„Es gibt nur eine moralisch, rechtlich und strategisch vertretbare Antwort: ein Waffenembargo“
Fünf Fragen an Janina Dill
Der Krieg in Gaza spitzt sich dramatisch zu. Hunderttausende notleidende Zivilist:innen im Norden von Gaza rücken Fragen des humanitären Völkerrechts zurück in den Fokus. Die Kritik an Waffenlieferungen wird in Europa immer lauter – auch in Deutschland. Wir haben Janina Dill, Professorin für Globale Sicherheit an der Universität Oxford, gefragt, welche Rolle das Völkerrecht im Gaza-Krieg spielt, wo es unter Druck gerät, und welche völkerrechtliche Verantwortlichkeit die Bundesrepublik trifft.
1. Diese Woche erreichen uns erneut schreckliche Bilder aus dem Norden des Gazastreifens. Hunderttausende Zivilisten stecken in Jabalia fest, viele von ihnen sind nicht in der Lage, den Evakuierungsanordnungen der israelischen Armee Folge zu leisten. Gleichzeitig berichten Medien darüber, dass die israelische Regierung erneut Pläne diskutiert, Menschen, die im Norden verbleiben, von Nahrung und Wasser abzuschneiden. Welchen völkerrechtlichen Schutz genießen Zivilist:innen, die den Norden von Gaza nicht verlassen haben?
Das humanitäre Völkerrecht fordert, dass Angriffen, die die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft ziehen können, eine wirksame Warnung vorausgehen muss (es sei denn, die Umstände erlauben dies nicht). Bei dieser Vorschrift handelt es sich um eine der am meisten missverstandenen Regelungen der Kriegsführung – das zeigen sowohl der öffentliche als auch der mediale Diskurs über die wiederholten und verheerenden Angriffe auf Jabalia.
Erstens zählt nicht jede Äußerung, die einen bevorstehenden Angriff oder eine Militäroperation ankündigt, als Warnung. Eine wirksame Warnung muss dazu dienen, dass Zivilist:innen sich besser schützen können. Das bedeutet zwar nicht, dass ein Angreifer garantieren kann oder muss, dass Zivilist:innen in Sicherheit gelangen. Aber wenn Warnungen wiederholt zu spät oder zu ungenau ergehen, oder die Vertreibung selbst ein erhebliches Risiko für Zivilist:innen darstellt, dann ist eine Ankündigung eines Angriffs, wie auch immer sie im Einzelfall ausfällt, keine wirksame Warnung im Sinne des humanitären Völkerrechts.
Das zweite Missverständnis besteht darin, dass sich eine Warnung oder Evakuierungsanordnung auf den Status von Zivilist:innen auswirkt, die der Anordnung nicht Folge leisten. Hier gilt unmissverständlich: Steht schon vor der Warnung zu erwarten, dass der Angriff unverhältnismäßig ist, und kommen Zivilist:innen den Anweisungen des Angreifers nicht nach, bleibt der Angriff unverhältnismäßig und völkerrechtswidrig. Zivilist:innen „wiegen nicht weniger“ in der Verhältnismäßigkeitsabwägung, weil sie vorher gewarnt wurden.
Auch das absichtliche Aushungern einer umzingelten Zivilbevölkerung, um darunter befindliche Kämpfer auszuhungern, bleibt verboten und potenziell strafbar – daran ändert sich nichts, wenn die Zivilbevölkerung vorher zur Evakuierung aufgefordert wurde. Wer nicht aus seinem Zuhause flieht, gilt dadurch nicht als direkt an Kampfhandlungen beteiligt. Das aber wäre die Voraussetzung dafür, dass der Schutz, den das humanitäre Völkerrecht Zivilist:innen gewährt, abgeschwächt wird.
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2. Sie schreiben in einem aktuellen Aufsatz mit Tom Dannenbaum, dass durch den Krieg in Gaza bestimmte Konzepte und Prozesse des Völkerrechts unter Druck geraten. Was meinen Sie damit?
Das Ungewöhnliche, vielleicht sogar Einzigartige an diesem Konflikt ist, wie auf der einen Seite das katastrophale Leid der Zivilbevölkerung – nach einigen Maßstäben, etwa der Zahl getöteter Kinder pro Kriegstag, ist dieser Konflikt tödlicher als andere jüngere Kriege – mit der Behauptung Israels, das Völkerrecht einzuhalten, zusammentrifft. Dass Kriegsparteien zunächst wenig plausibel und pro forma behaupten, sich an das Völkerrecht zu halten, ist nicht ungewöhnlich. Aber Israel ist in dieser Hinsicht proaktiv und untermauert seine Behauptung detailliert und mit Unterstützung einiger Rechtsexpert:innen.
Das führt wiederum dazu, dass das Völkerrecht enorme öffentliche Aufmerksamkeit erfährt und viele Menschen sich fragen, ob das Völkerrecht überhaupt einen Beitrag zum Schutz der Zivilbevölkerung leistet. Mit anderen Worten: Das Völkerrecht scheint zugleich relevant und ineffektiv zu sein. Tom Dannenbaum und ich zeigen, dass hierdurch Druck auf dogmatische Konzepte entsteht, die entscheidend dafür sind, um Kampfhandlungen „in Echtzeit“ zu beurteilen, also während der Krieg noch im Gange ist.
Die hohe Polarisierung in der Bewertung von Israels Vorgehen in Gaza ist zum Beispiel teilweise darauf zurückzuführen, dass es Unklarheiten in Bezug auf Vorsatzerfordernisse gibt, insbesondere beim Verbot direkter Angriffe auf Zivilist:innen und zivile Objekte und in Hinblick auf das Aushungern als Kriegsmethode. Keines dieser Verbote – so eines unserer Argumente – erfordert aber, dass die rechtswidrigen Folgen, also tote oder verhungerte Zivilist:innen, der Zweck der verbotenen Handlung ist, was nur äußerst schwierig aus den Umständen abgeleitet werden kann. Unterscheidet man den verbotenen Vorsatz des humanitären Völkerrechts, hier geht es vor allem um Kenntnis der Tatumstände, vom Vorsatz wie wir ihn aus dem Völkerstrafrecht kennen, ist es möglich, bereits jetzt – also während die Kampfhandlungen noch andauern – festzustellen, dass Israel grundlegende Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts verletzt. Den Vorsatz zu spezifizieren ist daher entscheidend, um auch gegenwärtige Kampfhandlungen beurteilen zu können und dem humanitären Völkerrecht zu seiner Wirksamkeit zu verhelfen.
3. Der Gaza-Krieg setzt nicht nur die humanitär-völkerrechtliche Dogmatik unter Druck, sondern rückt auch die Rolle internationaler Gerichte wieder in den Fokus. Normalerweise urteilen internationale Gerichte erst viele Jahre nachdem bestimmte Kriegshandlungen begangen wurden. In den letzten Monaten konnten wir aber beobachten, wie vorläufige Anordnungen, die parallel zum Kriegsgeschehen ergingen, immer mehr Aufmerksamkeit bekamen. Sind Gerichte für diese Art von Echtzeitbegleitung gerüstet?
Der Internationale Gerichtshof (IGH) wurde zunächst nicht dafür geschaffen, um gegenwärtig andauernde Kampfhandlungen zu begrenzen oder in Echtzeit zu evaluieren. Er muss dieser Herausforderung aber gewachsen sein. Vorläufige Anordnungen von Gerichten sind ein wichtiges Werkzeug, das Dritten dabei hilft, laufende Kampfhandlungen rechtlich zu bewerten und ihre Antworten darauf entsprechend anzupassen. Tom Dannenbaum und ich argumentieren in unserem Aufsatz, dass der IGH die Autorität hat, aufzuzeigen, wie das Völkerrecht in einem spezifischen Kontext anzuwenden ist und damit gleichzeitig auf das epistemische Umfeld einzuwirken, innerhalb dessen Dritte – diejenigen, die nicht direkt an eine Anordnung oder ein Urteil des IGH gebunden sind – ihre eigenen Verpflichtungen erfüllen müssen.
Die Bundesrepublik hätte die vorläufigen Anordnungen des IGH im Fall Südafrika gegen Israel etwa als Hinweis verstehen sollen, dass die fortgesetzte materielle Unterstützung Israels das Risiko birgt, dass Deutschland seinerseits gegen rechtliche Verpflichtungen verstößt.
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4. Ihr letzter Punkt scheint derzeit vor allem für die Frage von Waffenlieferung relevant zu sein, die nun wieder verstärkt diskutiert wird, etwa in Frankreich oder Deutschland. Wenn nun vieles darauf hindeutet, dass Israel gegen die vorläufigen Anordnungen des IGH verstoßen hat: Welche Verpflichtungen ergeben sich aus diesen vorläufigen Maßnahmen für Dritte?
Verstößt Israel gegen die vorläufigen Anordnungen des IGH, ist Israel für eine völkerrechtswidrige Handlung verantwortlich. Grundsätzlich könnte Frankreich oder Deutschland, wenn sie materielle Unterstützung für einen solchen Verstoß leisten – beispielsweise Waffenlieferungen für Militäroperationen in Rafah unter Verstoß gegen die dritte vorläufige Anordnung – eine Sekundärverantwortung wegen Beihilfe zu völkerrechtswidrigen Handlungen treffen.
Dabei muss man jedoch auch beachten, dass es rechtliche Fragen gibt, die mehr als eine plausible Antwort haben; Tom und ich beschreiben das als doctrinal contingencies. Die Frage der völkerrechtlichen Sekundärverantwortung hängt in diesen Fällen davon ab, um welche Antwort herum Konsens entsteht. Das führt wiederum dazu, dass die handlungsleitende Dimension vorläufiger Maßnahmen abgeschwächt wird.
In unserem Aufsatz weisen wir daher darauf hin, dass es dogmatisch klarer ist, dass materielle Unterstützung für Israels Offensivoperationen im Gazastreifen die Primärverpflichtungen der unterstützenden Staaten gemäß des gemeinsamen Artikels 1 der Genfer Konventionen und, falls sie Mitglieder sind, des Arms Trade Treaty verletzen.
5. Vor einigen Tagen wurde darüber berichtet, dass die Bundesrepublik von Israel nun verlangt, eine Klausel zu unterschreiben, der zufolge mit aus Deutschland gelieferten Waffen kein Völkermord begangen werde. Kann sich die Bundesrepublik damit ihrer völkerrechtlichen Verantwortung entziehen?
Wir wissen zwar nicht, was diese Klausel genau besagt, aber ich finde bereits die bloße Idee einer solchen Klausel alarmierend. Jeder Krieg birgt ein gewisses Risiko von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht. Enthalten Waffenhandelsabkommen Klauseln, die versuchen, das Haftungsrisiko für den liefernden Staat zu verringern, ist das erst einmal nicht überraschend – auch wenn es eine Schwelle geben sollte, ab der das Risiko von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht zu einem Waffenembargo führt, anstatt lediglich zu einer Freistellungsklausel.
Es ist aber sehr wichtig, sich klarzumachen, dass nicht jeder Krieg das Risiko eines Völkermords birgt. Die Bundesrepublik hat eine Pflicht zur Verhinderung von Völkermord, die ausgelöst wird, sobald sie „Kenntnis von der ernsthaften Gefahr hatte, dass Völkermordhandlungen begangen werden könnten.“
Auch Handlungen, die das Risiko eines Völkermords in sich tragen, selbst wenn sie später nicht als solcher eingestuft werden (etwa von einem Strafgericht), sind sehr wahrscheinlich dennoch rechtswidrig und möglicherweise sogar als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafbar.
Wenn die Bundesregierung ein Risiko dafür sieht, dass Israels Verhalten gegen die Völkermordkonvention verstößt, gibt es nur eine moralisch, rechtlich und strategisch vertretbare Antwort: ein Waffenembargo.
Das Interview wurde auf Englisch geführt. Vielen Dank an Rosa-Lena Lauterbach für wertvolle Hinweise zu der deutschen Übersetzung.
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Editor’s Pick
von MORITZ SCHRAMM
Diese Rubrik war eigentlich dazu gedacht, Ihnen Kulturerzeugnisse abseits des Juristischen – und vor allem der allgegenwärtigen Kriege und Krisen – näherzubringen. Diese Woche wird mir letzteres leider nicht gelingen. Stattdessen möchte ich die wortgewaltige, extrem lustige und zugleich tief berührende Belletristik von Serhij Zhadan empfehlen. Zhadan ist Chronist der postsowjetischen Ukraine und schreibt seit den 1990er Jahren über jene Teile Osteuropas, die Timothy Snyder düster als „Bloodlands“ bezeichnet. Doch Zhadan zeigt, voller Zynismus und Lebenslust, dass diese Region so viel mehr ist als nur die „Bloodlands“ fremder Mächte.
Ob in Hymne der demokratischen Jugend, Die Erfindung des Jazz im Donbass,