„Es gibt nur eine moralisch, rechtlich und strategisch vertretbare Antwort: ein Waffenembargo“
Fünf Fragen an Janina Dill
Der Krieg in Gaza spitzt sich dramatisch zu. Hunderttausende notleidende Zivilist:innen im Norden von Gaza rücken Fragen des humanitären Völkerrechts zurück in den Fokus. Die Kritik an Waffenlieferungen wird in Europa immer lauter – auch in Deutschland. Wir haben Janina Dill, Professorin für Globale Sicherheit an der Universität Oxford, gefragt, welche Rolle das Völkerrecht im Gaza-Krieg spielt, wo es unter Druck gerät, und welche völkerrechtliche Verantwortlichkeit die Bundesrepublik trifft.
1. Diese Woche erreichen uns erneut schreckliche Bilder aus dem Norden des Gazastreifens. Hunderttausende Zivilisten stecken in Jabalia fest, viele von ihnen sind nicht in der Lage, den Evakuierungsanordnungen der israelischen Armee Folge zu leisten. Gleichzeitig berichten Medien darüber, dass die israelische Regierung erneut Pläne diskutiert, Menschen, die im Norden verbleiben, von Nahrung und Wasser abzuschneiden. Welchen völkerrechtlichen Schutz genießen Zivilist:innen, die den Norden von Gaza nicht verlassen haben?
Das humanitäre Völkerrecht fordert, dass Angriffen, die die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft ziehen können, eine wirksame Warnung vorausgehen muss (es sei denn, die Umstände erlauben dies nicht). Bei dieser Vorschrift handelt es sich um eine der am meisten missverstandenen Regelungen der Kriegsführung – das zeigen sowohl der öffentliche als auch der mediale Diskurs über die wiederholten und verheerenden Angriffe auf Jabalia.
Erstens zählt nicht jede Äußerung, die einen bevorstehenden Angriff oder eine Militäroperation ankündigt, als Warnung. Eine wirksame Warnung muss dazu dienen, dass Zivilist:innen sich besser schützen können. Das bedeutet zwar nicht, dass ein Angreifer garantieren kann oder muss, dass Zivilist:innen in Sicherheit gelangen. Aber wenn Warnungen wiederholt zu spät oder zu ungenau ergehen, oder die Vertreibung selbst ein erhebliches Risiko für Zivilist:innen darstellt, dann ist eine Ankündigung eines Angriffs, wie auch immer sie im Einzelfall ausfällt, keine wirksame Warnung im Sinne des humanitären Völkerrechts.
Das zweite Missverständnis besteht darin, dass sich eine Warnung oder Evakuierungsanordnung auf den Status von Zivilist:innen auswirkt, die der Anordnung nicht Folge leisten. Hier gilt unmissverständlich: Steht schon vor der Warnung zu erwarten, dass der Angriff unverhältnismäßig ist, und kommen Zivilist:innen den Anweisungen des Angreifers nicht nach, bleibt der Angriff unverhältnismäßig und völkerrechtswidrig. Zivilist:innen „wiegen nicht weniger“ in der Verhältnismäßigkeitsabwägung, weil sie vorher gewarnt wurden.
Auch das absichtliche Aushungern einer umzingelten Zivilbevölkerung, um darunter befindliche Kämpfer auszuhungern, bleibt verboten und potenziell strafbar – daran ändert sich nichts, wenn die Zivilbevölkerung vorher zur Evakuierung aufgefordert wurde. Wer nicht aus seinem Zuhause flieht, gilt dadurch nicht als direkt an Kampfhandlungen beteiligt. Das aber wäre die Voraussetzung dafür, dass der Schutz, den das humanitäre Völkerrecht Zivilist:innen gewährt, abgeschwächt wird.
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2. Sie schreiben in einem aktuellen Aufsatz mit Tom Dannenbaum, dass durch den Krieg in Gaza bestimmte Konzepte und Prozesse des Völkerrechts unter Druck geraten. Was meinen Sie damit?
Das Ungewöhnliche, vielleicht sogar Einzigartige an diesem Konflikt ist, wie auf der einen Seite das katastrophale Leid der Zivilbevölkerung – nach einigen Maßstäben, etwa der Zahl getöteter Kinder pro Kriegstag, ist dieser Konflikt tödlicher als andere jüngere Kriege – mit der Behauptung Israels, das Völkerrecht einzuhalten, zusammentrifft. Dass Kriegsparteien zunächst wenig plausibel und pro forma behaupten, sich an das Völkerrecht zu halten, ist nicht ungewöhnlich. Aber Israel ist in dieser Hinsicht proaktiv und untermauert seine Behauptung detailliert und mit Unterstützung einiger Rechtsexpert:innen.
Das führt wiederum dazu, dass das Völkerrecht enorme öffentliche Aufmerksamkeit erfährt und viele Menschen sich fragen, ob das Völkerrecht überhaupt einen Beitrag zum Schutz der Zivilbevölkerung leistet. Mit anderen Worten: Das Völkerrecht scheint zugleich relevant und ineffektiv zu sein. Tom Dannenbaum und ich zeigen, dass hierdurch Druck auf dogmatische Konzepte entsteht, die entscheidend dafür sind, um Kampfhandlungen „in Echtzeit“ zu beurteilen, also während der Krieg noch im Gange ist.
Die hohe Polarisierung in der Bewertung von Israels Vorgehen in Gaza ist zum Beispiel teilweise darauf zurückzuführen, dass es Unklarheiten in Bezug auf Vorsatzerfordernisse gibt, insbesondere beim Verbot direkter Angriffe auf Zivilist:innen und zivile Objekte und in Hinblick auf das Aushungern als Kriegsmethode. Keines dieser Verbote – so eines unserer Argumente – erfordert aber, dass die rechtswidrigen Folgen, also tote oder verhungerte Zivilist:innen, der Zweck der verbotenen Handlung ist, was nur äußerst schwierig aus den Umständen abgeleitet werden kann. Unterscheidet man den verbotenen Vorsatz des humanitären Völkerrechts, hier geht es vor allem um Kenntnis der Tatumstände, vom Vorsatz wie wir ihn aus dem Völkerstrafrecht kennen, ist es möglich, bereits jetzt – also während die Kampfhandlungen noch andauern – festzustellen, dass Israel grundlegende Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts verletzt. Den Vorsatz zu spezifizieren ist daher entscheidend, um auch gegenwärtige Kampfhandlungen beurteilen zu können und dem humanitären Völkerrecht zu seiner Wirksamkeit zu verhelfen.
3. Der Gaza-Krieg setzt nicht nur die humanitär-völkerrechtliche Dogmatik unter Druck, sondern rückt auch die Rolle internationaler Gerichte wieder in den Fokus. Normalerweise urteilen internationale Gerichte erst viele Jahre nachdem bestimmte Kriegshandlungen begangen wurden. In den letzten Monaten konnten wir aber beobachten, wie vorläufige Anordnungen, die parallel zum Kriegsgeschehen ergingen, immer mehr Aufmerksamkeit bekamen. Sind Gerichte für diese Art von Echtzeitbegleitung gerüstet?
Der Internationale Gerichtshof (IGH) wurde zunächst nicht dafür geschaffen, um gegenwärtig andauernde Kampfhandlungen zu begrenzen oder in Echtzeit zu evaluieren. Er muss dieser Herausforderung aber gewachsen sein. Vorläufige Anordnungen von Gerichten sind ein wichtiges Werkzeug, das Dritten dabei hilft, laufende Kampfhandlungen rechtlich zu bewerten und ihre Antworten darauf entsprechend anzupassen. Tom Dannenbaum und ich argumentieren in unserem Aufsatz, dass der IGH die Autorität hat, aufzuzeigen, wie das Völkerrecht in einem spezifischen Kontext anzuwenden ist und damit gleichzeitig auf das epistemische Umfeld einzuwirken, innerhalb dessen Dritte – diejenigen, die nicht direkt an eine Anordnung oder ein Urteil des IGH gebunden sind – ihre eigenen Verpflichtungen erfüllen müssen.
Die Bundesrepublik hätte die vorläufigen Anordnungen des IGH im Fall Südafrika gegen Israel etwa als Hinweis verstehen sollen, dass die fortgesetzte materielle Unterstützung Israels das Risiko birgt, dass Deutschland seinerseits gegen rechtliche Verpflichtungen verstößt.
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4. Ihr letzter Punkt scheint derzeit vor allem für die Frage von Waffenlieferung relevant zu sein, die nun wieder verstärkt diskutiert wird, etwa in Frankreich oder Deutschland. Wenn nun vieles darauf hindeutet, dass Israel gegen die vorläufigen Anordnungen des IGH verstoßen hat: Welche Verpflichtungen ergeben sich aus diesen vorläufigen Maßnahmen für Dritte?
Verstößt Israel gegen die vorläufigen Anordnungen des IGH, ist Israel für eine völkerrechtswidrige Handlung verantwortlich. Grundsätzlich könnte Frankreich oder Deutschland, wenn sie materielle Unterstützung für einen solchen Verstoß leisten – beispielsweise Waffenlieferungen für Militäroperationen in Rafah unter Verstoß gegen die dritte vorläufige Anordnung – eine Sekundärverantwortung wegen Beihilfe zu völkerrechtswidrigen Handlungen treffen.
Dabei muss man jedoch auch beachten, dass es rechtliche Fragen gibt, die mehr als eine plausible Antwort haben; Tom und ich beschreiben das als doctrinal contingencies. Die Frage der völkerrechtlichen Sekundärverantwortung hängt in diesen Fällen davon ab, um welche Antwort herum Konsens entsteht. Das führt wiederum dazu, dass die handlungsleitende Dimension vorläufiger Maßnahmen abgeschwächt wird.
In unserem Aufsatz weisen wir daher darauf hin, dass es dogmatisch klarer ist, dass materielle Unterstützung für Israels Offensivoperationen im Gazastreifen die Primärverpflichtungen der unterstützenden Staaten gemäß des gemeinsamen Artikels 1 der Genfer Konventionen und, falls sie Mitglieder sind, des Arms Trade Treaty verletzen.
5. Vor einigen Tagen wurde darüber berichtet, dass die Bundesrepublik von Israel nun verlangt, eine Klausel zu unterschreiben, der zufolge mit aus Deutschland gelieferten Waffen kein Völkermord begangen werde. Kann sich die Bundesrepublik damit ihrer völkerrechtlichen Verantwortung entziehen?
Wir wissen zwar nicht, was diese Klausel genau besagt, aber ich finde bereits die bloße Idee einer solchen Klausel alarmierend. Jeder Krieg birgt ein gewisses Risiko von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht. Enthalten Waffenhandelsabkommen Klauseln, die versuchen, das Haftungsrisiko für den liefernden Staat zu verringern, ist das erst einmal nicht überraschend – auch wenn es eine Schwelle geben sollte, ab der das Risiko von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht zu einem Waffenembargo führt, anstatt lediglich zu einer Freistellungsklausel.
Es ist aber sehr wichtig, sich klarzumachen, dass nicht jeder Krieg das Risiko eines Völkermords birgt. Die Bundesrepublik hat eine Pflicht zur Verhinderung von Völkermord, die ausgelöst wird, sobald sie „Kenntnis von der ernsthaften Gefahr hatte, dass Völkermordhandlungen begangen werden könnten.“
Auch Handlungen, die das Risiko eines Völkermords in sich tragen, selbst wenn sie später nicht als solcher eingestuft werden (etwa von einem Strafgericht), sind sehr wahrscheinlich dennoch rechtswidrig und möglicherweise sogar als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafbar.
Wenn die Bundesregierung ein Risiko dafür sieht, dass Israels Verhalten gegen die Völkermordkonvention verstößt, gibt es nur eine moralisch, rechtlich und strategisch vertretbare Antwort: ein Waffenembargo.
Das Interview wurde auf Englisch geführt. Vielen Dank an Rosa-Lena Lauterbach für wertvolle Hinweise zu der deutschen Übersetzung.
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Editor’s Pick
von MORITZ SCHRAMM
Diese Rubrik war eigentlich dazu gedacht, Ihnen Kulturerzeugnisse abseits des Juristischen – und vor allem der allgegenwärtigen Kriege und Krisen – näherzubringen. Diese Woche wird mir letzteres leider nicht gelingen. Stattdessen möchte ich die wortgewaltige, extrem lustige und zugleich tief berührende Belletristik von Serhij Zhadan empfehlen. Zhadan ist Chronist der postsowjetischen Ukraine und schreibt seit den 1990er Jahren über jene Teile Osteuropas, die Timothy Snyder düster als „Bloodlands“ bezeichnet. Doch Zhadan zeigt, voller Zynismus und Lebenslust, dass diese Region so viel mehr ist als nur die „Bloodlands“ fremder Mächte.
Ob in Hymne der demokratischen Jugend, Die Erfindung des Jazz im Donbass, Anarchy in the UKR oder Internat – in all diesen Werken erzählt Zhadan vom Kampf des Alltäglichen in einer Welt, in der ein Mangel an Regeln und Strukturen auch Freiheit versprach. Die ersten drei sind sich in ihrer wilden, energiegeladenen Erzählweise ähnlich – sie sind eine geopolitisch bedingt verspätete und vielleicht sogar bessere Antwort auf Kerouac, Ginsberg und die Beat Generation. Und dann, weil die Zeiten eben so sind, wie sie sind, möchte ich Ihnen Internat ans Herz legen. Dieses Buch ist nicht mehr humorvoll, sondern so düster, komplex und tief berührend wie die Lage im Osten der Ukraine selbst – wenn man sich davon überhaupt noch berühren lässt. Und das sollten wir. Und Zhadan selbst? Der hat sich im Sommer freiwillig gemeldet und dient nun in einem Regiment der Nationalgarde nahe seiner Heimatstadt Charkiw.
Serhij Zhadan, Internat, Suhrkamp, Broschur, 300 S.
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Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von EVA MARIA BREDLER
Diese Woche waren wir weiterhin damit beschäftigt, den Berg an Fällen zu verarbeiten, die der Europäische Gerichtshof am 4. Oktober 2024 entschieden hat.
Eines dieser Urteile ist ein klares 1:0 für die Pressefreiheit: Le Monde sollte Real Madrid 330.000 € wegen Verleumdung zahlen, es ging um Dopingvorwürfe. In Real Madrid vs. Le Monde entschied der Gerichtshof nun, dass derart überhöhte Schadensersatzansprüche die Pressefreiheit verletzen können. EMILIA SANDRI (EN) analysiert, was dieses Urteil für nationale Gerichte und die EU-weite Durchsetzung von Grundrechten bedeutet.
In einem weiteren Urteil vom 4. Oktober erklärte der Gerichtshof das EU-Marokko-Handelsabkommen faktisch für unwirksam und erkannte die Klagebefugnis von Front Polisario an – der Befreiungsbewegung, die die Rechte des Volkes der Westsahara vertritt (lesen Sie dazu auch JED ODERMATTs Beitrag von letzter Woche). KATARZYNA SZEPELAK (EN) lobt den flexiblen Ansatz des Gerichtshofs, der einen besseren Zugang zu EU-Gerichten verspricht.
Schon der September brachte einige Knaller aus Luxemburg. KAMYA CHAWLA (EN) sieht in Neves 77 Solutions und KS und KD Leitentscheidungen für die Zukunft der gerichtlichen Überprüfung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Der Gerichtshof treibe die Integration der GASP in die breitere EU-Rechtsordnung voran.
Ein wichtiger Akteur in der Außenpolitik ist auch die EU-Kommission, die jetzt ein strukturelles Makeover bekommen soll – neuer Look, neue Prioritäten? MARIA PATRIN (EN) meint, dass die neue Kommission voraussichtlich hierarchischer und weniger koordiniert sein wird, mit einer weniger grünen politischen Agenda.
Und die Agenda schien schon davor nicht allzu grün zu sein – zumindest behaupten dies die NGOs, die eine „interne Überprüfung“ nach der Aarhus-Verordnung eingeleitet haben, um die EU zu ambitionierteren Klimazielen zu verpflichten. NIKLAS TÄUBER (EN) erklärt, warum dieser ungewöhnliche, innovative Ansatz wohl scheitern wird.
Auch LORIN-JOHANNES WAGNER’s (EN) Ansatz ist eher unkonventionell: Da traditionelle Durchsetzungsmechanismen – wie Urteile des EuGH – offenbar nicht ausreichen, damit sich Mitgliedstaaten an das Gemeinsame Europäische Asylsystem halten, schlägt er vor, das GEAS durch eine horizontale Staatshaftung durchzusetzen. Danach könnten Mitgliedstaaten in den nationalen Gerichtsbarkeiten anderer Mitgliedstaaten Letztere wegen finanzieller Schäden verklagen.
Polen bewirbt sich gerade als potenzieller Kandidat für eine solche Klage: Diese Woche wurde bekannt, dass Polen das Asylrecht aussetzen will bei „einer Bedrohung durch einen Zustrom von Einwanderern, der das Land destabilisieren könnte“. LENA RIEMER (EN) hält den Vorschlag nicht nur für rechtswidrig, sondern auch für eine Gefahr für das Gemeinsame Europäische Asylsystem.
Doch Rechtspopulist:innen missachten nicht nur das Recht, sondern nutzen es auch: SEBASTIAN WOLF (DE) zeigt, wie rechtspopulistische Akteure in Liechtenstein direktdemokratische Verfahren instrumentalisieren.
Unterdessen nutzen deutsche Populist:innen andere rechtliche Wege. FDP und BSW klagten gegen die öffentlich-rechtliche Vorwahlberichterstattung, die sich in erster Linie auf aktuelle Umfrageergebnisse stützt. MADELINE TRAPPMANN (DE) hat Zweifel an der neuen Rechtsprechung, vor allem mit Blick auf Chancengleichheit und Vielfaltsicherung.
(Fehlende) Chancengleichheit ist auch ein Thema, wenn man als Frau bei Daimler arbeitet. Das Arbeitsgericht Stuttgart stellte geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung fest und sprach der klagenden Mitarbeiterin die Differenz zwischen ihrem Gehalt und dem Medianentgelt der männlichen Vergleichsgruppe zu. Doch an wessen Gehalt orientiert sich die Nachzahlung; wie viel Pay ist „Equal Pay“? Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg meint nun: Es dürfe nie mehr als das mittlere Entgelt der männlichen Kollegen sein. ANNA LEONI GROTECLAES (DE) erklärt, warum das nicht richtig sein kann.
Gesetze sind wie Würste – man sollte besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden? Warum der Entwurf des neuen Tierschutzgesetzes beweist, dass man lieber bei beidem dabei sein sollte, weiß FELIX AIWANGER (DE). Der Gesetzentwurf werfe erhebliche rechtliche Bedenken auf.
Dabei zu sein, wenn Gesetze gemacht werden, ist Brot und Butter von Rechtssoziolog:innen – und diese Woche bereichert JULIA BÖCKER (DE) die Debatte um Mutterschutz nach Fehlgeburten mit einer soziologischen Perspektive. Sie untersucht die diskursiven Implikationen und warnt davor, dass Mutterschutz nach Fehlgeburten den Betroffenen symbolisch den Status einer „Mutter“ verleihen würde. Während sich viele trauernde Eltern diese Anerkennung wünschen, könnte dies auch fundamentalistische Diskurse zum „Schutz des ungeborenen Lebens“ bestärken.
Ein solcher fundamentalistischer Diskurs führte in Brasilien fast zu einem restriktiven Abtreibungsrecht: Im Mai wollte das brasilianische Parlament den Zugang zu Abtreibungen einschränken, selbst im Fall von Vergewaltigungen. Die Zivilgesellschaft und das Verfassungsgericht setzten konnten dies verhindern. ELOÍSA MACHADO DE ALMEIDA (EN) zeigt, warum das brasilianische Parlament zu einem gefährlichen Ort für die sexuellen und reproduktiven Rechte von Frauen geworden ist und wie ein institutioneller Streit zwischen Parlament und Verfassungsgericht die Lage weiter verschärft.
Auch in Ecuador und Uruguay intervenierten Verfassungsgerichte erfolgreich: Beide Länder waren früher wegweisend, wenn es um den Schutz des Rechts auf Gesundheit ging. Inzwischen beugen sich die Regierungen oft dem Druck von (Tabak-, Alkohol-, Zucker-)Industrien. VALENTINA CASTAGNARI AZNAR und SILVIA SERRANO GUZMÁN (EN) bewerten das Potenzial juristischer Interventionen angesichts mächtiger wirtschaftlicher Interessen.
Ecuador hat derzeit noch mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Nachdem am 9. Januar 2024 Mitglieder der organisierten Kriminalität Geiseln in einer Live-Nachrichtensendung nahmen, erklärte Ecuador einen „internen bewaffneten Konflikt“ und 22 organisierte Gruppen zu „militärischen Zielen“. Während sich die soziale und politische Lage weiter dynamisch entwickelt, reflektiert EFRÉN GUERRERO SALGADO (EN) über die „neun Monate des Chaos“.
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Forthcoming October 2024
“This superb collection, edited by Bönnemann and Tigre, brings together a valuable and diverse set of scholarly insights on the landmark 2024 ‘climate trio’ of rulings by the European Court of Human Rights. A must-read analysis for anyone interested in these milestone human rights rulings and their broader implications for global climate litigation, climate policy and governance.”
Jacqueline Peel, Melbourne Law School
“This volume, The Transformation of European Climate Litigation, skillfully elucidates the significance of the European Court of Human Rights’ recent rulings on climate change. By integrating perspectives from human rights law, environmental law and beyond, it offers a nuanced and in-depth analysis of how these landmark decisions will shape future litigation across Europe and around the world. A timely and essential resource for those navigating the intersections of climate change, human rights, and European legal frameworks.”
Margaretha Wewerinke-Singh, University of Amsterdam
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Und schließlich gab es diese Woche reichlich Debatten auf dem Verfassungsblog:
Gemeinsam mit dem africanlegalstudies.blog haben wir das Symposium „Unmasking the Intractable: Exploring Anti-Racism and the Law“ (EN) gestartet, das sich kritisch mit den Herausforderungen rassistischer Diskriminierung im internationalen und nationalen Recht auseinandersetzt. FAREDA BANDA, HATEM ELLIESIE und THOKO KAIME eröffnen das Symposium, indem sie die Unwirksamkeit von Antirassismusgesetzen untersuchen. JOHANNES SIEGEL schaut sich die Rolle des neuen Polizeibeauftragten des Bundes an und wie dieser Racial Profiling begegnen könnte. DANIEL-THABANI NCUBE argumentiert, dass Recht gegen rassistische Diskriminierung deshalb ineffektiv sei, weil es auf dem vagen Konzept der „Rasse“ beruhe. Das Symposium geht in den kommenden Tagen weiter.
Parallel haben wir das Symposium der letzten Woche „2024 ICJ Advisory Opinion on the Occupied Palestinian Territory“ (EN) fortgesetzt (und in Kapitel gegliedert). Dabei beobachtet ARIEL ZEMACH, dass einige Feststellungen des Gerichtshofs völkerrechtlich dünn begründet seien, insbesondere mit Blick auf das Gewaltverbot und das Recht der Staatenverantwortlichkeit. JASMINE MOUSSA analysiert die Trennung zwischen jus ad bellum/in bello, wie sie sich aus dem Gutachten ergibt. AEYAL GROSS erkennt in dem Gutachten einen funktionalen, nuancierteren Ansatz zur Besatzung. SHASTIKK KUMARAN stimmt zu, bezweifelt jedoch, ob Israel tatsächlich in der Lage war, im Gazastreifen öffentliche Gewalt hinreichend auszuüben. YUVAL SHANY und AMICHAI COHEN diskutieren drei mögliche Gründe, warum der IGH die Relevanz von Israels Sicherheitsbedenken ablehnte. Für JINAN BASTAKI stellt das Gutachten klar, dass Sicherheit keine illegalen Handlungen wie Annexionen oder eine verlängerte Besatzung rechtfertigen kann. MATTHIAS GOLDMANN wirft einen genaueren Blick auf die Passagen, die die rechtlichen Konsequenzen des Gutachtens für UN-Mitgliedstaaten darlegen, während YAËL RONEN beobachtet, dass diese Verpflichtungen der Drittstaaten nirgends konkretisiert würden. YUSSEF AL TAMIMI und ANDREAS PIPERIDES analysieren, wie sich das Gutachten auf die vom Vereinigten Königreich (über dessen Militärbasen auf Zypern) geleistete Unterstützung Israels auswirken könnte. MARYAM JAMSHIDI untersucht, ob die israelische Regierung aus der UN-Generalversammlung ausgeschlossen werden könnte, wenn sich Israel nicht an das Gutachten hält. MOHAMED M. EL ZEIDY konzentriert sich auf die rechtlichen Feststellungen des IGH in Bezug auf die Oslo-Abkommen und die Amici Curiae-Verfahren vor dem IStGH. TAMAR HOSTOVSKY BRANDES untersucht das Verhältnis zwischen dem IGH-Gutachten und israelischen Recht in Bezug auf die Pflicht, zwischen Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten zu unterscheiden. VICTOR KATTAN argumentiert, dass das Gericht – zwischen den Zeilen – den Begriff „systemische Diskriminierung“ als Synonym für „Apartheid“ verwende.
Zum Abschluss unseres Symposiums über „Law and Political Economy in Germany“ (EN) argumentiert MAX PETRAS (DE), dass – trotz der Spannungen mit den US-amerikanischen LPE-Positionen – die europäische LPE-Agenda theoretisch fundiert sei und wichtige soziale Infrastrukturen innovativ reorganisieren könne. VICTORIA GUIJARRO SANTOS zeigt am Beispiel von Uber, wie das Recht sowohl die herrschende Wirtschaftsordnung formt als auch von dieser geformt wird.
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Das wäre es für diese Woche! Ihnen alles Gute
Ihr
Verfassungsblog-Team
Wenn Sie das wöchentliche Editorial als Email zugesandt bekommen wollen, können Sie es hier bestellen.
Zwei Fragen zu dem Interview:
Kann man ernsthaft über Gaza sprechen, ohne ein einziges Mal das Wort Terroristen in den Mund zu nehmen? Das ist ja das Problem, wenn sich eine Militärmacht Terroristen gegenüberstehen sieht, dass die Unterscheidung zwischen Terroristen und Zivilisten extrem schwer zu treffen ist, weil sich die Terroristen als Zivilisten tarnen, zivile Infrastruktur verwenden, Militärische Anlagen und Verstecke bewusst unter Krankenhäuser, Schulen, Moscheen verlegen. Ich meine nicht, dass das ein Freifahrtschein sein soll und sicher nicht, dass alle toten Zivilisten in Gaza Terroristen waren oder das Vorgehen in Ordnung ist: ich meine aber, dass man genau das zum Thema machen müsste, wie Krieg in Zeiten des Terrors aussehen, wie Zivilisten schützen, falls die Gegenseite bewusst Zivilisten als Schutzschilde benutzt usw. Das gar nicht erst zu thematisieren, macht man es sich sehr einfach. Das hat mich sehr irritiert, da Zivilisten ja Thema das Interviews sind.
Wenn man einen Stopp der Waffenlieferungen an Israel fordert, muss man schon die Konsequenz dessen sich klar machen, was das letztlich bedeutet. Ich denke, es ist schon sehr klar, dass ein Staat wie der Iran nur deshalb nicht stärker direkt versucht Israel auszulöschen und zu vernichten, weil er militärisch überlegen ist. Muss man zumindest mal thematisieren, was das für ein Dilemma ist, falls Israel sich nicht mehr verteidigen könnte, wenn man sowas thematisiert, irritierend es einfach auszuschweigen.
Der Mailbetreff und Titel des Newsletters suggeriert eine deutlich eindeutigere Position, als jene, die sich tatsächlich aus dem Interviewtext ergibt. Im Interview liest man nämlich: “Wenn die Bundesregierung ein Risiko dafür sieht, dass Israels Verhalten gegen die Völkermordkonvention verstößt, gibt es nur eine moralisch, rechtlich und strategisch vertretbare Antwort: ein Waffenembargo.” Gerade ob ein Verstoß gegen die Völkermordkonvention vorliegt ist aber gerade die völkerrechtliche Frage und Janina Dill positioniert sich auch im Interview hierzu nicht eindeutig. Eine solch eindeutige Positionierung deutet der Titel aber an.
Das ist letztendlich eine Form des Clickbaiting, die ich beim Verfassungsblog nicht erwartet hätte. Das Ganze lässt außerdem – wie einige andere Beiträge in letzter Zeit auch – politische Ausgewogenheit vermissen.
Danke für Ihre konstruktiven Fragen.
Shlomo, die Forderung ist Waffenlieferungen/Unterstützung Israels von Völkerrechtskonformität der Kriegführung abhängig zu machen. Dies ist selbst ein Völkerrechtsgebot und würde Israel nicht zwingend un-verteidigt lassen, sondern vor die Wahl stellen. Niemand hat ein Recht das Recht in Ausübung der Selbstverteidigung zu brechen.
Adrian, der Tenor und Titel entsprechen durchaus meiner öffentlich vertretenen Position, die im Detail in dem dem Interview zu Grunde liegenden Papier erklärt ist. https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4978205