Zwei- bis Drei-Klassen-Justiz in Österreich?
Was der Kreutner-Bericht über österreichische und europäische Rechtsstaatlichkeit offenbart
Seit der „Ibiza-Affäre“ vom Mai 2019, bei der heimlich angefertigte Tonbandmitschnitte die Käuflichkeit höchster politischer und gesellschaftlicher Repräsentanten in Österreich andeuteten, reißt die Kette an Skandalen in Österreich nicht ab. Während politische Korruption sicherlich ein europaweites (wenngleich unterschiedlich ausgeprägtes) Phänomen ist, das primär national anzugehen ist, verdeutlichen die Vorfälle in Österreich ein gravierendes institutionelles Problem, in dessen Mittelpunkt die Justiz steht. Im europäischen judiziellen Mehrebenensystem ist dies letztlich ein genuin europäisches Problem. Die zutage getretenen Schwächen sind damit nicht nur Schwächen der österreichischen Rechts- und Verfassungsordnung, sondern Herausforderungen für die europäische Rechtsstaatlichkeit insgesamt.
Die Causa Pilnacek
Es ist für die Erzählung der österreichischen gesellschaftlichen Realität typisch, dass diese an prominenten Persönlichkeiten festgemacht wird. Hier steht Christian Pilnacek im Mittelpunkt, einst einer der höchsten österreichischen Justizbeamten, der das österreichische Justizsystem maßgeblich mitgestaltet hat und nach Veröffentlichungen brisanter Chat-Nachrichten zusehend im gesellschaftlichen Abseits landete. Er wurde am 20. Oktober 2023 tot am Donau-Ufer aufgefunden, wobei ihm unter mysteriösen Umständen Datenträger und Schlüssel abgenommen wurden.
Nachdem in der Folge heimlich aufgezeichnete Tonbandmitschnitte publik wurden, in denen sich Pilnacek über politischen Druck in Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen beschwert und dabei auch ranghohe Politiker benannt hatte, setzte Justizministerin Alma Zadic eine Untersuchungskommission ein. Der Korruptionsexperte Martin Kreutner leitete die Kommission unter Mitwirkung renommierter Juristinnen, auch aus Deutschland. Am 15. Juli 2024 legte die Kommission legte ihren Abschlussbericht vor. Er attestiert Österreichs Justizsystem gravierende Mängel. Im Nachgang vertrat Martin Kreutner die Auffassung, dass Österreich mit diesem Justiz-System nicht mehr EU-aufnahmefähig wäre. All diese Umstände gebieten eine juristische Grundsatzdiskussion – gerade auch aus EU-rechtlicher Perspektive – die aber in Österreich bislang noch nicht geführt wird.
Der Bericht
Was den Inhalt des Berichts anbelangt, so wird in Bezug auf die sog. „clamorosen“ Fälle – ein Austriazismus, der hier Fälle mit großer politischer und gesellschaftlicher Brisanz bezeichnet – u.a. das Bestehen einer „Zwei-Klassen“-Justiz in Österreich konstatiert, bei der für prominente Beschuldigte andere Verfahrensregeln als für Normalbürger gelten würden. Dabei hänge eine Anklage letztlich auch von Entscheidungen der (politischen) Weisungsspitze im Justizministerium ab. Die Vermengung von judiziellen und politischen Elementen führe zu Transparenzproblemen sowie zu einem „Rechtsgrundlagennebel“ und einem „Verantwortungsnebel“.
Sind Angehörige des Justizministeriums betroffen, könne es sogar zu einer „Drei-Klassen“-Justiz kommen, in deren Rahmen das Ziel schon vorab feststehe und dann eine rechtliche Begründung gesucht werde, um dieses Ziel zu erreichen.
Um diese Probleme zu überwinden, schlägt die Kommission vor, eine unabhängige Weisungsspitze in der Form einer Generalstaatsanwaltschaft zu schaffen, die an die Stelle des Justizministeriums treten solle. Die Kommission empfiehlt außerdem, einige Normen der Strafprozessordnung zu konkretisieren, um auf eine sauberere Trennung von Justiz und Politik hinzuwirken. Auch solle die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft gestärkt werden, deren Zerschlagung vor kurzem noch von politischer Seite gefordert worden war.
Der Bericht hat in Österreich zu einer intensiven politischen Debatte und auch zu persönlichen Angriffen gegen den Kommissionsvorsitzenden geführt. Überwiegend scheint der Bericht aber auf breite Zustimmung zu stoßen. Unmittelbare Initiativen, um die Handlungsempfehlungen der Kommission umzusetzen, sind hingegen nicht wahrnehmbar.
Die Konsequenzen
Den Reformvorschlägen der Kommission ist schwerlich zu widersprechen: Die saubere Trennung von Justiz und Politik ist zweifelsohne überfällig in Österreich. Die unabhängige Weisungsspitze sowie das Hintanhalten von politischen Interventionen in Strafverfahren gegen Prominente sind dazu essenzielle Maßnahmen. Damit würden gleichzeitig wesentliche Elemente der Strafrechtsreform 2008, als deren zentraler Architekt gerade Christian Pilnacek galt, wieder revidiert.
Fraglich ist aber, ob die vorgeschlagenen Reformen ausreichen würden, um sicherzustellen, dass das österreichische Justizsystem den europäischen Rechtsstaatlichkeitserfordernissen genügt. Erstaunlicherweise wurde auch nach Veröffentlichung des Berichts eine gesamtheitliche Diskussion nur vereinzelt geführt.
Wie die unmittelbare Diskussion rund um den Bericht ergeben hat, ist die Erteilung von expliziten Weisungen durch politische Instanzen nicht das zentrale Problem. Vielmehr sind es die vielfältigen sonstigen Möglichkeiten der politischen Einflussnahme auf Strafverfahren, die dringend Gegenmaßnahmen erfordern. Eine unabhängige Selbstverwaltungsinstanz der Justiz nach ausländischem Vorbild (wie sie von einzelnen politischen Vertretern in der Vergangenheit auch in Österreich immer wieder gefordert worden ist) könnte entscheidende Abhilfe schaffen. Eine solche Instanz sollte u.a. die Aufnahme in den Richterdienst administrieren, wobei den RichteramtsanwärterInnen zumindest grundlegende Verfahrensgarantien gewährt werden müssten. Dies ist generell ein massives Problem im österreichischen öffentlichen Dienst, in welchem über weite Strecken – unionsrechtswidrig – kein Zugang zu einem Gericht (selbst bei schwerwiegenden Verfahrensmängeln) vorgesehen ist. Eine unabhängige Selbstverwaltungsinstanz sollte auch über die Karriere im Richterdienst entscheiden – und nicht wie bislang politische „Side letter“ zwischen den Regierungsparteien. Die auf dieser Grundlage vorgenommenen richterlichen Berufungen der letzten Jahre wären schon aus Sicht der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gesamthaft zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren.
Ein zentraler Problempunkt der österreichischen Strafprozessordnung bleibt § 35c Staatsanwaltschaftsgesetz, der ebenfalls mit der Pilnacek-Reform 2008 eingeführt worden ist und der es der Staatsanwaltschaft erlaubt, von Ermittlungen abzusehen, wenn sie der Auffassung ist, dass „kein Anfangsverdacht“ vorliege. Gegen diese Entscheidung, die nicht begründet werden muss, ist kein Rechtsmittel zulässig. Damit wird aber der individuelle Strafverfolgungsanspruch der Opfer krimineller Handlungen gröblich und in klar unionsrechts- und EMRK-rechtswidriger Weise verletzt (siehe Art. 8 EMRK sowie Art. 47 Europäische Grundrechte-Charta (GRC) und die Richtlinie 2012/29/EU über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001, insbes. Art. 8 und 9). Allenfalls eine (informelle) Beschwerde an die (politische) Weisungsspitze der Staatsanwaltschaft ist möglich – ohne dass das Opfer auch nur in die Nähe einer Parteistellung käme bzw. Anspruch auf eine begründete Antwort hätte.
Die europäische Dimension
All diese Probleme wären längst schon behoben worden, wenn das vielzitierte Bild der Verschränkung zwischen der nationalen und der europäischen Ebene der Gerichtsbarkeit konkrete Substanz hätte und über die Behandlung von „clamorosen“ Fällen hinausginge. Zahlreiche der hier nur ansatzweise aufgezeigten Unzulänglichkeiten des österreichischen Justizsystems berühren unmittelbar EU-Recht und dabei insbesondere Art. 47 GRC über das Recht zu einem effektiven Zugang zu einem Gericht sowie europäische Menschenrechtsstandards, insbesondere Art. 6 EMRK über das Recht auf ein faires Verfahren, der in Österreich Verfassungscharakter hat. Die österreichischen Höchstgerichte legen solche Fälle allerdings nicht ohne weiteres dem Europäischen Gerichtshof vor, z.T. sogar ohne Begründung (trotz Consorzio Italian Management!). Und Beschwerden vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sind praktisch aussichtslos und werden mit einem Einzeiler abgewiesen, auch wenn alle Formvorschriften eingehalten und Rechtsverstöße nach Maßgabe einer gefestigten EGMR-Rechtsprechung beanstandet werden. Es ist dies ein Problem des EMRK-Systems insgesamt, das aber gerade in Situationen wie der österreichischen seine große Brisanz verdeutlicht. Deshalb fehlt jeglicher Anstoß, auch augenscheinlich dringende Justizreformen anzugehen. Ja, die internationale Ebene (und konkret die EU-Ebene) kann solche Reformen sogar konterkarieren, wenn sie ein an und für sich wertvolles Kontrollinstrument, die jährlichen Rechtsstaatlichkeitsberichte, zu „Formübungen“ werden lässt, die allenfalls gegenüber den „anerkannten Renegaten der Rechtsstaatlichkeit“ (nach einer schönen Formulierung von Ulrich Hufeld) Biss zeigen. Ob es überhaupt sinnvoll ist, solche Berichte vorab mit den betroffenen EU-Mitgliedstaaten inhaltlich zu akkordieren, sollte ernsthaft geprüft werden.
Detaillierter und inhaltlich schärfer fallen die Evaluierungsberichte der GRECO-Kommission des Europarates aus. Diese 1999 gegründete und mit dem Europarat verbundene „Staatengruppe gegen Korruption“ durchleuchtet in regelmäßigen Abständen u.a. die Justizsysteme von mittlerweile 49 Staaten. Die aus diesem Prozess resultierenden Berichte werden aber von einer breiteren Öffentlichkeit in Österreich noch weniger wahrgenommen als die Kommissionsberichte der EU. Für den 29. September 2024 stehen in Österreich Parlamentswahlen an. Die – dringend erforderlichen – Justizreformen stellen kein zentrales Wahlkampfthema dar. Der Kreutner-Bericht hat diese Problematik zumindest für einige Tage in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Damit die damit zusammenhängenden Fragen aber umfassend und vertieft diskutiert werden können, bedarf es größerer Aufmerksamkeit. Diese gesamte Diskussion zeigt, dass die Rechtsstaatlichkeitsprobleme in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten – die zu einem erheblichen Teil Justizprobleme darstellen – auf mitgliedstaatlicher Ebene allein nicht gelöst werden können und zudem Probleme der europäischen Rechtsstaatlichkeit insgesamt darstellen. Was nützen die schönsten EMRK- und GRC-Kommentare, das vielfach gesungene hohe Lied der europäischen Mehrebenenjustiz, wenn die Verzahnung zwischen nationaler und europäischer Justiz derart eklatant versagt? Neue Wege wären anzudenken, um diese Übergänge zwischen der nationalen und der europäischen Ebene tragfähig und den Zugang zu den europäischen Gerichtsinstanzen wirksam werden zu lassen. Ein individuelles Klagerecht vor dem EuGH und eine Gesamtreform des EGMR-Systems wären dringend erforderliche Schritte dazu. In der breiten Bevölkerung und der (insbesondere deutschsprachigen) Kommentarliteratur wird die weitgehende faktische Inexistenz eines effektiven Individualbeschwerderechts beim EGMR noch kaum wahrgenommen. In der englischsprachigen Fachliteratur gibt es hingegen sehr klare diesbezügliche Warnungen, etwa des früheren EGMR-Richters Steven Greer sowie weiterer EMRK-Experten:
„[A]s a result of the changes over the past half-century or so, there is no realistic prospect of justice being systematically delivered to every applicant with a legitimate complaint about a Convention violation. And, unless it is systemtatic, individual ´justice´ becomes arbitrary and is, therefore, not justice at all.”
(Greer/Gerards/Slow, Human Rights in the Council of Europe and the European Union, CUP 2018, S. 111).
Man muss sich auf dieser Grundlage die Frage stellen, ob das vielgepriesene Individualbeschwerderecht vor dem EGMR überhaupt noch existiert oder mehr Schein als Sein darstellt (ebd., S. 112).
Auf jeden Fall ist diese Problematik den nationalen Höchstgerichten bekannt, die dadurch weitgehende Handlungsfreiheit zurückgewinnen. Die Möglichkeit, beim EGMR im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens Beschwerde einzureichen, wenn eine Vorlage gemäß Art. 267 AEUV ohne Begründung abgelehnt wird (vgl. Ullens de Schooten and Rezabek gegen Belgien, EGMR Beschwerden Nr. 3989/07 und 38353/07, EGMR-Urteil v. 20.9.2011), wird in der akademischen Literatur zwar als große Errungenschaft präsentiert. Doch angesichts der Handlungsfreiheit der Gerichte wird sie wieder zur Chimäre.
Ein Weckruf
Der Kreutner-Bericht ist eine aufsehenerregende Lagebeschreibung zur Situation der Justiz und kommt einem Weckruf gleich, der über Österreich hinausgeht. Die Verschränkung der nationalen und der europäischen Justizordnungen wurde bewusst angestrebt, da die nationalen Justizsysteme aus eigener Kraft nicht ohne weiteres die hohen Ansprüche der europäischen Rechtsstaatlichkeit erfüllen können. Diese Verschränkung muss aber ernst genommen werden und die notwendigen institutionellen Reformen nach sich ziehen, damit eine Justiz nach europäischen Standards und ein wirksamer Zugang dazu keine bloße Theorie bleibt.
Der Pilnacek-Fall könnte zum Anlass genommen werden, detaillierte Standards auszuarbeiten, denen Justizsysteme in Europa genügen müssen, damit den Anforderungen europäischer Rechtsstaatlichkeit entsprochen wird.