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11 October 2024

Privatisierung für wen?

Europäische LPE Perspektiven auf das Regulierungsrecht

Ein Theorie-Import der LPE-Positionen aus Yale nicht bruchlos möglich ist, so ist wohl die Tendenz der meisten Beiträge dieses Symposiums. Zugleich sollte jedoch stärker betont werden, dass es auch in Europa Forschungsprojekte zu Recht und politischer Ökonomie gibt, die sowohl theoretisch fundiert als auch eingebettet in eine konkretisierende Praxis arbeiten und diese in pädagogische Konzepte übersetzen möchten. Diese europäischen Debatten um „transformatives Recht“ bieten interessante Anknüpfungspunkte für den deutschsprachigen Problemkreis des verfassungs- wie verwaltungsrechtlich determinierten Privatisierungsfolgen- bzw. Regulierungsrechtes in den Netzwirtschaften, das für eine Förderung der social economy geöffnet werden könnte.

Dafür will ich zuerst auf die staatsrechtswissenschaftlichen Debatten in Deutschland um die Jahrtausendwende eingehen, die mit dem Konzept eines „Gewährleistungsstaates“ auf die Privatisierungswellen öffentlicher Infrastrukturen reagierten. Als konkrete (einfachrechtliche) Folge dieser Diskussionen entstand das sogenannte „Regulierungsrecht“, um den Problemen von Märkten in Netzwirtschaften entgegenzuwirken.

Dieser weltweite Turn von „Collective“ zu „Privatized“ (Bartl 2023) imaginaries of prosperity hat seit der Finanzkrise 2009 und spätestens mit dem europäischen Green New Deal Risse bekommen. Die europäischen LPE-Debatten reagierten darauf wiederum mit einem Konzept des transformativen Rechtes, das ein besonderes Augenmerk auf die „social economy“, „Gemeinwirtschaft“ oder auch die „Commons“ legt.

Zuletzt schlage ich eine Synthese zwischen einerseits den rechtstheoretischen Diskussionen um den Gewährleistungsstaat und aktuellen Strukturen des Regulierungsrechtes mit den europäischen Überlegungen eines transformativen Rechtes in Richtung einer social economy vor.

Regulierungsrecht als Antwort auf ein erwartetes Marktversagen

Die großen öffentlichen Infrastrukturen (Post, Bahn, Telekommunikation, Energie) wurden seit den 1990er-Jahren in unterschiedlich stark eingebettete Märkte umgebaut, teilweise verankert in Art. 87e, Art. 87f GG. Dominik Rennert weist überzeugend auf die korporatistische Einbettung des GG hin, allerdings konnte auch diese die Privatisierung nicht verhindern. Bestimmend für die Begleitdiskussion war die Abkehr von einem „erfüllenden“ Staat der Daseinsvorsorge (Voßkuhle 2003, 275). Als Gründe für die Privatisierung wurden damals mangelnde Innovationskraft, Veränderungen in der Demografie oder zu hohe Kosten angeführt (Voßkuhle, § 1 GVwR I, 3. Auflage, Rn. 59).

Mit der Privatisierung erhoffte Innovationen hatten ihren Preis. Das auf Märkten notwendige Streben nach kurzfristigen Gewinnen steht in einer Spannung zu dem Ziel einer verlässlichen, bestmöglich ausgebauten und allgemein zugänglichen Infrastruktur. Gerade bei pendelnden Wissenschaftler:innen lösen die Wörter „Deutsche Bahn“ eine gewisse Grundnervosität aus. Die Zerschlagung der Telekommunikations-Infrastruktur war ein weltweites Phänomen und führte sowohl in den USA als auch in Europa zu ähnlichen Problemen: Einer Abkoppelung nicht profitabler Räume von den mit der Privatisierung erhofften neuesten technologischen Innovationen (Glasfaser, 5G), die nur durch milliardenschwere öffentliche Investitionen ausgeglichen werden kann.

Diese Probleme kamen nicht überraschend. Schon die Leitbegriffe des Gewährleistungs-Staates oder des (speziell für die o.g. Netzwirtschaften entwickelten) Regulierungs-Rechts betonen die Notwendigkeit eines Staates, der zwar keine „eigenen“ Leistungen mehr erbringt, aber eben moderiert. Weil das kein schlichter Rückzug aus der Verantwortung ist, sei der Gewährleistungsstaat nach Gunnar Folke Schuppert gerade „nicht neoliberal“ (Schuppert 2005, S. 22). Deutlich wird dies in Bezug auf die damals diskutierte verbleibende Verantwortung des Staates, die eben auch eine „Auffang-” bzw. „Abfederungsverantwortung“ beinhaltet, um marktförmiges Handeln zu kompensieren oder zu ersetzen (Hoffmann-Riem 2005, S. 96 f.). Ganz konkret wurde diese Form der „Kontextsteuerung“ über die Setzung eines Rahmens eingeschränkt, dessen Inhalte durch die Marktakteure ausgefüllt und dessen Befolgung durch relativ unabhängige Organisationen wie die Bundesnetzagentur überwacht werden.

Konkreter sind hier die Strukturen des Regulierungsrechtes, als Rechtsgebiet, das speziell für Netzwirtschaft en ausdifferenziert worden ist, aber auch auf Bereiche wie die Medien, den Gesundheitssektor, u.a. angewandt wird. Genau wie bei den Debatten um LPE ist auch hier kein direkter Import des „regulation“-Begriffes aus den USA möglich, der dort sehr viel weiter angelegt ist (Ruffert, § 7 in: Fehling/Ruffert, 2010, Rn. 11). Umgekehrt ist der Regulierungsanspruch in Bezug auf die Wirtschaft in Europa intensiver, da hier sowohl aktive Marktbegleitung als auch prospektive Marktgestaltung beabsichtigt ist (Eifert, § 17 GVwR I, 3. Auflage, Rn. 126 f.). Nun zeichnen sich gerade die Märkte für Infrastrukturen durch natürliche Monopole aus, sodass das Regulierungsrecht z.B. im EnWG dieses Marktversagen (eines ohnehin weitläufig konstruierten Marktes) u.a. durch Zugangsansprüche und Preisgestaltung verwalten muss (Schmidt-Preuß 2015, S. 73). Die Probleme der hierarchisch organisierten Daseinsvorsorge wurden zwar intensiv diskutiert, allerdings hat ein vollumfänglicher Turn zu Law&Economics-Ansätzen im öffentlichen Wirtschaftsrecht nie stattgefunden (Ludwigs 2020, S. 12).

Die europäische LPE Bewegung als Transformative Law

Im für LPE prägenden Artikel von Purdy et. al wird ausführlich auf die rechtliche Konstruktion der Wirtschaft eingegangen, um hierüber ein demokratisches Handlungspotential für das Recht zu legitimieren. Dass Märkte hochgradig durch das Recht determiniert werden, ist, wie eben gezeigt, in der deutschsprachigen Debatte nicht diskussionswürdig. Interessant ist eher, welche Rolle dem Recht bei der sozial-ökologischen Transformation in Richtung einer dekarbonisierten Wirtschaft in den europäischen Diskussionen zugesprochen wird. Dass die Stellung des Rechts als eher hoch eingeschätzt wird, zeigt schon die Begriffswahl des „transformativen“ Rechts. Während die oben geschilderten Probleme in den Infrastrukturen des Regulierungsrechtes immer offensichtlicher und die kritischen Stimmen lauter werden, könnte die LPE Strömung in Deutschland und Europa ein Anlass sein, etwas in die Jahre gekommene Grundsatzdebatten in einer anderen Weise wieder aufzugreifen.

Das in den letzten Jahren entwickelte Konzept eines dezentralen transformativen Konstitutionalismus ist ebenfalls eine Variante der Kontextsteuerung, wie sie auch in den oben skizzierten Modellen des Gewährleistungsstaates und des Regulierungsrechtes dominiert. Der entscheidende Unterschied ist, dass zusätzlich die interne Struktur der auf indirekte Weise beeinflussten Organisationen betrachtet wird. (Verfassungs)Recht wird so zu einem Netz, das gesellschaftliche Teilsysteme (etwa die Wirtschaft) zusammenhält und zugleich bis zu einem gewissen Grad ihre Eigenlogik respektiert. Recht agiert hier als Modus der Formgebung und gerade dem Staat eröffnen sich Möglichkeiten der infrastrukturellen Einflussnahme. Diese verknüpfende Infrastruktur des Rechts ist dem Gemeinwohl verpflichtet, gibt dabei aber lediglich Ziele vor. Gerade gegenüber dem Beitrag von Thomas Wischmeyer sollte also betont werden, dass eine Detailregelung, wie sie etwa in der Weimarer Verfassung vorgenommen worden ist, gerade nicht beabsichtigt wird.

Zugleich liegt hier nicht nur eine weitere Variante der „regulierten Selbstregulierung“ (Franzius 2009, 116 ff.) vor. Das wird besonders deutlich, wenn das Konzept des transformativen Rechtes mit dem Konzept der „non-reformist-reforms“ zusammen gebracht wird, die für sich in Anspruch nehmen, die „Selbstregulierung“ gesellschaftlicher Institutionen so zu beeinflussen, dass diese demokratischer werden. Aus der reinen Formgebung wird eine Schaffung konkreter Institutionen, die auf die Beteiligung aller Stakeholder achtet. Wie genau diese Institutionen strukturiert sind, lässt sich wiederum nicht im Voraus bestimmen, sondern muss in einem experimentell-reflexiven Prozess in der Praxis herausgefunden werden. Um diesen Prozess analytisch begleiten zu können, stellt die juristische Analyse auch wieder die Frage nach den in den Institutionen vorherrschenden Machtverhältnissen.

Ganz konkret analysiert die europäische LPE Bewegung aufmerksam die Bestrebungen der Europäischen Kommission, die sozial-ökologische Transformation zu gestalten. So enthält etwa die gerade erlassene Ökodesign-VO die Grundlage, um Unternehmen verschiedener Produktgruppen detaillierte Produktparameter vorzuschreiben. Mag auch der Prozess der Aushandlung zeitintensiv sein, ermöglicht der ebenfalls mit der Verordnung eingeführte digitale Produktpass eine feedbackgestützte Koordination der Wirtschaft, die bisher nicht denkbar war.

Hierin kann, wie oben angesprochen, mit Marija Bartl ein Turn von einer „privatized“ zur „collective“ Vorstellung von „prosperity“ gesehen werden, der jedoch zugleich nicht in Vorstellungen einer rein staatlich determinierten Daseinsvorsorge zurückfällt. Der LPE Ansatz zielt eher auf die Zweckbestimmung und innere Governance-Struktur von Unternehmen. Auch die von Marvin Reiff vorgestellten Ideen zu einem „Verantwortungseigentum“ weisen in eine ähnliche Richtung. Marija Bartl setzt die EU-Regelungen zum Green New Deal in Beziehung zur EU Strategie für eine „social economy“, deren Sozialunternehmen sich durch einen sozialen Zweck als Hauptgrund der unternehmerischen Existenz, der konsequenten Reinvestition von Gewinnen sowie interne demokratische Strukturen auszeichnen.

An dieser Stelle werden weitere Parallelen offensichtlich: zum Genossenschaftswesen, zu älteren Konzepten der Gemeinwirtschaft, aber gerade auch zu den neueren (und zugleich uralten) Diskussionen um Commons. In Bezugnahme auf Elinor Ostrom zugleich aber stärker politökonomisch argumentierend sieht Massimo de Angelis Commons als „social systems in which resources are pooled by a community of subjects who also govern these resources to guarantee the sustainability of the resources (if they are natural resources) and the reproduction of the community, and who engage in commoning, that is, doing in commons that has a direct relation to the needs, desires and apsirations of the commoners.“ (De Angelis 2017, S. 90) Es ist eine Organisationsweise, die in der juristischen Diskussion nahezu nicht vorkommt. Von Beginn an wird im juristischen Studium das Denken in Ansprüchen oder subjektiven Rechten gelehrt. Diese werden dann immer erst nachträglich, und zwar über den Markt als Modus der Kohäsion, zusammengefügt. Auch Commons schützen individuelle Freiheit, aber nicht, indem die Freiheit beim Individuum beginnt.

Zum Forschungsprogramm für ein anderes Regulierungsrecht

Eine Perspektive des transformative law ist für Theorie und Praxis des „Regulierungsrechtes“ interessant. Dieses versucht, die oben genannten Privatisierungen der großen Infrastrukturen zu begleiten. Dass Märkte durch das Recht konstruiert werden, rechtlich eingehegt sind und rechtlich „begleitet“ (ggf. erschaffen) werden müssen steht hier bereits bei den Grundprinzipien fest. Wenn nun die oben genannten Probleme der unzureichenden Infrastrukturen auftreten, könnte mit einer LPE-Perspektive nachgeschärft werden, ob es sich vielleicht nicht nur um Marktversagen in „Bottleneck“-Situationen (etwa einem Energienetz mit einem lokalen Monopolisten) handelt, sondern der Markt als Organisationsweise das Problem ist. Wie Eva Herzog richtig herausstellt (Herzog 2023, S. 970), ist ein wesentlicher Aspekt von LPE das Freihalten von demokratischen Entscheidungsräumen gegenüber dem Markt. Damit ist nicht immer eine „great transformation“ notwendig, vielmehr könnte das Regulierungsrecht auch auf die innere Funktionsweise von Unternehmen schauen, die sich auf einem solchen Markt bewegen.

Commons stellen die oben genannten Infrastrukturen in Teilen bereits jetzt zur Verfügung. So gibt es Energie-Genossenschaften, freie W-LAN-Netze und auf der Daten- wie Software-Ebene zahlreiche frei lizenzierte informationelle Commons, die für ein reibungsloses Fortlaufen der Telekommunikationsinfrastruktur sorgen. Diese Organisationsweisen des Commonings sind resilienter, da sie nicht nur auf die Bedürfnisse der Beteiligten vor Ort ausgerichtet werden, sondern auch modular aufgebaut sind und damit besser repariert oder ergänzt werden können (Gerhardt 2023, S. 113 f.). Die entscheidende Frage ist dann, ob das Regulierungsrecht in seiner jetzigen Form auf Varianten der Commons angewandt werden könnten, um diese im Sinne der (offenen) Regulierungsziele (abhängig von den jeweiligen Sektoren) zu stärken. Letztendlich ist die marktförmige Organisationsweise kein Selbstzweck.

Damit ist keinesfalls ein Zurückfallen in das „alte“ Regime der Daseinsvorsorge in der „Gesellschaft der Organisationen“ gemeint. Die oben geschilderten Debatten um den Gewährleistungsstaat haben dieses zu Recht hinter sich gelassen. Stattdessen sollte heute genauer auf die Potentiale der Privatisierung geschaut werden bzw. muss danach gefragt werden, wer eigentlich „die Privaten“ sind, für die privatisiert wird. Während die Debatte um das Regulierungsrecht neben dem Markt die Organisation (das Unternehmen) als wesentliche Akteurin gesellschaftlicher Ordnungsbildung sieht und ggf. noch netzwerkartige Verknüpfungen zwischen diesen zulässt (Eifert, § 17 GVwR I, 3. Auflage, Rn. 147), wäre es ebenfalls denkbar, Commons als Ziel des Aufbaus von Netzinfrastrukturen zu sehen. Da das Regulierungsrecht immer eher als flexibler Instrumentenmix angesehen wurde und die wettbewerbliche Orientierung im Dienst der angemessenen Infrastrukturleistungen stand, könnte hierüber die zugleich angeregte „Rekommunalisierung“ anders gefasst werden. Wenn etwa Markus Ludwigs schreibt, dass der Wettbewerb durch gemeinwohlorientierte Regulierungsziele ggf. zurückgedrängt werden könne und Eva Herzog sich für demokratische Entscheidungsräume gegenüber Märkten ausspricht, liegen diese Positionen nicht allzu weit auseinander.


SUGGESTED CITATION  Petras, Maximilian: Privatisierung für wen?: Europäische LPE Perspektiven auf das Regulierungsrecht, VerfBlog, 2024/10/11, https://verfassungsblog.de/privatisierung-fur-wen/, DOI: 10.59704/46d7af2fd7081546.

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