Vertretene Organe
Unklarheiten der geplanten Resilienzregelungen für das Bundesverfassungsgericht
Der Deutsche Bundestag hat kürzlich erstmals konkrete Gesetzesentwürfe zur Absicherung des Bundesverfassungsgerichts beraten. Nachdem das Plenum Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes (BT-Drs. 20/12977) sowie des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BT-Drs. 20/12978) diskutiert hat, ist nun der Rechtsausschuss damit befasst. Ein Blick auf die geplanten Regelungen lässt jedoch Unklarheiten hinsichtlich der Zuständigkeitsverteilung im Rahmen des vorgesehenen Ersatzwahlmechanismus erkennen, die dringend behoben werden sollten.
Änderungen des Grundgesetzes verbleiben unbestimmt
Grundsätzlich soll es auch in Zukunft bei der paritätischen Zuständigkeitsverteilung von Bundestag und Bundesrat bei der Richterwahl bleiben (vgl. Artikel 93 Abs. 2 Satz 2 des Entwurfs). Durch eine, wie es der Entwurf nennt, Öffnungsklausel soll aber im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt werden können, „dass das Wahlrecht vom anderen Wahlorgan ausgeübt werden kann, wenn innerhalb einer zu bestimmenden Frist nach dem Ende der Amtszeit oder dem vorzeitigen Ausscheiden eines Richters eine Wahl seines Nachfolgers nicht zustande kommt“ (BT-Drs. 20/12977, Seite 3). Was ist damit genau gemeint?
Betrachtet man den Wortlaut dieser Norm, lässt er zunächst die Auslegung zu, dass das Wahlrecht nunmehr dem anderen Wahlorgan als eigene Zuständigkeit zukommt, es von diesem also im eigenen Namen ausgeübt werden kann. Bei einem solchen Verständnis wäre der zu schaffende Ersatzwahlmechanismus also im Kern eine Zuständigkeitsregelung, die zu einer Verschiebung oder Erweiterung der Zuständigkeit von einem Wahlorgan auch auf das andere führt. Die Vorschrift lässt sich aber auch dahingehend verstehen, dass das Wahlrecht zwar durch das andere Wahlorgan ausgeübt wird, es jedoch kompetenziell beim ursprünglich zuständigen Wahlorgan verbleibt. Es käme dann also zu einer Ausübung des Wahlrechts des einen Wahlorgans durch ein anderes Wahlorgan. Bei einer Blockade des Bundestags wählte dann also der Bundesrat im Namen des Bundestags einen Kandidaten zum Richter am Bundesverfassungsgericht. Im Ergebnis käme es also zu einer Art Vertretung des einen Wahlorgans durch das andere, ohne dass die aus der Hälftigkeitsvorgabe des Art. 93 Abs. 2 Satz 2 des Entwurfs folgende Zuständigkeit für den konkreten Wahlvorgang dadurch berührt würde.
In der Entwurfsbegründung sucht man vergebens nach eindeutigen Hinweisen, wie genau der Ersatzwahlmechanismus ausgestaltet werden soll. So heißt es hierzu (BT-Drs. 20/12977, Seite 7 f.):
„Sie [die Öffnungsklausel] erlaubt es dem einfachen Gesetzgeber, eine Ausnahme vom grundgesetzlich vorgegebenen Grundsatz hälftiger Wahl vorzusehen: Die Nachbesetzung einer vakant gewordenen Richterstelle obliegt nach der Hälftigkeitsvorgabe dem Wahlorgan, das das ausscheidende Mitglied gewählt hatte. Für den Fall, dass in diesem Organ keine Zweidrittelmehrheit zustande kommt, soll mit der Ersatzwahl im anderen Wahlorgan eine Möglichkeit eröffnet werden, solche Blockaden zu lösen und die vakante Richterstelle in angemessener Zeit nachzubesetzen, ohne das bewährte Zweidrittelquorum aufgeben zu müssen“
Diese Begründung deutet darauf hin, dass die beabsichtigte Regelung so zu verstehen sein könnte, dass das Wahlrecht dem anderen Organ nunmehr als eigene Zuständigkeit zufällt. Denn es stellte keine „Ausnahme vom Grundsatz hälftiger Wahl“ dar, wenn die Ersatzwahl im Bundesrat für den Bundestag getroffen, diesem also rechtlich zugerechnet würde. Die Ersatzwahl durch den Bundesrat bliebe dann nämlich eine Wahl des Bundestags und es käme gerade nicht zu einer „Ausnahme vom Grundsatz hälftiger Wahl“. Weiter heißt es, dass im Falle der Blockademöglichkeit mit der Ersatzwahl „im anderen Wahlorgan“ die Möglichkeit geschaffen werden soll, „solche Blockaden zu lösen“ und die vakante Stelle „nachzubesetzen“. Auch diese Formulierung, die dem anderen Wahlorgan aktive Handlungsoptionen zuschreibt, deutet auf eine eigene Zuständigkeit des anderen Wahlorgans hin: Es ist nunmehr an der Reihe, das Wahlrecht in eigener Verantwortlichkeit auszuüben. Gleichwohl bleibt wegen der insoweit nicht eindeutigen Formulierung der Entwurfsbegründung auch die Interpretation möglich, dass nicht die Zuständigkeit für die Wahl wechselt, sondern lediglich die Wahl von einem Ersatzwahlorgan für das ursprünglich zuständige Wahlorgan und in dessen Namen vorgenommen werden kann.
Der Entwurf der grundgesetzlichen Regelung verbleibt in diesem Punkt also unbestimmt.
Änderungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
Eindeutiger ist demgegenüber die vorgeschlagene Regelung im Bundesverfassungsgerichtsgesetz gefasst. Demnach soll in § 7a BVerfGG folgender Absatz 5 eingefügt werden, um die durch die Grundgesetzänderung zu schaffende Öffnungsklausel zu nutzen:
„Hat das zuständige Wahlorgan innerhalb von drei Monaten, nachdem ihm das Bundesverfassungsgericht einen Wahlvorschlag gemacht hat, keinen Nachfolger gewählt, kann sein Wahlrecht auch vom anderen Wahlorgan ausgeübt werden. Ein so gewählter Richter gilt als vom ursprünglich zuständigen Wahlorgan gewählt.“
Satz 1 dieser Vorschrift entspricht der bereits betrachteten Regelung in Art. 93 Abs. 2 Satz 2 des Entwurfs für die Grundgesetzänderung. Auch dort ist vorgesehen, dass das andere Wahlorgan nunmehr ein Wahlrecht ausüben darf, wenn das eigentlich zuständige Wahlorgan blockiert ist. Das einfache Recht geht aber über die vorgeschlagene Regelung im Grundgesetz hinaus und präzisiert das Regelungskonstrukt, wenn in Satz 2 ausgeführt wird, dass ein so gewählter Richter „als vom ursprünglich zuständigen Wahlorgan gewählt“ gilt. Wie diese Vorschrift zu verstehen sein könnte, ergibt sich aus der Entwurfsbegründung. Dort heißt es (BT-Drs. 20/12978, Seite 7):
„Danach trifft das Ersatzwahlorgan im Blockadefall keine Wahl in eigener Zuständigkeit, sondern es tritt an die Stelle des regulär zuständigen Wahlorgans und handelt für dieses.“
Der Regelungsentwurf für das Bundesverfassungsgerichtsgesetz sieht demnach keine Zuständigkeitserweiterung vor, sondern regelt explizit eine Vertretung des ursprünglich zuständigen Wahlorgans durch das andere Wahlorgan. Danach könnte also etwa der Bundesrat einen Richter am Bundesverfassungsgericht im Namen des blockierten Deutschen Bundestags wählen (und umgekehrt, was aber deutlich unrealistischer ist).
Ob eine solche Vertretung verfassungsrechtlich überhaupt zulässig ist, ist eine näher zu prüfende Frage. Klar dürfte aber bereits bei der hier leistbaren vorläufigen Betrachtung sein, dass es dazu einer ausdrücklichen und eindeutigen Regelung im Grundgesetz bedürfte. Der Bundestag trifft seine Beschlüsse ebenso selbst (Art. 42 Abs. 2 GG) wie der Bundesrat (Art. 52 Abs. 3 GG). Das Grundgesetz kennt bislang keine Ausübung des Beschlussrechts des Bundestags durch ein anderes Verfassungsorgan. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz kann als einfaches Bundesgesetz aber nicht die Beschlusskompetenz des Bundestags auf den Bundesrat übertragen. Dies muss im Grundgesetz selbst geregelt werden.
Ob die in Art. 93 Abs. 2 Satz 3 GG vorgesehenen Öffnungsklausel dazu ausreicht, erscheint mit Blick auf die dargelegten Bestimmtheitsmängel zweifelhaft. Es spricht Vieles dafür, dass das Grundgesetz selbst – und nicht das Bundesverfassungsgerichtsgesetz – die Klarstellung treffen muss, dass eine Vertretung des ursprünglich zuständigen Wahlorgans durch das andere Wahlorgan möglich sein soll. Zwar ließe sich die im Entwurf für das Grundgesetz vorgeschlagene Regelung auch in ihrer derzeitigen Fassung bereits in diese Richtung verstehen. Aufgrund der hohen rechtlichen und politischen Relevanz der Resilienzoffensive sollte das Grundgesetz jedoch möglichst eindeutig formuliert werden. So wird auch das Risiko ausgeschaltet, dass die Ausübung des Wahlrechts eines Organs durch ein anderes Verfassungsorgan letztlich nicht von einer grundgesetzlichen Ermächtigung gedeckt wäre – was letztlich die Verfassungswidrigkeit jedes derart ausgeführten Wahlaktes zur Folge hätte.
Inkonsistenzen im Hinblick auf das Bundesverfassungsgerichtsgesetz
Im Gegensatz zum Wortlaut des § 7a Abs. 5 des Entwurfs ist dessen Begründung allerdings weniger konsistent. Wie soeben dargestellt, geht die vorgeschlagene Regelung davon aus, dass das Wahlrecht beim Bundestag verbleibt, wenn dieser blockiert ist, und lediglich vom Bundesrat ausgeübt wird (Vertretungsregelung). In der Entwurfsbegründung heißt es dann aber (BT-Drs. 20/12978, Seite 7):
„Kommt innerhalb dieser Frist im zunächst zuständigen Wahlorgan eine Wahl nicht zustande, kann das Wahlrecht auch vom anderen Wahlorgan ausgeübt werden. Die Formulierung ‚auch‘ bringt zum Ausdruck, dass eine zusätzliche Zuständigkeit des anderen Wahlorgans geschaffen werden soll; mit Fristablauf sind also beide Wahlorgane gleichermaßen zur Wahl berechtigt.“
Das widerspricht aber der bereits oben zitierten Erwägung im darauffolgenden Absatz der Entwurfsbegründung:
„Satz 2 des neuen Absatzes 5 stellt klar, dass ein vom Ersatzwahlorgan gewählter Richter als vom ursprünglich zuständigen Wahlorgan gewählt gilt. Danach trifft das Ersatzwahlorgan im Blockadefall keine Wahl in eigener Zuständigkeit, sondern es tritt an die Stelle des regulär zuständigen Wahlorgans und handelt für dieses.“
Die Entwurfsbegründung geht hier also davon aus, dass die Wahl durch das Ersatzwahlorgan nicht in eigener Zuständigkeit dieses Organs stattfindet, während ausweislich des zuerst zitierten Absatzes der Entwurfsbegründung eine zusätzliche Zuständigkeit des Ersatzwahlorgans geschaffen werden soll. Diese Erwägungen sind miteinander nicht zu vereinbaren: Entweder der Ersatzwahlmechanismus schafft eine zusätzliche, eigene Zuständigkeit des Ersatzwahlorgans oder es verbleibt bei der alleinigen Zuständigkeit des ursprünglichen Organs und das Ersatzwahlorgan wird lediglich zur Ausübung dieser Zuständigkeit berechtigt. Die Entwurfsbegründung sollte hier Klarheit schaffen.
Auswirkungen des Ersatzwahlmechanismus auf das Vorschlagsrecht
Im Vorfeld des Entwurfs wurde die Befürchtung geäußert, dass ein Durchfallen eines Kandidaten im ersten Wahlorgan (Bundestag) dessen personelle Legitimation beschädigen könnte. Diese Problematik wird durch den nun vorliegenden Gesetzesentwurf nicht gelöst. Das ist auch gar nicht möglich, setzt die Anwendung des Ersatzwahlmechanismus doch zwingend ein vorheriges „Scheitern“ eines Kandidaten voraus. Die Resilienzoffensive kann damit nichts daran ändern, dass bei Bestehen einer Sperrminorität immer Hängepartien um die Besetzung von Richterposten drohen. Insofern wird also auch eine gewisse Resilienz der Kandidatinnen und Kandidaten gefordert sein.
Der geplante Ersatzwahlmechanismus wirft darüber hinaus praktische Fragen auf. Denn legt man die geplante Regelung in § 7a Abs. 5 des Entwurfs für das Bundesverfassungsgerichtsgesetz zugrunde, nach der ein Wahlorgan für das ursprünglich zuständige Verfassungsorgan handelt, könnte es zukünftig zu folgendem Szenario kommen:
Berufen zur Wahl ist der Bundestag. Die Fraktionen einigen sich in bekannter Absprache auf einen Kandidaten. Bei der Wahl kommt es jedoch zu einer Blockade durch eine an diesen Absprachen nicht beteiligte Fraktion mit Sperrminorität, entweder bereits im Richterwahlausschuss oder im Plenum. In diesem Fall führte der vorgesehene Mechanismus nach § 7a Abs. 5 des Entwurfs nach drei Monaten zu einer Ersatzwahl im Bundesrat. Der Entwurf trifft aber keine Regelungen darüber, wie diese Ersatzwahl faktisch ablaufen soll und wen der Bundesrat nunmehr eigentlich wählen kann. Ist der Bundesrat etwa an die Absprache der beteiligten Bundestagsfraktionen gebunden? Oder kann der Bundesrat – wohlgemerkt: im Namen des Bundestags – einen anderen (eigenen) Kandidaten vorschlagen und letztlich wählen, als es die zum Vorschlag berechtigte Fraktion im Bundestag beabsichtigt und mit den anderen Fraktionen abgestimmt hatte? Der Ersatzwahlmechanismus eröffnet hier die Möglichkeit, dass es im Vertretungsorgan zu einer anderen Wahlentscheidung kommen könnte, als im weiterhin rechtlich zuständigen Organ ursprünglich interfraktionell abgesprochen.
Politisch beabsichtigt dürfte dies nicht sein, weil in beiden Organen letztlich dieselben politischen Akteure (Parteien) zum Zuge kommen. Es ist daher anzunehmen, dass das Vorschlagsrecht faktisch in das Vertretungsorgan „herüber wandert“. Liegt das Vorschlagsrecht im Bundestag also etwa bei der CDU, könnte es auch im Bundesrat bei diesem Vorschlagsrecht bleiben. Rechtlich zwingend ist dies freilich nicht, ebenso wenig, dass die CDU im Bundesrat denselben Kandidaten nochmals vorschlägt, wie bereits im Bundestag.