Höchst normal gefährlich
Der Kampf der AfD gegen Inklusion zeigt ihr Ressentiment gegen Menschen mit Behinderungen
Die AfD-Bundestagsfraktion stellte am 12. März 2018 eine Kleine Anfrage zu einem großen Thema: „Schwerbehinderte in Deutschland“ (BT-Drs. 19/1444). Dabei irritierte schon die bei solchen Anfragen an die Bundesregierung übliche Vorbemerkung. Die AfD erläuterte dort, dass die Zahl von Menschen, die in Deutschland einen Schwerbehindertenausweis besitzen, gestiegen sei. Behinderungen entstünden dabei durch das „Heiraten innerhalb der Familie“. Als Quellen verwiesen die rechtsextremen Politiker*innen mit Bedacht auf liberale Medien: einen Filmbeitrag des ARD-Magazins Kontraste von 2008, einen Artikel in der taz und eine nicht näher bezeichnete britische Studie, die in einem Artikel des Tagesspiegel vom 20. Mai 2003 ebenfalls ohne Quellenangabe erwähnt worden war.1) Die AfD fragt die Bundesregierung unter anderem: „Wie hat sich die Zahl der Behinderten seit 2012 entwickelt, insbesondere die durch Heirat innerhalb der Familie entstandenen (bitte nach Jahren aufschlüsseln)?“ Und als Folgefrage: „Wie viele Fälle aus Frage 4 haben einen Migrationshintergrund?“
„Behinderung, Inzest und Migration“
Die fünf Fragen lösten einen Sturm von Protest und Empörung aus. Kurz nach ihrem Bekanntwerden schalteten 18 Sozialverbände und Behindertenorganisationen in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ eine Anzeige mit der Überschrift: „Es geht uns alle an: Wachsam für die Menschlichkeit.“ Die Anfrage, mahnten die Organisationen, konstruiere einen Zusammenhang zwischen Behinderung, Inzest und Migration und erinnere so „an die dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte, in denen Menschen mit Behinderung das Lebensrecht aberkannt wurde und die zu Hunderttausenden Opfer des Nationalsozialismus wurden.“
Die AfD hat sich das eine Warnung sein lassen. Zwar äußeren auch heute noch vereinzelt Politikerinnen und Politiker der rechtsextremen Partei so offensichtlich ressentimentgeladene Aggressionen gegen Menschen mit Behinderung. Etwa Maximilian Krah, der die Tagesschau-Nachrichten in leichter Sprache als „Nachrichten für Idioten“ herabwürdigt und damit auch deren Zuschauer*innen treffen will und trifft. In ihrer politischen Programmatik und im politischen Alltagsgeschäft gibt sich die AfD dagegen mit Blick auf Menschen mit Behinderungen, so gut sie es kann und erträgt, als sozial – insbesondere so lange sie als Deutsche erscheinen.
Ein bisschen wohltätig
Ein Beispiel dafür ist der Entschließungsantrag der thüringischen AfD-Landtagsfraktion zum Thüringer Gesetz über das Sinnesbehindertengeld. Menschen die gehörlos, blind oder taubblind sind, erhalten auf Basis dieses Gesetzes (das es als Blindengeld auch in anderen Bundesländern gibt, für Gehörlose dagegen nur in wenigen) monatlich einen Geldbetrag zum Ausgleich der durch ihre Sinnesbehinderungen bedingten Mehraufwendungen. Dieses Geld erhalten die Leistungsberechtigten – anders als viele andere Sozialleistungen – ohne Anrechnung von Einkommen und Vermögen. Allerdings sind die Beträge, die die einzelnen Bundesländer festlegen, niedrig und reichen zum Ausgleich der tatsächlichen Mehraufwendungen nicht aus.
Der Auszahlungsbetrag sollte 2023 in Thüringen aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten erhöht werden. Die AfD-Landtagsfraktion kritisierte, dass die Erhöhung des Sinnesbehindertengeldes als Nachteilsausgleich zu niedrig ausfalle und sprach sich vor allem dafür aus, den Betrag für Taubblinde geringfügig höher ausfallen zu lassen, als von der Landesregierung geplant (Entschließungsantrag 7/8351 vom 5.7.2023). In der Begründung setzte sich die AfD-Fraktion zudem dafür ein, künftig die Sätze an die Inflationsentwicklung zu koppeln, damit die Absicherung verlässlich wirke und „von den Hilfsbedürftigen nicht ständig neu erkämpft werden muss“.
Doch die AfD hat sich in der ersten Parlamentsdebatte zu diesem Thema gar nicht geäußert. Und auch in der zweiten Debatte, nachdem sie ihren Entschließungsantrag eingebracht hatte, thematisierte sie nur am Rande die materielle Lage von blinden, taubblinden oder gehörlosen Menschen (die sie auf Corona und den Russland-Ukraine-Krieg zurückführte). Daran wird deutlich, dass es der AfD tatsächlich nicht um einen Vorstoß für die Leistungsberechtigten ging, sondern um symbolische Politik. So will sie zwar immerhin signalisieren, dass die AfD sich auch für Menschen einsetzt, deren Teilhabemöglichkeiten erheblich beeinträchtigt sind. Bislang hat sich die AfD um diese von Nationalsozialisten verfolgte Gruppe sozialpolitisch nicht geschert; sie hat sie allenfalls ignoriert oder diskriminiert. Doch auch ihr punktueller symbolpolitischer Ansatz ist wenig beruhigend und kein Zeichen allgemeinen zivilisatorischen Fortschritts. Er erscheint lediglich als – zudem auch nur halbherziger – taktischer Versuch, sozialpolitisch kompetent und nicht behindertenfeindlich zu erscheinen.
Die beharrlichen Versuche von Politikerinnen und Politikern der AfD, den Nationalsozialismus und seine Verbrechen zu verharmlosen, NS-Parolen wieder in den alltäglichen und politischen Sprachgebrauch zu integrieren und starre Feindbilder zu etablieren, wecken keine weiteren Hoffnungen. Zumal in relevanten behinderten- und sozialpolitischen Kontroversen und der gesellschaftlichen Debatte über die menschenrechtlichen Anforderungen an eine Teilhabepolitik das Schweigen der AfD auffälliger ist als das, was sie zur Sprache bringt.
Aussondern statt Inklusion
Unmissverständlich und entschlossen ist dagegen die die radikale Position (nicht nur der thüringischen) AfD zur schulischen Inklusion. Die rechtsextreme Partei will die segregierenden „Förderschulen“ ausbauen und die zaghaften Versuche von Inklusion, die diesen Namen verdienen, beenden. In dem ausführlichen Positionspapier „Die Probleme des Bildungssystems mutig lösen“, das die AfD-Landtagsfraktion verantwortet (und das auf deren Seite heruntergeladen werden kann), wird Inklusion als schädlich für Kinder ohne Behinderungen bezeichnet, die dadurch angeblich am Lernen gehindert und belastet werden: „Es ist untragbar, Kinder an allgemeinbildenden Schulen als Integrationshelfer zu missbrauchen und von ihnen zu erwarten, dass sie während des Schulunterrichts Aufgaben wahrnehmen, die von sonderpädagogischem Personal zu leisten sind“ (Bildungspapier, S. 53). Inklusion wird auch als enormer Kostenfaktor dargestellt. Auf Grundlage einer kruden Überschlagsrechnung behaupten die rechtsextremen Inklusionsgegner, allein für eine rollstuhlgerechte „völlige Barrierefreiheit“ müsste Thüringen 1,3 Milliarden Euro für schulische Umbaumaßnahmen aufwenden. Die AfD sieht die inklusive Schule in einer Linie mit der ebenfalls frontal angegriffenen angeblichen „Früh- und Hypersexualisierung unserer Kinder“, die als Chiffre für eine aufgeklärte Gender- und Familienpolitik verwendet wird.
Die Kompromisslosigkeit, mit der die AfD Inklusion in ihren programmatischen bildungspolitischen Erklärungen eine Absage erteilt, wird flankiert von immer wiederkehrenden Attacken gegen die als „ideologisches Projekt“ diskreditierte Weiterentwicklung des Bildungssystems. AfD-Politiker*innen sehen und bezeichnen Kinder mit Behinderungen als „Belastungsfaktor“. Im Sommergespräch, das der Thüringer AfD-Fraktionsvorsitzende Björn Höcke letztes Jahr im August 2023 mit dem MDR führte, hob er hervor, dass das Bildungssystem eine „Wende in der Einwanderungspolitik und in der Familienpolitik“ brauche, dass es von „Belastungsfaktoren“ und „Ideologieprojekten, beispielsweise der Inklusion, beispielsweise auch dem Gender Mainstream Ansatz befreit“ werden müsse. Dabei ist bemerkenswert, dass auch Kinder migrantischer Herkunft, bei denen zu Hause nicht Deutsch gesprochen werde, nach Auffassung von AfD-Politikern möglichst in gesonderten Klassen unterrichtet werden sollten.
Aussonderung verletzt aber das Menschenrecht auf Chancengleichheit und diskriminierungsfreie Bildung, das in Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention garantiert ist und seit 2009 auch Deutschland rechtlich bindet. In den abschließenden Bemerkungen zum 2. und 3. Staatenbericht kritisiert der UN-Behindertenrechtsausschusses die fehlende Inklusion und die Fortexistenz von Förderschulen in starken Worten: „Der Ausschuss ist besorgt über das Fehlen einer vollständigen Umsetzung der integrativen Bildung im gesamten Bildungssystem, die beherrschende Rolle die von Sonderschulen und -klassen und die vielfältigen Barrieren, mit denen Kinder mit Behinderungen und ihre Familien konfrontiert sind, wenn sie in Regelschulen eingeschult werden und dort den Unterricht absolvieren wollen, unter anderem: a) das Fehlen eines klaren Mechanismus zur Förderung der inklusiven Bildung in den Bundesländern und auf kommunaler Ebene; b) die falschen Vorstellungen und die negative Wahrnehmung der inklusiven Bildung auf Seiten einiger Verwaltungen, die den Wunsch der Eltern, ihre Kinder in Regelschulen einzuschreiben, als Hinweis auf die ‚Unfähigkeit, sich um ihr Kind zu kümmern‘ werten“ (CRPD/C/DEU/CO/2-3, Rn. 54, Original: Englisch).
Diese menschenrechtswidrige Forderung der AfD wird im bundesdeutschen politischen Diskurs zwar gelegentlich skandalisiert. In der Gesellschaft wird sie gleichwohl nicht als konkrete Bedrohung für Menschen mit Behinderungen wahrgenommen: Inklusion ist nach wie vor weder im Bildungssystem noch im Alltag selbstverständlich gelebte Praxis, sondern gilt auch in weiten Teilen eines liberalen Bürgertums bestenfalls als gewagtes Experiment – je konsequenter die Umsetzung gefordert wird, desto schwächer wird der Rückhalt. Längst hat sich erwiesen, dass auch Inklusion nicht einfach ein Nice-to-Have-Projekt ist, das sich fast wie von selbst ohne nennenswerte Veränderungen des Ganzen und ohne auffälligen Einsatz der insgesamt knappen Ressourcen Geld und Personal zum allgemeinen Wohlgefallen entwickeln lässt. Inklusion, die diesen Namen verdient und von der alle Schülerinnen und Schüler etwas haben, verlangt einen umfassenderen Umbau des hierarchisch und wenig durchlässig strukturierten Bildungssystems, in dem die wenig fördernden „Förderschulen“ ganz unten und die Gymnasien ganz oben stehen.
Der Weg weit zurück
Das Roll-Back, das die AfD in der Politik der Inneren Sicherheit, der Asyl- und Migrationspolitik in immer höherem Tempo so außerordentlich erfolgreich vorantreibt, verheißt nichts Gutes für eine menschenrechtsgeleitete Inklusions- und Teilhabepolitik, die noch am Anfang steht. Bei dieser Politik einer fürsorglich begründeten Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen muss die rabiat auftretende AfD in der Mitte Gesellschaft weniger mit entschlossenem Widerstand rechnen, als beispielsweise bei ihren als reaktionär anerkannten frauen- und familienpolitischen Konzepten. Denn es gibt keinen gesellschaftlichen und rechtlichen Konsens über eine konsequente Absage an das Sonderschulsystem (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 1997 – 1 BvR 9/97), bis heute konnte sich kein ernsthaft entwickeltes Konzept für eine inklusive Beschulung durchsetzen. Fehlende bildungspolitische Inklusion ist aber nicht einfach in späteren Jahren auszugleichen: Was nicht durch Inklusion im Kindergarten und schulische Inklusion eine für alle Menschen in der Gesellschaft gelebte Praxis wird, wird sich auch später auf dem Arbeitsmarkt und in anderen Teilen der Gesellschaft nicht durchsetzen.
Die AfD hat den Ableismus und die Exklusion in einer Gesellschaft, für die das Konzept einer speziellen Form der Pädagogik – der Sonderpädagogik eben – und das mit ihr verbundene Förderschulsystem tragende Elemente sind, nicht erfunden. Es existiert hier eine lange Kontinuität der Aussonderung, die im Nationalsozialismus, auf den AfD-Politiker konsequent verharmlosend Bezug nehmen, ihre mörderische Zuspitzung erreicht hat. Dabei haben die existierenden Sonderschulen eine nicht zu unterschätzende und bis heute erst ansatzweise erforschte furchtbare Rolle gespielt. Marietheres Triebe schreibt in ihrer dokumentarischen Analyse „NS-Ideologie in der NSLB-Zeitschrift »Die deutsche Sonderschule« 1934 –1944“: „Sie unternahmen den Versuch Kindern zu vermitteln, dass sie trotz ihres ‚Deutschseins‘ ‚minderwertig‘ und ‚unbrauchbar‘ seien, und dass sie es dem Staat und der Volksgemeinschaft schuldeten, sich zwangssterilisieren zu lassen. Hauptaufgabe der Sonderschulen war die ‚Erziehung […] zu rassenhygienischem Verantwortungsbewusstsein!‘, bei ihrer Entlassung solle allen Schüler*innen klar sein, dass ‚geschädigtes Erbgut nicht an Nachkommen weitergegeben werden soll‘“ (S. 60).
Die AfD setzt sich mit dieser spezifischen historischen Tradition der Sonderschule nicht auseinander, viele andere sind sich ihrer nicht bewusst. Die rechtsextreme AfD kann das anti-inklusive Konzept, das das „Andere“ betont und auf der Aussonderung von Menschen mit Behinderung beruht, für ihre Politik so leichter vorantreiben und den Weg zurück aus einer wenigstens um Inklusion bemühten Bildungs- und Gesellschaftspolitik ebnen: so wie sich die Verhältnisse in Thüringen und Sachsen nach der Wahl darstellen wahrscheinlich eher aus der Position einer treibenden starken Oppositionskraft gegen eine schwache Landesregierung sogar erfolgreicher, als wenn sie selbst Regierungsverantwortung trüge. Dass die AfD auch weiterhin punktuell sozialpolitisch irrelevante Wohltaten an einzelne Gruppen von(nicht-migrantischen) Menschen mit Behinderungen vergibt, lässt sich reibungslos mit ihrem Projekt vereinbaren, diskriminierungsfreie Beschulung weitgehend zu blockieren und auf längere Sicht als Irrweg zu denunzieren. Die neue Symbolpolitik der AfD darf nicht davon ablenken, dass die Verweigerung von Inklusion ein strategisches Ziel ist, das über die Bildungspolitik weit hinausreicht: Es ist eine Absage an eine menschenrechtlich geprägte, auf Gleichheit setzende Politik für alle unerwünschten, als Belastung empfundenen und erklärten Gruppen.
References
↑1 | Es handelt sich bei der Studie um eine Untersuchung von Powell, Kelly, Parkes, Cole and Mann, Cancer and congenital abnormalities in Asian children, British Journal of Cancer (1995), 72, 1563-1569 (keine DOI, online als Scan: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2034071/pdf/brjcancer00046-0229.pdf), die auf einer unsicheren Datenlage basiert und keine eindeutigen, sondern nur vermutete Ursachen für die beobachteten hohen Krebserkrankungszahlen benennt und deswegen ein Forschungsdesiderat formuliert. |
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