Mehr Transparenz, aber vorläufig keine weitreichende Entlastung
Die Reform der EuGH-Satzung
Mit einer sich erweiternden EU und steigender Bedeutung des Unionsrechts für die Rechtsanwendung wächst auch die Zahl der Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) stetig. Reformen des europäischen Rechtsschutzsystems, auch mit dem Ziel einer Entlastung des EuGH, werden daher bereits seit Abschluss des Vertrags von Nizza kontrovers diskutiert. Gleichzeitig sieht sich der EuGH der Kritik der Intransparenz ausgesetzt.
Am 27. Februar hat das Europäische Parlament nun einer Reform der Zuständigkeiten des Gerichtshofs zugestimmt. Die vorgeschlagenen Änderungen der Satzung des EuGH (EuGH-Satzung nF) sollen einerseits die Arbeitsbelastung des EuGH vermindern und andererseits der Transparenz der Verfahren dienen. Letzteres stellt einen entscheidenden Beitrag zur Offenheit des Gerichtshofs dar. Ob die Reform allerdings zu einer echten, langfristigen Entlastung des EuGH führen wird, lässt sich angesichts der geringen Anzahl erfasster Verfahren sowie der vorgelagerten „Triage“-Entscheidung beim Gerichtshof bezweifeln.
Verlauf der Reform
Obwohl die Satzung des EuGH als Protokoll Nr. 3 zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Teil des Primärrechts ist, kann sie gemäß Artikel 281 AEUV im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens geändert werden. Die Zustimmung des Rats über die Änderung steht noch aus, jedoch wurde bereits eine Einigung im Trilogverfahren erzielt. In diesem Fall handelt es sich bei der Zustimmung des Rats üblicherweise nur noch um eine Formsache.
Die Reform wurde im Einklang mit Artikel 281 Absatz 2 AEUV auf Antrag des Gerichtshofs vom 30. November 2022 initiiert. Der Gerichtshof begründete die Reformvorschläge mit der zunehmenden Anzahl und Komplexität der Fälle, über die der EuGH zu entscheiden hat. In den vergangenen Jahren bewegte sich die Zahl der Vorabentscheidungsersuchen zwischen 500 und 600 Fällen jährlich und stellt damit mit beinahe zwei Dritteln die bei weitem größte Gruppe der Verfahren insgesamt dar. Um zu gewährleisten, dass die Verfahren zügig bearbeitet werden, soll der EuGH sich daher in Zukunft nur noch mit den komplexesten und sensibelsten Vorabentscheidungsersuchen befassen. Zudem soll die Zahl der Rechtsmittelersuchen verringert werden.
Entlastung „die Erste“: Vorabentscheidungsverfahren
Die wesentlichste Änderung betrifft die Übertragung der Zuständigkeit für Vorabentscheidungsverfahren (Artikel 267 AEUV) in bestimmten Bereichen an das Gericht der Europäischen Union (EuG). Diese Möglichkeit ist bereits in Artikel 256 Absatz 3 AEUV vorgesehen, wonach das Gericht „in besonderen in der Satzung festgelegten Sachgebieten für Vorabentscheidungen nach Artikel 267 zuständig“ ist. Von dieser Möglichkeit wurde jedoch trotz wiederholter Bemühungen (zuletzt 2015) bisher kein Gebrauch gemacht, sodass der EuGH bisher für alle Vorabentscheidungsverfahren zuständig blieb.
Zuständigkeit in einzelnen Sachbereichen für das Gericht
Nun soll die Zuständigkeit für Vorabentscheidungsersuchen, die ausschließlich in eines oder mehrere der Sachgebiete (a) des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, (b) der Verbrauchssteuern, (c) des Zollkodex und (d) der zolltariflichen Einreihung von Waren in die Kombinierte Nomenklatur sowie (e) der Fahr- und Fluggastrechte und (f) des Emissionshandelssystems fallen, dem EuG übertragen werden (Artikel 50b EuGH-Satzung nF).
Wie der Gerichtshof in seinem Antrag ausführt (S. 4 f), erfolgte die Auswahl ausgerechnet dieser Bereiche anhand von vier Parametern: Erstens seien diese Sachgebiete auf den ersten Blick hinreichend klar identifizierbar und abgrenzbar. Zweitens stellten sich hier nur wenige grundlegende Probleme und es gäbe, drittens, bereits genügend Rechtsprechung des Gerichtshofs. Zuletzt sei die Zahl der Vorabentscheidungsersuchen in den genannten Bereichen ausreichend, um eine echte Arbeitserleichterung des EuGH zu erreichen. Diese lag nach den Angaben des Gerichtshofs in den vergangenen Jahren zwischen 60 und 138 Verfahren im Jahr.
Betrifft ein Vorabentscheidungsersuchen allerdings „eigenständige Fragen der Auslegung des Primärrechts, des Völkerrechts, der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts oder der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“, so bleibt der EuGH ungeachtet der neuen Zuständigkeitsverteilung zuständig (Artikel 50b EuGH-Satzung nF). Diese Ausnahme findet sich nicht im ursprünglichen Verordnungsentwurf des EuGH (vgl. S. 13 f.), sondern wurde erst im Laufe der Verhandlungen eingefügt. Der EuGH-Vorschlag sah noch eine automatische Weiterleitung eines Falls an das EuG (mit der Möglichkeit einer nachträglichen Rückverweisung an den EuGH) vor, sobald das Vorabentscheidungsersuchen ausschließlich in einen oder mehrere der aufgelisteten Sachbereiche fällt. Die aktuelle Version des Entwurfs verhindert nun, dass Fälle mit grundlegender Bedeutung vorschnell an das EuG verwiesen werden (so noch die Bedenken zum Entwurf des EuGH).
„Triage“ durch den Gerichtshof
Es wird allerdings abzuwarten sein, wie gründlich (und wie schnell) der EuGH angesichts des strengeren Maßstabs prüfen wird, ob die Kriterien des neuen Artikel 50b erfüllt sind. Diese „Triage“-Entscheidung nimmt der Präsident des EuGH nach einer Vorprüfung durch den Vizepräsidenten und den Ersten Generalanwalt vor. Die Entscheidung soll aus Gründen der Rechtssicherheit und der Beschleunigung „so schnell wie möglich“ erfolgen (Artikel 50b EuGH-Satzung nF) sowie kurz begründet werden (ErwG 15 EuGH-Satzung nF). Dies spricht dafür, dass es eher bei einer prima facie Betrachtung bleiben wird.
Zudem kann ein Fall auch nach der Zuweisung an das EuG seinen Weg zurück zum EuGH finden. Das Gericht muss einen Fall an den Gerichtshof zurückverweisen, wenn er die Kriterien des Artikel 50b nicht erfüllt, und kann dies tun, sofern in dem Fall eine Grundsatzentscheidung erforderlich ist, die die Einheit oder Kohärenz des Unionsrechts berühren könnte (ErwG 17 f. EuGH-Satzung nF). Auch hier bleibt allerdings die konkrete Ausgestaltung durch die Verfahrensordnung des EuG und die Handhabung in der Praxis abzuwarten.
Neu ist zuletzt auch, dass das EuG in Vorabscheidungsverfahren von einem oder mehreren Generalanwält:innen unterstützt werden wird. Diese werden für die Dauer von drei Jahren aus der Mitte der Richter:innen des EuG gewählt (Artikel 49a EuGH-Satzung nF).
Entlastung „die Zweite“: Zulassung von Rechtsmitteln
Eine zweite Änderung betrifft den Mechanismus der vorherigen Zulassung von Rechtsmitteln. Dieser wurde bereits 2019 eingeführt, ebenfalls mit dem Ziel der Arbeitsentlastung des Gerichtshofs. Danach werden Rechtmittel, deren Gegenstand eine Entscheidung des EuG ist, die wiederum eine Entscheidung einer unabhängigen Beschwerdekammer einer Einrichtung oder sonstigen Stelle der Union betrifft, nur noch dann zugelassen, wenn eine für die Einheit, Kohärenz oder die Entwicklung des Unionsrechts bedeutsame Frage aufgeworfen wird. Die Einlegung von Rechtsmitteln in Rechtssachen, die bereits zweimal geprüft wurden, wird damit unter den Vorbehalt einer vorherigen Zulassung durch den EuGH gestellt. Der EuGH könne sich so auf Rechtsmittel konzentrieren, die „bedeutsame Rechtsfragen“ aufwerfen, ohne dass das Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz unterlaufen werde (ErwG 22 EuGH-Satzung nF).
Der Kreis der erfassten Beschwerdekammern soll durch die Reform erweitert werden. Bisher wurden vom bestehenden Artikel 58a EuGH-Satzung ausdrücklich vier Beschwerdekammern sowie alle Beschwerdekammern, die nach der Einführung der Regelung am 1. Mai 2019 eingerichtet wurden, erfasst. Mit der Reform würden Beschwerdekammern von sechs weiteren Stellen oder Agenturen hinzugefügt (Artikel 58a Absatz 1 EuGH-Satzung nF), die bereits vor dem 1. Mai 2019 existierten. Zudem sollen nun auch Rechtsstreitigkeiten, welche die Erfüllung von Verträgen betreffen, die eine Schiedsklausel im Sinne des Artikel 272 AEUV enthalten, unter den Mechanismus zur Zulassung von Rechtsmitteln fallen. Rechtsmittelverfahren machen derzeit etwa 20-30% der Verfahren vor dem EuGH insgesamt aus.
Mehr Transparenz: Veröffentlichung von Schriftsätzen
Eine dritte wesentliche, obgleich weniger augenfällige Änderung, bezweckt die Stärkung der Transparenz und Offenheit von Verfahren, insbesondere in Anbetracht der großen Anzahl von Verfahren mit verfassungs- oder menschenrechtlichen Implikationen. In Zukunft sollen daher die Schriftsätze und schriftlichen Erklärungen der Beteiligten „innerhalb einer angemessenen Frist nach Abschluss des Verfahrens“ auf der Website des EuGH veröffentlicht werden (Artikel 23 EuGH-Satzung nF). Bisher ist unklar, ob hiermit der Abschluss des Verfahrens vor dem EuG bzw. EuGH oder der Verfahren vor den mitgliedstaatlichen Gerichten, die die Sache vorgelegt haben, gemeint ist. Letzteres würde eine Veröffentlichung erheblich in die Länge ziehen.
Die Veröffentlichung des Vorbringens der Parteien birgt einerseits das Potenzial der besseren Nachvollziehbarkeit der Argumentation des Gerichtshofs sowie andererseits einer erhöhten Rechenschaftspflicht der Parteien, insbesondere der Mitgliedstaaten, für die vorgebrachten Argumente. Letzteres kann insbesondere in grundrechtssensiblen Bereichen relevant werden. Zwar haben die Parteien die Möglichkeit, der Veröffentlichung hinsichtlich ihrer eigenen Schriftsätze und Erklärungen zu widersprechen, dies wird jedoch im Falle einer mitgliedstaatlichen Partei zu Recht Argwohn hervorrufen.
Fortschritt, aber in die falsche Richtung?
Zu begrüßen ist zunächst der Schritt der Veröffentlichung der Schriftsätze der Parteien als wertvolle Erkenntnisquelle für Presse, Zivilgesellschaft und Wissenschaft. Ob jedoch die neue Zuständigkeitsverteilung zwischen EuG und EuGH in näherer Zukunft eine deutliche Arbeitserleichterung des Gerichtshofs zur Folge haben wird, ist fraglich. Der Anteil der Verfahren, die überhaupt die erfassten Sachbereiche betreffen, beträgt nur etwa ein Fünftel aller Vorabentscheidungsersuchen. Hinzu kommt der zusätzliche Aufwand der Zuweisungsentscheidung, in welcher der EuGH ex ante prüfen muss, ob das Verfahren Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft.
Der ehemalige Generalanwalt Michal Bobek hält die Übertragung von Zuständigkeiten im Vorabentscheidungsverfahren an das EuG insgesamt für einen „Schritt in die falsche Richtung“ (S. 1540). Statt immer mehr Fälle (nunmehr unter Zuhilfenahme des Gerichts) zu entscheiden, solle sich der Gerichtshof wieder auf den eigentlichen Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens, die einheitliche Auslegung des Unionsrechts, und dadurch auf weniger, aber dafür wesentliche Auslegungsfragen konzentrieren. Die dafür erforderliche, grundlegendere Reform des europäischen Rechtsschutzsystems erscheint allerdings angesichts der seit mehr als 20 Jahren andauernden Diskussion hierum kaum realisierbar.
Die Reform stellt somit zwar keine grundlegende Neuordnung des EU-Rechtsschutzsystems dar. Eine solche wäre im Falle einer weiteren Erweiterung der EU, in deren Folge sich naturgemäß auch die Zahl der Vorabentscheidungsersuchen erhöhen würde, sicherlich langfristig erforderlich. Die Reform kann aber kurzfristig einen ersten Schritt hin zur Entlastung des Gerichtshofs darstellen und, sofern sie sich in der Praxis als erfolgreich erweist, möglicherweise die Übertragung weiterer Zuständigkeiten an das EuG nach sich ziehen.