Fünfprozenthürde im Grundgesetz: Von wegen Affront
Die Fünfprozenthürde, glaubt man der FAZ, wird jetzt wohl erstmal doch nicht im Grundgesetz selbst verankert und damit karlsruhefest gemacht. Man befürchte, so heißt es, dass ein solcher Schritt als “Affront des Bundestages gegen das Bundesverfassungsgericht” gewertet werden könnte.
Wieso wäre das ein Affront? Nach allem, was in punkto Wahlrecht zwischen Karlsruhe in Berlin in den letzten Monaten und Jahren so alles vorgefallen ist, scheint die Antwort auf der Hand zu liegen: erst das Versäumnis, das von Karlsruhe monierte Problem mit dem negativen Stimmgewicht fristgemäß aus der Welt zu schaffen. Dann die Einführung der Dreiprozenthürde anstelle der von Karlsruhe für verfassungswidrig erklärten Fünfprozenthürde bei den Europawahlen, obwohl klar war, dass das genauso verfassungswidrig sein würde. Und dann auch noch einen drauf zu setzen und an den verfassungsrechtlichen Maßstäben herumzumanipulieren, an denen Karlsruhe die Verfassungsmäßigkeit des Wahlrecht abliest, genau zu dem Zeitpunkt, da sich abzeichnet, dass Karlsruhe demnächst womöglich die Fünfprozenthürde bei Bundestagswahlen zu überprüfen haben wird?
Aber so klar ist die Sache nicht. Immerhin weist das Grundgesetz selbst dem verfassungsändernde Gesetzgeber in Art. 79 die Befugnis zu, mit Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat die Verfassungsrechtslage klarzustellen.
Wir haben uns sehr daran gewöhnt, dass allein Karlsruhe der Ort ist, an dem das Verfassungsrecht weiterentwickelt und an veränderte Rahmenbedingungen angepasst wird. Karlsruhe erfindet öfter mal voll Schaffensdrang Grundrechte und Zulässigkeitskriterien, dass es eine wahre Freude ist, und ich habe da im Prinzip auch gar nichts dagegen einzuwenden. Das gehört zu seinem Job, und es liegt mir fern, hier irgendeine Art von Verfassungspositivismus oder gar -originalismus zu predigen.
Aber das heißt erstmal überhaupt nicht, dass sich der verfassungsändernde Gesetzgeber von den Karlsruher Vorgaben eingeschränkt fühlen müsste. Die Entscheidung, wo die Grenze für den verfassungsändernden Gesetzgeber verläuft, trifft das Grundgesetz selbst in Art. 79: Nur die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung und die “in Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze” sind für ihn tabu – Menschenwürde, Demokratieprinzip, Rechtsstaatsprinzip usw. Ansonsten kann er die Verfassung ändern, wenn er das für richtig hält – und wenn er die materielle Ausgestaltung, die das Bundesverfassungsgericht dem Verfassungsrecht gibt, nicht will, dann kann und darf er diese korrigieren, ohne sich von irgendwelchen “Affront”-Befürchtungen dabei hemmen lassen zu müssen. Was im Grundgesetz steht, ist somit erst einmal Ergebnis eines politischen Verfahrens und nicht eines justiziellen, und das Bundesverfassungsgericht hat dieses Ergebnis als gegeben zu akzeptieren.
Verfassungswidriges Verfassungsrecht?
Kompliziert wird die Sache hier allenfalls dadurch, dass es hier ja gerade um Dinge geht, die auf das politische Verfahren zurückwirken. Wenn der Gesetzgeber, ob verfassungsändernd oder nicht, am Wahlrecht herumschraubt, dann beeinflusst er damit notwendig zugleich seine eigene Zusammensetzung. Aus diesem Grund beansprucht ja auch das BVerfG seit dem Urteil zum schleswig-holsteinischen Kommunalwahlrecht von 2005 hier einen besonders feinmaschigen Prüfungsmaßstab:
Wenn die öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge Grenzen gezogen (…). Eine strenge Prüfung ist insoweit auch deshalb erforderlich, weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die jeweilige parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird.
Wenn die Große Koalition mit ihrer 80-Prozent-Mehrheit eine Verfassungsänderung anstößt, die explizit zum Ziel hat, den Zugang kleiner Parteien zum Bundestag zu beschränken, dann kann man sich schon fragen, ob ihr das einfach so erlaubt sein soll. Wir wollen sicher allesamt hier keine ungarischen Verhältnisse haben.
Aber heißt das gleich, dass wir es bei einer im Grundgesetz verankerten Fünfprozenthürde mit verfassungswidrigem Verfassungsrecht i.S.v. Art. 79 III Grundgesetz zu tun hätten? Das halte ich doch für ziemlich fernliegend. Zum einen ist bei einer Verfassungsänderung, anders als bei einer einfachgesetzlichen Änderung des Wahlrechts, hier ja immer noch der Bundesrat mit im Spiel, der ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit zustimmen müsste, und in dem auch Grüne, Linke und sogar die FDP ein Wort mitzureden haben. Zum anderen legt nicht jede Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit die Axt an das Demokratieprinzip als solches, zumal das BVerfG selbst ja wiederholt hervorgehoben hat, dass eine Sperrklausel, was das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie betrifft, auch ihr Gutes hat.
Die Sorge, wozu eine 80%-Mehrheit alles fähig ist, sollte man natürlich ernst nehmen. Aber ich denke, hier müsste das Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt sein: Das Bundesverfassungsgericht kommt dann ins Spiel, wenn und soweit es Anzeichen dafür gibt, dass die Große Koalition durch eine Verfassungsänderung die Mehrheitsbildung im Parlament zu ihren Gunsten manipulieren will. Die kann ich hier nicht erkennen.
Eine im Grundgesetz verankerte 5%-Hürde würde sehr wohl gegen die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützen Grundsätze des Art. 20 GG verstoßen, nämlich gegen die Wahlen der besonderen Organe der Volksvertretung (hier des Bundestages). Diesbezüglich steht Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG in Korrespondenz mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG (Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.) sowie Art. 48 Abs. 2 Satz 1 GG (Niemand darf gehindert werden, das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen und auszuüben.).
@ Ingmar Vetter: Ist doch aber komisch, dass die einfachgesetzliche 5-%-Hürde dann immer gehalten wurde, oder nicht?
@Matthias
Das ist beileibe nicht komisch in Anbetracht der Tatsache, dass die öffentliche Gewalt das Grundgesetz seit dem 24. Mai 1949 leerlaufen lässt. Die 5%-Hürde wurde grundgesetzwidrig als Machtsicherung von den Ministerpräsidenten der Länder in das Wahlgesetz zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung (BGBl. 1949 I. 21) geschrieben (§ 10 Abs. 4) zzgl. weiterer grundgesetzwidriger »Vorschriften«, wie die Einschränkung des Wahlrechts (§ 2, 3) sowie von Abgeordnetenrechten (§ 7).
Also an dieser Stelle darauf abzustellen, dass durch die normative Kraft des Faktischen (nicht nur) eine Verfassungswidrigkeit beibehalten und auch vom BVerfG in seiner ersten Garnitur mit den strammen Nazis Höpker-Aschoff und Geiger (und später anderen) goutiert wurde, wurden diese doch von denselben Ministerpräsidenten ins zweifelhafte Amt gehievt, muss hier zwar nicht verwundern, dennoch dient es nicht zur Legitimation von Verfassungswidrigkeit.
Berichtete doch bereits Gustav Heinemann in der 89. Kabinettssitzung am 11. August 1950 von der Länderinnenministerkonferenz:
»Es sei einmütig erklärt worden, daß bei unveränderter Aufrechterhaltung der im Grundgesetz verankerten Grundrechte durchgreifende Maßnahmen nicht getroffen werden können. Es müsse deshalb eine Änderung des Grundgesetzes in Erwägung gezogen werden.« Gustav Heinemann, 89. Kabinettssitzung am 11. August 1950
Da dies aber, wie weiter oben anhand des Art. 79 Abs. 3 GG nicht so ohne weiteres möglich war, hat man einfach die normative Kraft des Faktischen und das »ungeschriebene« Recht an die Stelle tatsächlicher Änderungen des GG gesetzt; wie Rainer Brüderle es (auch) zur Abstimmung des Bundestages über den Europäischen Stabilitätsmechanismus in aller Öffentlichkeit preisgab:
»Wir betreten auch verfassungsrechtliches Neuland. Wir ändern keinen Grundgesetzartikel, aber wir ändern die innere Verfaßtheit unserer Republik. Manche sprechen von einer stillen Verfassungsänderung.« (Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – Sten. Ber. 188. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Juni 2012, S. 22707 (D)
Dass also, abschließend, die Verfassungswidrigkeit der einfachgesetzlichen 5%-Hürde ungestraft beibehalten wurde, sagt nichts über ihre Legitimität oder Verfassungskonformität aus; lediglich über deren Verfechter. Und gerade die Tatsache, dass sie trotzdem seit 64 Jahren nicht im Grundgesetz zu finden ist, sollte klar machen, dass sie eben dort nicht zu halten wäre.
Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Was aber selbst aus Ihrer Sicht nicht unbedingt logisch ist, ist der Satz: “Und gerade die Tatsache, dass sie trotzdem seit 64 Jahren nicht im Grundgesetz zu finden ist, sollte klar machen, dass sie eben dort nicht zu halten wäre.”
Ich habe weder dem GG noch irgendeinem Wahlrecht zugestimmt. Für mich sind alle “Verträge” und Gesetze, denen ich nicht explizit zustimme grundsätzlich ungültig.
@ Matthias: Ja, vielleicht hätten Sie nicht davon anfangen sollen. Vielleicht hätten Sie sich aber auch materiell mit dem Vortrag auseinandersetzen können, was Sie offenbar nicht wollen. Und was an dem von Ihnen monierten Satz unlogisch ist, ist mir schleierhaft; von Ihnen zudem ohne jede Begründung behauptet – zu der Sie als Jurist wohl in der Lage sein sollten. Bleiben wir bitte bei den juristischen Tatsachen, also dem Wortlaut des Grundgesetzes und dessen Konsequenzen. Und deuten Sie bitte nicht wieder unterschwellig an, die Bedeutung würde vom Wortlaut abweichen. Das ist schlechte Manier.
@matthias: Das wird ein langer Tag! Hoffentlich hatten Sie ein gutes Frühstück…
@AL: Nee, man macht eben immer wieder den gleichen Fehler.
@Matthias
Den Fehler, auf konkrete Fragen keine bis ausweichende Antworten zu geben, weil man ansonsten auf den dargestellten Sachverhalt eingehen und diesen mit wissenschaftlicher Arbeit verifizieren oder falsifizieren müsste?
Nehmen Sie es nicht so schwer, damit stehen Sie in bester deutscher Juristentradition. Wo soll es auch herkommen, wenn man es im Studium nicht lernt, was im Grundgesetz unverbrüchlich verankert ist?