oder kampagnenprägende Positionen verstoßen nach dem Bericht des AfV überdies gegen das Demokratieprinzip. So werde etwa die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik als vermeintlich diktatorisches System abgelehnt und aktiv das Vertrauen in die demokratische Wahl als angeblich manipulationsanfällig und künftig unfrei geschwächt (S. 25-26). Darüber hinaus erkennt der Bericht auch Angriffe auf das Rechtsstaatsprinzip (S. 26). So stellt der Co-Landessprecher Stefan Möller die Existenz effektiven Rechtsschutzes gegen „Übergriffe des Staates – also der regierenden Parteien“ in Abrede und sieht Richter:innen „von der herrschenden politischen Mehrheit sorgfältig ausgewählt und eingesetzt“. Damit negiere er die Unabhängigkeit der Judikative und ihre Kontrollfunktion als dritte Gewalt. Der Bericht beschreibt sodann den Geschichtsrevisionismus der Thüringen AfD, der sich in einer Opfer-Täter-Umkehr der nationalsozialistischen Verbrechen von der Spitze des Verbands bin in die Breite der Partei zeige (S. 27-29). Die Kombination aus völkischer Ideologie, rassistischem Menschenbild und Geschichtsrevisionismus legen meines Erachtens – trotz erkennbarer Unterschiede – eine Wesensverwandtschaft der Thüringen AfD mit dem Nationalsozialismus nahe, die ein Indiz für die Verfolgung verfassungswidriger Ziele ist (BVerfGE 144, 20 Rn. 598).

Im NPD-Urteil 2017 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die Partei, die heute „Die Heimat“ heißt, verfassungswidrig ist. Trotzdem wurde die NPD nicht verboten. Das Gericht hat in einer restriktiven Auslegung des Art. 21 II GG zusätzlich das Kriterium der „Potentialität“ eingeführt und sich damit der Rechtsprechung des EGMR angenähert (s. hier, hier und hier). Statt eines Verbots hat das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit eröffnet, verfassungswidrige Parteien von der Parteienfinanzierung auszuschließen, was der verfassungsändernde Gesetzgeber in Art. 21 III, IV GG umgesetzt hat. Abgeleitet aus dem Wortlaut „darauf ausgehen“ ist ein Verbot nur zulässig, „wenn konkrete Anhaltspunkte von Gewicht vorliegen, die es zumindest möglich erscheinen lassen, dass das gegen die Schutzgüter des Art. 21 II GG gerichtete Handeln einer Partei erfolgreich sein kann“ (BVerfG, EuGRZ 2017, 44 Rn. 585). Dies bemisst sich im Wege einer „wertenden Gesamtbetrachtung“ (der EGMR nimmt hingegen hier eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor) aus der Situation der Partei (Mitgliederbestand, Organisationsstruktur, Kampagnenfähigkeit etc.) und ihrer Wirkkraft in der Gesellschaft (Wahlergebnisse, Unterstützer:innen, Vertretung in Ämtern und Mandaten). Zu beachten ist insbesondere, dass ein Parteiverbotsverfahren eine Präventivmaßnahme bleibt (BVerfGE 5, 85 [142]; 144, 20 Rn. 585), weshalb die Schwelle für die Potentialität nicht zu hoch angesetzt werden darf. Einer konkreten Gefahr bedarf es nicht, konkrete Anhaltspunkte von Gewicht reichen aus. Eine greifbare Schwelle für die Potentialität zu bestimmen, bleibt schwierig.

Wenn die AfD nicht das Potentialitätskriterium erfüllt – wer dann?

Im Falle der AfD Thüringen wirft die Potentialität somit auch die juristisch kompliziertesten Fragen auf. Auf den ersten Blick scheinen die Voraussetzungen erfüllt. Die AfD erreichte bei der Landtagswahl 2017 in Thüringen 23,4 %, bei der Bundestagswahl 2021 wurde sie im Bundesland mit 24 % stärkste Kraft. In Sonneberg stellt sie seit kurzem den Landrat.

Bei genauerer Betrachtung werden jedoch die Schwächen des Potentialitätskriteriums deutlich. Wenn das Parteiverbot weiterhin zum Instrument der wehrhaften Demokratie gehören soll, geriete das Bundesverfassungsgericht bei einem Verbotsverfahren gegen eine Partei solcher Stärke gehörig unter Druck. Wenn die AfD die Potentialität nicht erfüllt – wer dann? Zugleich stellt sich rechtlich, aber gerade politisch die Frage, ob eine meistgewählte Partei eines Bundeslands verboten werden kann. So manövriert sich das Bundesverfassungsgericht mit der Potentialitätsrechtsprechung in eine Zwickmühle, in der Parteien entweder zu klein oder zu groß sind, um sie zu verbieten.

Darüber hinaus unterliegt die Schlagkraft einer Partei politischen Schwankungen. Die Potentialität kann in einer Geschwindigkeit zu- und abnehmen, die außerhalb der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts liegt. Mit tauglichem Personal, einer professionellen Kommunikation und den entsprechenden exogenen Faktoren (insbesondere die soziale und wirtschaftliche Entwicklung sowie die innere und äußere Sicherheit) könnte wohl selbst die NPD/Die Heimat der Bundesrepublik ihre Vulnerabilität zeigen. Der mit der Potentialität zusammengedachte Ausschluss aus der Parteienfinanzierung als milderes Mittel („Parteiverbot light“) ist verständliche Konsequenz des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Es liegt nahe, das scharfe Schwert eines Verbots gegen eine politisch nahezu irrelevante Kraft als unangemessen zu bewerten. Allerdings entzieht der Finanzierungsausschluss den Verfassungsfeind:innen ihren Nährboden nur partiell, verkompliziert die Dogmatik des Art. 21 GG und gewährt dem Bundesverfassungsgericht ein im Parlamentarischen Rat für das Parteiverbot nicht vorgesehenes Rechtsfolgeermessen.

Unklar ist mit Blick auf die AfD Thüringen zudem, ob ein Landesverband allein das Potential hat, die freiheitlich demokratische Ordnung im Bund zu gefährden. Denkbar wäre auch, die freiheitlich demokratische Grundordnung auf Landesebene als gefährdet zu betrachten. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu beiden Punkten bislang nicht abschließend geäußert.

Im Falle einer Regierungsbeteiligung würde die AfD über den Bundesrat an der Gesetzgebung und der Verwaltung des Bundes mitwirken. Ferner wäre die AfD in der Ministerpräsidentenkonferenz und den Fachministerkonferenzen vertreten. Der Bundesrat ist an jedem Verfahren zum Erlass eines Bundesgesetzes beteiligt, bei den die Länder besonders berührenden Zustimmungsgesetzen sogar als gleichberechtigte Kammer. Die Funktionsfähigkeit der demokratisch legitimierten Länderkammer als eines der fünf ständigen Verfassungsorgane ist von zentraler Wichtigkeit für den Föderalismus und das Demokratieprinzip. Thüringen hat dort allerdings lediglich 4 der insgesamt 69 Stimmen. Ein unmittelbar rechtlicher Einfluss auf den Bund bliebe wohl überschaubar. Auch hat das Bundesverfassungsgericht die in Art. 79 III GG verankerten Prinzipien der Republik und des föderalen Bundesstaats ausdrücklich aus dem Topos der freiheitlich demokratischen Grundordnung ausgeklammert (BVerfGE 144, 20 [206]). Nichtsdestotrotz hätten bereits ein Besetzen und zu befürchtendes Zersetzen der demokratischen Institutionen Thüringens erheblich destabilisierende Wirkung im Bund und erst recht in Thüringen (für eine genaue Untersuchung dessen sei auf das Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs verwiesen).

Aber auch in Ermangelung einer Regierungsbeteiligung könnte die AfD das Potentialitätskriterium erfüllen. Hinreichende Wirkungsmöglichkeiten in der Gesellschaft, etwa durch Abgeordnete, genügen (BVerfGE 144, 20 [225]). Auch wenn alle anderen im Landtag vertretenen Parteien bislang eine Koalition mit der AfD ausschließen, dürfte sie bereits mit ihrer Präsenz und Rhetorik eine „Atmosphäre der Angst“ schaffen, die geeignet ist, „die freie und gleichberechtigte Beteiligung aller am Prozess der demokratischen Willensbildung zu beeinträchtigen“ (vgl. BVerfGE 144, 20 Rn. 588). Nicht unterschätzt werden darf auch eine potentielle weitere Normalisierung der Partei sowie ein Ermächtigungsgefühl in anderen Landesverbänden und der Bundespartei durch starke Wahlergebnisse auf Landesebene. In der Summe dürfte das Kriterium damit unabhängig von einer Regierungsbeteiligung erfüllt sein. Diese politischen und von volatilen Faktoren abhängigen Erwägungen zeigen jedoch die Schwierigkeit, die Potentialität zu operationalisieren.

Verfassungspolitisch brisant

Ein Parteiverbot ist der schärfste Eingriff in die Parteienfreiheit. Für eine freiheitliche Demokratie muss es ultima ratio bleiben. Einem Demokraten kann ein Parteiverbot daher nur Bauchschmerzen bereiten. Fatal wäre indes, in Verkennung der Gefahr verfassungsfeindlicher Kräfte die zur Verfügung stehenden Sicherungen nicht anzuwenden. Die Existenz des Parteiverbotsverfahrens ist eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung im Konflikt zwischen „keine Freiheit den Feinden der Freiheit“ und „Freiheit ist die Freiheit der Andersdenkenden“. Hat sich ein Staat grundsätzlich zur Möglichkeit eines Parteiverbots entschieden und sind die rechtlichen Voraussetzungen für ein Verbot gegeben, birgt eine fortwährende Nichtanwendung des Verbotsfahrens das Risiko, mangelnde Gefährlichkeit zu suggerieren. Lähmt sich die wehrhafte Demokratie aus Angst vor dem Selbstwiderspruch, wird das Damoklesschwert Parteiverbot zur Legitimationsquelle für Antidemokrat:innen.

Einerseits ist nicht alles, was rechtlich möglich ist, politisch ratsam. Das beträchtliche Instrumentalisierungsrisiko eines Verbotsverfahrens besteht unabhängig von seinem Ausgang. Ein Parteiverbot befeuert das Opfernarrativ der AfD, ein scheiterndes Verfahren ist der Harmlos-Stempel. Beides kann den demokratischen Parteien als Ausdruck politischer Ohnmacht ausgelegt werden. Ein Verbotsverfahren gegen die – nach aktuellen Umfragen – stärkste Partei im Bundesland ist realpolitisch explosiv. Trotzreaktionen, Märtyrertum und eine weitere Abkehr vom Rechtsstaat seitens der Wählerschaft sind erwartbar, die politische Sprengkraft ist unabsehbar. Daher kann ein Verbotsverfahren nur Teil einer größer angelegten Strategie gegen politischen Extremismus sein. Entscheidender als die rechtliche bleibt die politische Auseinandersetzung.

Andererseits kann trotz dieser schwerwiegenden Bedenken ein Verbotsverfahren sinnvoll sein, wenn man sich seines Zweckes besinnt: Ein Parteiverbot ist niemals Gesinnungsverbot, es dient dem Schutz demokratischer Institutionen vor ihrer Zersetzung von innen. Will sich „die Verfassung nicht durch den Missbrauch der von ihr gewährleisteten Freiheitsrechte zur Disposition stellen lassen“ (BVerfGE 144, 20 Rn. 425), muss sie Parlamente und Regierungsämter nach Möglichkeit von Verfassungsfeind:innen freihalten. Aufbauend auf der Prämisse, dass eine Demokratie Demokrat:innen braucht, muss man auch noch auf die abschreckende Wirkung eines Verbots hoffen dürfen.

Bei der Entscheidung über ein Verfahren verfügen die Antragsberechtigten über politisches Ermessen (BVerfGE 5, 85 [129]; 40, 287 [291 f.]). Einem rechtlichen Verfahren muss daher eine politische Debatte über die Chancen und Risiken vorweggehen. Diese braucht es jetzt.