16 October 2024

Chancengleichheit in der Vorwahlberichterstattung

Parteien, die bei einer Wahl Erfolg haben wollen, sind darauf angewiesen, im öffentlichen Diskurs Gehör zu finden. Wenig überraschend hat es daher immer wieder zu Kontroversen geführt, wenn öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten Parteien in Vorwahlsendungen nicht berücksichtigen. Anlass hierfür bot jüngst die Berichterstattung des WDR zur Europawahl (dazu schon Hobusch) sowie die des RBB zur Landtagswahl in Brandenburg. In beiden Fällen versuchte jeweils eine Partei, sich in eine bereits konzipierte, unmittelbar vor der Wahl stattfindende Diskussionsveranstaltung einzuklagen. Die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen dieser Verfahren divergieren zwar in ihrem Tenor. Beide deuten jedoch auf eine neue Linie in der Rechtsprechung zur Vorwahlberichterstattung hin, die auch für die Bundestagswahl im kommenden Jahr noch relevant werden könnte und die kritisch zu betrachten ist.

Der Grundsatz abgestufter Chancengleichheit

Ein Anspruch auf Berücksichtigung kann sich aus dem Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien aus Art. 3 Abs. 1, 3 i.V.m. Art. 21 Abs. 1 GG ergeben. Während ein gegen die Presse gerichteter Anspruch auf Berücksichtigung fernliegend ist (so auch klarstellend BVerfGE 48, 271 [278]), da diese über Art. 5 Abs. 1 S. 2 Var. 1 GG sog. Tendenzfreiheit genießt, ist ein solcher Anspruch gegen eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt durchaus denkbar. Denn anders als die Pressefreiheit wird die Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 2 Var. 2 GG nicht um ihrer selbst willen gewährleistet, sondern dient der freien öffentlichen und individuellen Meinungsbildung (vgl. BVerfGE 57, 295 [319]; 83, 238 [300]; 87, 181 [197]; 90, 60 [87]; 114, 371 [387]). Da der private Rundfunk von dieser dogmatischen Erwägung in der dualen Rundfunkordnung inhaltlich weniger betroffen ist, kommt ihr Kernauftrag vorrangig den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben hierzu grundsätzlich alle in Betracht kommenden Kräfte in dem von einem Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung bestimmten Gesamtprogramm zu Wort kommen zu lassen (vgl. BVerfGE 31, 314 [326]). In ihrer Vorwahlberichterstattung haben sie daher grundsätzlich alle Parteien zu berücksichtigen, die zur Wahl zugelassen sind (vgl. BVerfGE 6, 273 [280]; 7, 99 [107]). Das Bundesverfassungsgericht hat diesbezüglich früh klargestellt, dass es den Organen des Rundfunks nicht zusteht, Parteien, die zur Teilnahme an der Wahl zugelassen sind, ein Podium im Rundfunk zu versagen, nur weil sie diese für zu unbedeutend oder gar für schädlich halten (BVerfGE 7, 99 [107]).

Dieses Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien gilt jedoch nicht absolut. Denn neben der geforderten Meinungsvielfalt der Berichterstattung ist es ebenso Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, sein Publikum objektiv über die aktuelle Gewichtsverteilung zwischen den bedeutsamen politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Gruppen zu informieren. Diese gesellschaftliche Funktion des Rundfunks stellt einen gewichtigen Grund dar, der es in engen Grenzen rechtfertigt, die jeweilige Bedeutung der politischen Partei bis zu einem gewissen Grad bei der Bemessung der Sendezeiten zur Vorwahlberichterstattung in Rechnung zu stellen (grundlegend BVerfGE 14, 121 [136 f.], bestätigend BVerfGE 34, 160 [163 f.]; 48, 271 [277]). Den Rundfunkanstalten steht es zu, Parteien bei ihrer Programmplanung daher bei bestimmten Sendungen nicht zu berücksichtigen. Die Nichtberücksichtigung muss jedoch Ergebnis einer objektiven Ermittlung der Bedeutung einer Partei sein und darf nur Ausnahme und nicht Regel werden. Ein redaktionelles Konzept einer Vorwahlsendung hat diesen Anforderungen zu genügen.

Der Kriterienkatalog des Bundesverfassungsgerichts

Ob es zulässig ist, eine Partei in einer öffentlich-rechtlichen Vorwahlsendung nicht zu berücksichtigen, hängt daher entscheidend von ihrer Bedeutung zum Zeitpunkt der Berichterstattung ab. In seiner grundlegenden Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht eine Reihe von Kriterien herausgearbeitet, die kumulativ heranzuziehen sind, um das Gewicht einer politischen Partei zu bemessen. Namentlich werden dort die vorhergehenden Wahlergebnisse einer Partei, die Zeitdauer ihres Bestehens, ihre Kontinuität, ihre Mitgliederzahl, der Umfang und Ausbau ihres Organisationsnetzes, ihre Vertretung in Landesparlamenten und Bundestag und ihre Beteiligung an Regierungen in Bund oder Ländern aufgezählt. Ausdrücklich dürfen Rundfunkanstalten die vorhergehenden Wahlergebnisse nicht isoliert heranziehen, um einer Verstetigung früherer Wahlergebnisse und der damit einhergehenden Bevorzugung von Regierungsparteien entgegenzuwirken (vgl. BVerfGE 14, 121 [137]). Erst später fügte das Bundesverfassungsgericht diesem Kriterienkatalog andeutungsweise auch die Berücksichtigung von Umfrageergebnissen hinzu (vgl. BVerfG, NJW 2002, 2939 [2939 f.]).

Die Priorisierung von Umfrageergebnissen in der aktuellen Rechtsprechung

Die beiden jüngsten verwaltungsgerichtlichen Verfahren stellen diesen umfassenden und kumulativ anzuwendenden Kriterienkatalog des Bundesverfassungsgerichts jedoch in Frage. Während das VG Köln unter summarischer Würdigung aller aufgestellter Kriterien die Nichtberücksichtigung der neugegründeten Partei BSW in der „Wahlarena zur Europawahl 2024“ des WDR mit dem Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien noch für vereinbar gehalten hatte (vgl. VG Köln Beschl. v. 29.5.2024 – 6 L 928/24, BeckRS 2024, 11779 Rn. 17 ff.), verpflichtet das OVG NRW in zweiter Instanz den WDR zur Einladung des Spitzenkandidaten des BSW, da die Bedeutung einer (neugegründeten) Partei primär am Kriterium der Erfolgsaussichten bei den bevorstehenden Wahlen zu messen sei. Dass die Partei (gleichwohl) im Hinblick auf ihre Mitgliederzahl, ihre Vertretung im Parlament und ihre Beteiligung an der Regierung in Bund oder Ländern hinter den übrigen Parteien zurückstehe, sei in diesem Fall angesichts der Besonderheiten einer jungen Parteigründung nicht ausschlaggebend (vgl. OVG NRW Beschl. v. 5.6.2024 – 13 B 494/24, BeckRS 2024, 13455 Rn. 17 ff.). Dass das OVG NRW darüber hinaus das redaktionelle Konzept des Senders, wonach die „Wahlarena“ eine rein rückwärtsgewandte Diskussion über die vergangene Wahlperiode werden sollte, kurz vor der Wahl für wenig plausibel hielt, ist hier nur als weiterer Aspekt zu erwähnen, der zu diesem Ergebnis führte (vgl. OVG NRW Beschl. v. 5.6.2024 – 13 B 494/24, BeckRS 2024, 13455 Rn. 12 f.).

Trotz divergentem Tenor äußern sich kurz darauf das VG Potsdam (1. Instanz) und das OVG Berlin-Brandenburg (2. Instanz) hinsichtlich der Berücksichtigung der FDP in der Sendung „Ihre Wahl: Der Kandidatencheck“ des RBB zur Landtagswahl in Brandenburg ähnlich. Im Einklang mit dem von der Anstalt eingereichten Sendekonzept sei es demnach ausreichend, auf die Vertretung im aktuellen brandenburgischen Landtag sowie auf die durch Umfrageergebnisse ermittelten Erfolgsaussichten bei der Wahl abzustellen (vgl. VG Potsdam Beschl. v. 4.9.2024 – 11 L 733/24, BeckRS 2024, 22795, Rn. 23 ff.; OVG Berlin-Brandenburg Beschl. v. 13.9.2024 – 3 S 103/24, BeckRS 2024, 23971 Rn. 10). Insbesondere könne – so das VG Potsdam – die bundespolitische Bedeutung einer Partei nicht dazu führen, dass sie bei der Vorwahlberichterstattung im Vergleich zu anderen Parteien, die im konkreten Bundesland eine größere Bedeutung hätten, überrepräsentiert werde (VG Potsdam Beschl. v. 4.9.2024 – 11 L 733/24, BeckRS 2024, 22795, Rn. 25). Das OVG Berlin Brandenburg geht noch weiter, indem es sich nicht lediglich gegen die bundespolitische Bedeutung als Kriterium ausspricht, sondern alle weiteren Gesichtspunkte insgesamt für nicht gewichtig und aussagekräftig genug hält, um die herangezogenen Kriterien in Frage zu stellen (OVG Berlin-Brandenburg Beschl. v. 13.9.2024 – 3 S 103/24, BeckRS 2024, 23971 Rn. 9).

Vorwahlberichterstattung als self-fulfilling prophecy?

Während es vertretbar erscheint, Umfrageergebnisse für die Bewertung einer neugegründeten Partei gegenüber anderen Kriterien zu priorisieren (so im Ergebnis auch Hobusch), kann dies bei einer etablierten Partei nicht überzeugen. Zwar stellt es auch ein Novum in der Rechtsprechung dar, dieses Kriterium bei neugegründeten Parteien zu priorisieren (anders noch BVerfGE 48, 271 [278]). Andere Kriterien erweisen sich diesbezüglich jedoch als weniger tauglich. Die Priorisierung führt ferner tendenziell eher zu einer Erweiterung des politischen Tableaus einer Vorwahlsendung, als dass sie restriktiv wirkt. Demnach bestehen hier keine Bedenken hinsichtlich des Vielfaltsicherungsauftrages der Anstalten.

Bei etablierten Parteien besteht jedoch einerseits aufgrund der Existenz weiterer relevanter Kriterien kein Bedarf, allein auf Wahl- und Umfrageergebnisse zu blicken. Andererseits räumen alle vier Gerichte selbst in ihren Entscheidungen die Volatilität sowie die mangelnde Verfestigung und Kontinuität von Umfrageergebnissen ein.1) Trotz dieser Merkmale sind Umfragen zwar durchaus in der Lage, den Wahlausgang mit relativer Treffsicherheit zu prognostizieren (so jüngst in Thüringen und Sachsen). Das Beispiel Brandenburg zeigt aktuell jedoch: Sie müssen es nicht. Der Wahlsieger, die SPD, wurde hier vor Ausstrahlung des „Kandidatenchecks“ 5% schlechter eingeschätzt. Statt der am Ausstrahlungstag, dem 17.09.2024, noch prognostizierten 25% erreichte sie fünf Tage später bei der Wahl selbst 30,9%. Anfang August lag sie den meisten Umfragen zufolge noch bei rund 20%. Werden jedoch nur die Parteien zu einer Diskussionssendung vor der Wahl eingeladen, die in den Umfragen weit vorne liegen, und denjenigen das Podium genommen, die sich in einem „Umfragetief“ befinden, drohen die Umfrageergebnisse in ihrer Tendenz zu einer „self-fulfilling prophecy“ zu erstarken (zur „Macht der Sonntagsfrage“ vgl. auch Krause/Gahn).

Auch werden diese Umfrageergebnisse, die sich in der Regel auf eine spezifische Wahlentscheidung beziehen, dem föderalen und damit vielschichtigen Wahlsystem in Deutschland nicht gerecht. Zwar ist die Wahlentscheidung selbst lediglich ausschlaggebend für die Zusammensetzung eines bestimmten Parlaments. Es wäre jedoch naiv zu glauben, dass die Wahlentscheidung der Bürgerinnen und Bürger lediglich von der Performance einer Partei auf der zu wählenden Ebene beeinflusst wird. Vielmehr ist es wissenschaftlicher Erkenntnisstand, dass insbesondere Landtagswahlen häufig von der Bundespolitik beeinflusst werden.2) Die konkreten Umfrageergebnisse spiegeln die bundespolitische Bedeutung einer Partei auf Landesebene jedoch nur mittelbar wider. Die Regierungsbeteiligung einer Partei auf Bundesebene sollte daher auch bei der Konzeption der Vorwahlberichterstattung zu einer Landtagswahl nicht unberücksichtigt bleiben.

Auch das Gebot der Vielfaltsicherung fordert bei der Bedeutungszumessung einer Partei in der Vorwahlberichterstattung die Berücksichtigung möglichst vieler Kriterien. Denn auch wenn die Funktionsfähigkeit eines Parlaments durch eine zu hohe Anzahl an in ihm vertretenen Parteien gefährdet werden kann und daher verfassungsrechtlich zulässige Sicherungsmechanismen wie Sperrklauseln im Wahlrecht verankert wurden, besteht keine Notwendigkeit, aufgrund dieser Erwägung auch den vorgelagerten öffentlichen Meinungsbildungsprozess einzuschränken. Vielmehr wird die Wahl ihrem Charakter als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes und der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinem Auftrag als Vielfaltsicherer nur dann gerecht, wenn von dem Grundsatz formaler Chancengleichheit nur in eng umgrenzten Rahmen abgewichen wird (vgl. BVerfGE 14, 121 [136]). Unter kumulativer Heranziehung mehrerer Kriterien werden die Sender zwar mit Hinblick auf die aktuell recht weitläufige Parteienlandschaft (im Ergebnis) wohl eine Vielzahl von Parteien in ihrer Vorwahlberichterstattung zu berücksichtigen haben. Das ist anspruchsvoll und (zeit-)aufwendig, jedoch kein Fehler des rechtlichen Bewertungskataloges. Es ist vielmehr Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, durch innovative Sendekonzepte diesem aktuellen Trend in seiner Vorwahlberichterstattung gerecht zu werden.

References

References
1 So eindeutig VG Köln Beschl. v. 29.5.2024 – 6 L 928/24, BeckRS 2024, 11779 Rn. 16; ähnlich, wenn auch in der rechtlichen Bedeutung relativierend OVG NRW Beschl. v. 5.6.2024 – 13 B 494/24, BeckRS 2024, 13455 Rn. 18; VG Potsdam Beschl. v. 4.9.2024 – 11 L 733/24, BeckRS 2024, 22795, Rn. 24; OVG Berlin-Brandenburg Beschl. v. 13.9.2024 – 3 S 103/24, BeckRS 2024, 23971 Rn. 11.
2 Vgl. Burkhart, Parteipolitikverflechtung: Der Einfluss der Bundespolitik auf Landtagswahlentscheidungen von 1976 bis 2002, MPIfG Discussion Paper, No. 04/1, Max Planck Institute for the Study of Societies, Cologne 2004, S. 25 f., abrufbar unter https://www.econstor.eu/bitstream/10419/19903/1/dp04-1.pdf (zuletzt abgerufen am 9.10.2024).