06 December 2024

Brandes’ Verdacht

Zu den geplanten Verdachtssanktionen gegen Hochschullehrer in Nordrhein-Westfalen

Das nordrhein-westfälische Landeskabinett hat vor Kurzem unter Federführung der zuständigen Ministerin Ina Brandes einen Gesetzentwurf zur Änderung des Hochschulgesetzes vorgelegt, der den schönen Marketingnamen „Hochschulstärkungsgesetz“ trägt. Sollte er Gesetz werden, wird er allerdings zum glatten Gegenteil dessen führen, was sein Name verheißt.

Nachdem man sich durch allerlei Dieses und Jenes an Vorschlägen geblättert, gelesen und gewundert hat, stößt man im hinteren Teil des Entwurfs auf ein Kernstück der Reform, und hier lässt der Name nachgerade zusammenzucken: Ein neues „Hochschulsicherheitsrecht“ soll her, §§ 84, 87 f. HG-E. Und was Ina Brandes da vorgelegt hat, sucht seinesgleichen. Die Ministerin, in deren besondere politische Obhut die Freiheit von Forschung, Lehre und Studium gerade gegeben ist, sie gibt, man muss es mit einer Mischung aus Furcht und Respekt sagen, Vollgas. Leider in die falsche Richtung.

Schon die Prämisse des neuen „Sicherheitsrechts“ macht Staunen: Denn angeblich benötigen die Hochschulen ein besonderes Sanktionsinstrumentarium, um dafür zur sorgen, dass sie sichere Räume für alle ihre Angehörigen werden. Unweigerlich stellt man sich die Frage, was gerade die Hochschulen, die doch eher die progressive Vorhut gesellschaftlicher Emanzipationsprozesse als deren Nachhut sind, zu solch unsicheren Orten macht, dass ausgerechnet ihre Angehörigen, darunter nicht allein, aber vor allem die notorisch verdächtigen Professoren, an die Kandare eines Verdachtsdisziplinarrechts gelegt werden müssen. Der Abteilungsleiter im Ministerium und die Präsidentin des Landgerichts scheinen offenbar nicht so verhaltensauffällig zu werden, dass man sie besonders disziplinieren müsste. Gerne hätte man diese Prämisse seriös erhärtet gesehen.

Doch ist das nur der Anfang. Der größte verfassungsrechtliche Stein des Anstoßes, und davon gibt es im Entwurf gleich mehrere, liegt vor allem darin, dass das Ministerium sich nicht traut, Farbe zu bekennen, was es wirklich will: Es geht um die Etablierung einer Verdachts- und Akkusationskultur an den Hochschulen unter dem trügerischen Label eines „Sicherheitsrechts“ – und damit um die Art von amerikanischen Hochschulverhältnissen, die alles andere sind, nur nicht sicher und sicher nicht der Freiheit von Wissenschaft, Forschung, Lehre und Studium dienlich. Dass es damit schwierig werden könnte, scheint auch in Düsseldorf aufgefallen zu sein. Und so schafft das Ministerium, bewusst oder unbewusst, ein Regelungsmodell, das zur Fraglichkeit der Ausgangsprämisse noch handfeste verfassungsrechtliche Bedenken hinzugesellt. Denn der Entwurf etabliert in § 84 I Nr. 2 eine Pflicht, jede „Beeinträchtigung (des) sozialen Geltungsanspruchs und der Handlungs- und Entschlussfreiheit hinsichtlich (der) persönlichen Lebensgestaltung von Hochschulangehörigen“ zu unterlassen. Da, schon mangels entsprechender rechtlicher Traditionen, kaum deutlich wird, was das heißen soll, fordert der Entwurf die Hochschulen auf, zur Konkretisierung dieser Anforderungen ein „Konzept“ zu erstellen, dessen Näheres dann durch eine Ordnung des Senats ausgestaltet und deren Verletzung dann wiederum scharf sanktioniert werden soll. Das Ministerium gibt also einen vagen Hinweis, was es gerne hätte (dazu sogleich), der in der bislang unbekannt gebliebenen ‚Handlungsform‘ des hochschulischen Konzepts materiell-tatbestandlich konkretisiert werden und dann satzungsrechtlich wehrfähig gemacht werden soll. Man mag das bei flüchtiger Lektüre für eine freundliche Anerkennung hochschulischer Regelungsautonomie halten. Schaut man indes genau hin, handelt es sich um einen manifesten Verstoß gegen den Vorbehalt des Gesetzes, mit dem man im dritten Semester leider durch die Verwaltungsrechtsklausur gefallen wäre. Der Gesetzgeber errichtet ein materiell unterbestimmtes Sanktionsregime, in dessen regulatorischem Zentrum ein ‚Konzept‘ als rechtlicher ‚Nicht-Akt‘ steht, für dessen verwaltungsgerichtliche Überprüfung man Mühe haben wird, einen passenden Rechtsbehelf zu finden. Der Leser lacht, er staunt und fasst es nicht! Ist das niemandem aufgefallen oder ist es gewollt?

Letzteres drängt sich als Vermutung auf, wenn man noch einmal den vagen Tatbestand des § 84 I Nr. 2 des Entwurfs in den Blick nimmt, der – wie gesagt – Beeinträchtigungen (des) sozialen Geltungsanspruchs und der Handlungs- und Entschlussfreiheit hinsichtlich (der) persönlichen Lebensgestaltung von Hochschulangehörigen verhindern will. Wer wollte dagegen etwas haben, könnte man einwenden. Und  auf den ersten Blick meint das juristische Auge, hier bloß einen weiteren unbestimmten Rechtsbegriff zu sehen, der mit den üblichen Mitteln und im Laufe der Zeit schon kleingearbeitet werden wird. Auf den zweiten Blick zeigt sich allerdings, dass damit eine starke Subjektivierung des Eingriffstatbestands beabsichtigt ist. Der Passus gießt einen zentralen Ansatz des Antidiskriminierungsdiskurses in geltendes Recht, nämlich die strukturelle Blindheit sozialer Systeme gegenüber Diskriminierung von Personen und Gruppen durch eine Art ‚disruptive Subjektivität‘ zu irritieren. Sehr verkürzt: Diskriminiert ist, wer sich diskriminiert fühlt. Während das als diskursstrategisches und gesellschaftspolitisches Mittel legitim und immer wieder auch notwendig ist, um auf strukturelle Diskriminierungen hinzuweisen, verfängt es als Regulierungsansatz staatlichen Rechts nicht. Dies ist auf ein Mindestmaß an Objektivierung angewiesen, um seinen Anspruch, widerstreitende Interessen in einen angemessenen Ausgleich zu bringen, einlösen zu können. Das ist hier aber nicht der Fall. Die Öffnung des Sanktionstatbestands für eine starke Subjektivierung ist geeignet, den wissenschaftlichen Diskurs in Forschung und Lehre erheblich zu beschneiden und in Gestalt sogenannter „chilling effects“ schon im Vorfeld zu beschränken. Und man muss vermuten, dass genau das von der Ministerin gewollt ist. Was das bedeutet, zeigt ein reales Beispiel aus meiner Fakultät: In einer Lehrveranstaltung zum Antidiskriminierungsrecht wurde die Frage aufgeworfen, ob Adipositas als Behinderung im Sinne des AGG beziehungsweise der korrespondierenden EU-Richtlinie zu verstehen sei – eine sogar vom EuGH behandelte Frage. Schon deren bloße Thematisierung hat, ungeachtet ihrer Beantwortung, zu einer Beschwerde geführt, die darin eine Diskriminierung („fat shaming“) sah. Soll das künftig ernstlich sanktioniert werden? Das Gesetz lässt es als Möglichkeit jedenfalls zu und wird, das ist zu befürchten, in der ein oder anderen ambitionierten Hochschulverwaltung vielleicht auch genau so verstanden. Ob die Ministerin das will oder nicht, ist nicht zu sagen. Verantwortlich für eine Entwicklung in diese Richtung wäre sie aber.

Und leider kommt es noch schlimmer: Denn die erheblichen Sanktionen, die der Entwurf vorsieht (zum Beispiel: Campusverbote, Kontaktverbote, Besoldungskürzungen, Laufbahnrückstufungen, Entzug der Lehr- und Prüfungsbefugnis, keine Mitwirkung in der Selbstverwaltung) sollen bereits dann verhängt werden können, wenn in der beschuldigten Person, die andernorts im Entwurf gleich schon in strafrechtlicher Weise als Täter bezeichnet wird, „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ vorliegen, dass sie einen solchen „Sicherheitsverstoß“ begangen hat. Man wäre froh, wenn der Entwurf wenigstens die Logik von Gefahrenverdacht und Gefahrerforschungseingriff realisieren würde, wenn das Hochschulrecht nun schon als „Sicherheitsrecht“ neu erfunden werden soll. Stattdessen wird auf Verdachtsebene gleich richtig zugelangt. Welche massiven persönlichen, beruflichen und ökonomischen Schäden es zur Folge hat, wenn solche Maßnahmen zu Unrecht verhängt werden, scheint das Ministerium kaum zu interessieren. Und welchen Ersatzforderungen sich die Hochschulen ausgesetzt sehen, wenn sie zu Unrecht gegen einen Angehörigen vorgegangen sind, scheint auch wenig Aufmerksamkeit bekommen zu haben. Von der Frage etwaiger Klagen sich betroffen fühlender Hochschulangehöriger gar nicht erst zu reden.

Das führt zu einem weiteren Problem: In seiner Rechtsprechung zum Hochschulorganisationsrecht hat das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass auch eine an sich verfassungsgemäße Norm verfassungswidrige Zustände im Vollzug produzieren kann  (z.B. hier, Rn. 92, 101). Und da sind die Fallstricke, die die Ministerin auslegt, beinahe unübersehbar. Zunächst produziert das Gesetz einen monströsen administrativen Aufwand, dessen allein verfahrensrechtliche Bewältigung die Hochschulen überfordern wird. Materiell sind es dann die feinsinnigen Abwägungen zwischen Wissenschafts- und Lehrfreiheit auf der einen Seite und der durch den Entwurf geschaffenen Rechte andererseits, die die Verwaltungen und Justitiariate sehr beschäftigen werden. Die Vorstellung, die nordrhein-westfälischen Hochschulen seien personell so gut aufgestellt, dass sie eine Hochschulpolizei aufstellen könnten, um die befürchteten „Sicherheitsverstöße“ zu ermitteln und zu ahnden, ist völlig lebensfremd. Insofern ist das geplante Verdachtsregime nur konsequent: Wir wissen zwar nicht, was wir tun, aber das tun wir entschieden.

Und schließlich: Schon jetzt sind die Hochschulen Räume, in denen sich intensiv um die Bekämpfung von Diskriminierungen und Ungleichbehandlungen gekümmert wird. Gleichstellungs- und Diversitätsbeauftragte sind tätig, Ombuds- und Beschwerdestellen, Beratungsangebote und Coachings werden von allen Hochschulen vorgehalten. Arbeits- und Beamtenrecht stellen Sanktionsinstrumente bereit, um übergriffiges Verhalten zu ahnden, das es auch an Hochschulen gibt, wie überall in der Gesellschaft. All dies übergeht der vorliegende Entwurf. Er ruft in Prämisse, Sprache und Inhalt Assoziationen an eine staatlich durchregulierte Zwangsinstitution wach, die mit dem Ideal freier Wissenschaft und Forschung, freier Lehre und freiem Studium nichts mehr zu tun hat: ein Ideal akademischer Freiheit mit all den damit verbundenen Zumutungen, die auch in der Konfrontation mit anderen und im Einzelfall nur schwer zu ertragenden Auffassungen liegen können.

Eine Entwicklung der Hochschule von einem Raum riskanter Freiheit hin zu einer durch Misstrauen, Verdächtigung und Verfolgung geprägten Sphäre gegenseitiger Überwachung der Grundrechtsträger greift tief in die akademischen Strukturen ein und wird das Gesicht der nordrhein-westfälischen Hochschulen massiv zu ihrem Nachteil verändern. Die Ministerin muss eine Vollbremsung machen. Sofort.


SUGGESTED CITATION  Krüper, Julian: Brandes’ Verdacht: Zu den geplanten Verdachtssanktionen gegen Hochschullehrer in Nordrhein-Westfalen, VerfBlog, 2024/12/06, https://verfassungsblog.de/brandes-verdacht/, DOI: 10.59704/d6c7d69fc811d060.

8 Comments

  1. Erfolgswertgleichheit Fri 6 Dec 2024 at 11:21 - Reply

    Wichtiger Artikel. Es ist ungut, wie die ‘safe spaces’ für freie Rede und kritischen Diskurs unter Druck geraten und Toleranz für und Freude an Perspektivenpluralismus abnimmt. Mit diesem Gesetz würde unter dem Deckmantel der “Antidiskriminierung” eine linke Diskurshegemonie nun nicht mehr nur durch soziale Kosten, sondern rechtlich durchgesetzt werden. Das gleiche sieht man aber bspw. in der Nahostdebatte, wo ebenfalls staatlich sanktioniert eine bestimmtes Narrativ durchgesetzt werden soll, hier (eher) von liberaler und konservativer Seite. Beides ist einem liberalen Verfassungsstaat nicht angemessen. Hier gäbe es doch eigentlich einen Ansatzpunkt für eine lagerübergreifende Allianz für freie Rede, Wissenschaftsfreiheit, Freude an Auseinandersetzung und diskursive Toleranz?

  2. Erfolgswertgleichheit Fri 6 Dec 2024 at 11:32 - Reply

    Und: ich will nicht überdramatisieren, aber schon die Terminologie (“Hochschulstärkungsgesetz”, obwohl das Gesetz freien Diskurs einschränkt bzw. das ermöglicht, “Redlichkeitsverstoß”, “Sicherheitsverstoß”) erinnert irgendwie an den Neusprech, den man aus Orwells “1984” kennt.

    • Julian Krüper Fri 6 Dec 2024 at 19:08 - Reply

      Ich gebe Ihnen recht. Schon die Terminologie ist ausgesprochen ungemütlich und irreführend. Und wenn man noch tiefer in die (leider nicht paginierte) Begründung schaut, dann sind die “chilling effects” nicht nur in Kauf genommen, sondern gewollt. Die ganze Logik der Gefahrenabwehr zielt darauf ab, das Diskursgeschehen vorbeugend zu regulieren. Dass es dabei, wie die Begründung behauptet, um den Schutz konkreter Rechtsgüter geht (vor allem von Studenten, die hier rundheraus als “vulnerable Gruppe” gesehen werden), lässt sich jedenfalls für § 84 I Nr. 2 des Entwurfs kaum ernsthaft behaupten. Zu sehen ist auch, dass die vorgesehenen Regelungen keineswegs nur die Professoren, sondern gerade auch die Studenten untereinander diskursiv beeinflussen, denn alle Angehörigen der Hochschulen (egal welcher politischen Auffassung) werden hier erfasst. Leider scheint die Ministerin nicht zu verstehen, dass die Verlagerung von Meinungsstreitigkeiten in eine Folterkammer disziplinarähnlicher Sanktionsinstrumente nicht zu einer Befriedung, sondern zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen führen wird.

  3. Pyrrhon von Elis Sat 7 Dec 2024 at 15:32 - Reply

    Die deutsche Rechtswissenschaft und die deutsche Wissenschaftslandschaft im Großen hat dieses Prokrustesbett selbst geschaffen, indem irgendwann die Wertfreiheit der Wissenschaft als Problem gesehen worden ist. Eigentlich ein undenkbarer Vorgang, würde man aus der Geschichte Schlüsse ziehen.

  4. Kai Ambos Sat 7 Dec 2024 at 17:43 - Reply

    Ganz wichtiger Artikel, Hochschulen sind Kernbereiche unserer freiheitlichen Ordnung und müssen es bleiben! Vielen Dank Herr Krüper

    • Julian Krüper Mon 9 Dec 2024 at 13:58 - Reply

      Das Gespür dafür, dass der Raum Hochschule durch ein sorgsam austariertes und fragiles Geflecht wechselseitiger Grundrechtspositionen ausgestaltet ist, haben Ministerin Brandes und/oder die zuständigen Fachabteilungen offenbar nicht. Wenn man bedenkt, dass das Ministerium so etwas wie der exekutive “Wing Man” der Freitheit von Forschung, Lehre und Studium sein soll….

  5. Hochschuljurist Mon 9 Dec 2024 at 11:05 - Reply

    Ich bin heilfroh, hier eine angemessene Auseinandersetzung mit diesem unsäglichen Entwurf gefunden zu haben, der unsere Hochschulverwaltung und sämtliche Beteiligungsgremien bereits umfangreich beschäftigt hat. Für die externe wie interne Kommunikation zu den zahlreichen Mängeln des Entwurfs werde ich Sie gerne zitieren! Danke für die Deutlichkeit, in der Sie diese völlig systemfremden neuen Instrumente als das benennen, was sie sind!

    • Julian Krüper Mon 9 Dec 2024 at 14:00 - Reply

      Die vorgetragenen Bedenken werden von vielen Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Fächer, (akademischer) Herkünfte und Hochschulformen geteilt, wie ich mittlerweile weiß. Es wäre gut, wenn der Protest, individuell und institutionell, hörbar würde.

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Explore posts related to this:
Antidiskriminierung, Hochschulrecht, Überwachung


Other posts about this region:
Germany