Das AfD-Verbot in der Sackgasse?
Zur Wirkung vorgezogener Neuwahlen auf das im Bundestag beantragte Parteiverbotsverfahren gegen die AfD
Nach vielen Monaten der öffentlichen Diskussion um die Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens gegen die AfD liegt dem Bundestag nun eine fraktionsübergreifende Beschlussvorlage zur Abstimmung vor. Diese von insgesamt 113 Abgeordneten eingebrachte Beschlussvorlage zielt darauf ab, dass der Bundestag beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der AfD beantragen soll. Doch von der Einbringung der Beschlussvorlage in den Bundestag bis zur Einreichung einer entsprechenden Antragsschrift in Karlsruhe ist es noch ein weiter Weg, der infolge vorgezogener Neuwahlen und der damit einhergehenden Diskontinuität des Bundestages vorerst in eine Sackgasse führen dürfte.
Dem Verbotsverfahren läuft die Zeit davon
Aber der Reihe nach: Grundsätzlich wird eine Beschlussvorlage nach ihrer Einbringung an die Mitglieder des Bundestages, des Bundesrates und an die Bundesministerien verteilt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 GOBT). Drei Wochen nach ihrer Verteilung haben die Einbringenden dann das Recht, die Beschlussvorlage auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung des Bundestages setzen zu lassen (§ 20 Abs. 4 GOBT), soweit dies nicht bereits zuvor geschehen ist. Das Plenum berät in dieser Sitzung über die Beschlussvorlage und stimmt regelmäßig unmittelbar im Anschluss über sie ab (§§ 78 ff. GOBT). Findet die Beschlussvorlage dabei eine einfache Mehrheit, ist sie durch den Bundestag beschlossen (Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG). Durch die zustimmende Mehrheitsentscheidung wird aus der Beschlussvorlage ein Beschluss des Bundestages selbst. Auf diese Unterscheidung zwischen Beschlussvorlage und Beschluss wird es im Folgenden noch ankommen.
Hat der so gefasste Beschluss die Einleitung eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens (wie dem Parteiverbotsverfahren) zum Gegenstand, bestellt der Bundestagspräsident als Vertreter des Bundestages im nächsten Schritt Verfahrensbevollmächtigte (Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG iVm. § 7 GOBT). Erst diese arbeiten nach eingehender Sichtung des Materials eine Antragsschrift aus, reichen diese im Namen des Bundestages beim BVerfG ein und leiten damit das verfassungsgerichtliche (Parteiverbots-)Verfahren förmlich ein.
Bereits unter gewöhnlichen Umständen handelt es sich bei der Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens durch den Bundestag also um einen zeitintensiven Vorgang. Im aktuellen Fall tritt allerdings noch hinzu, dass die Beschlussvorlage (und damit auch ein entsprechender Beschluss) selbst eine besondere Verfahrensweise vorsieht. Um das – auf diesem Blog bereits erörterte – Gebot strikter Staatsfreiheit zu wahren, soll das Parteiverbotsverfahren nämlich nach der Beschlussfassung im Bundestag erst dann weiterbetrieben werden und insbesondere die Bestellung von Verfahrensbevollmächtigten erst dann erfolgen, wenn dem Bundestag von der Bundesregierung und den Landesregierungen der Eintritt strikter Staatsfreiheit versichert wurde bzw. eine Karenzzeit von zwei Monaten abgelaufen ist. So soll verhindert werden, dass eine fortdauernde nachrichtendienstliche Durchsetzung der Führungsebenen der AfD gegebenenfalls ein (unbehebbares) Verfahrenshindernis begründet (siehe BVerfGE 107, 339 zum gescheiterten ersten NPD-Verbotsverfahren).
Selbst für den Fall einer Beschlussfassung in der ersten Sitzungswoche des neuen Jahres hat dieser enorme Zeitaufwand zur Folge, dass in der aktuellen Wahlperiode allenfalls noch mit der Bestellung von Verfahrensbevollmächtigten zu rechnen ist, keinesfalls aber mehr mit der Einreichung der Antragsschrift beim BVerfG. Denn infolge des Scheiterns der Vertrauensfrage in der vergangenen Woche stehen nun – die Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten vorausgesetzt – schon im Februar Neuwahlen und im März die Neukonstituierung des Bundestages an. Für das noch junge Parteiverbotsverfahren ergibt sich hieraus die bereits einleitend angedeutete verfassungsrechtliche Herausforderung: Es könnte mit dem Ende der aktuellen Wahlperiode automatisch enden, sollte der verfassungsrechtliche Grundsatz der Diskontinuität des Bundestages auch einen ihm zugrunde liegenden Beschluss erfassen.
Die Diskontinuität des Bundestages
Der Grundsatz der Diskontinuität besagt, dass mit dem Ende einer Wahlperiode und dem Zusammentreten eines neuen Bundestages (vgl. Art. 39 Abs. 1 Satz 2 GG) eine personelle, institutionelle und sachliche Zäsur eintritt. Er ist Ausdruck des demokratischen Prinzips der „Herrschaft auf Zeit“, demzufolge jeder Bundestag in seiner konkreten Zusammensetzung ein eigenständiger Entscheidungsträger mit zeitlich befristeter Befassungs- und Entscheidungskompetenz sein soll.
Für die hiesige Frage ist dabei die (verfassungsgewohnheitsrechtlich anerkannte) sachliche Dimension der Diskontinuität entscheidend. Sachliche Diskontinuität meint, dass grundsätzlich alle parlamentarischen Vorgänge, die bis zum Ende einer Wahlperiode nicht abschließend behandelt sind, mit dem Zusammentreten eines neuen Bundestages trotzdem als erledigt gelten. Hieraus folgt, dass nicht abschließend behandelte parlamentarische Vorgänge vom neuen Bundestag erneut in Gang gesetzt werden müssen, soweit sie politisch noch gewollt sind.
Diese sachliche Diskontinuität gilt eindeutig für Beschlussvorlagen (§ 125 GOBT), zu denen neben Gesetzesvorlagen (§ 75 Abs. 1 lit. a GOBT) unter anderem auch sogenannte selbständige Anträge (§ 75 Abs. 1 lit. d GOBT) – etwa wie hier auf Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens – zählen. Darüber hinaus gilt die sachliche Diskontinuität – und darauf kommt es hier an – aber auch für bereits gefasste Beschlüsse des Bundestages (etwa über die Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens) – und zwar immer dann, wenn diese noch nicht abschließend behandelt sind.
Im Vergleich zur sachlichen Diskontinuität von Beschlussvorlagen ist die sachliche Diskontinuität von Beschlüssen dabei weniger intuitiv (und wird auch wissenschaftlich kaum behandelt). Denn während Beschlussvorlagen offensichtlich mit ihrer Abstimmung, durch die sie entweder zu Beschlüssen werden oder scheitern, abschließend behandelt sind, liegen die Dinge bei bereits gefassten Beschlüssen weniger eindeutig.
Die abschließende Behandlung von Beschlüssen
Und hier wird es kompliziert: In der gegenwärtigen Diskussion um ein AfD-Verbot scheint die implizite Annahme zu dominieren, dass ein gefasster Beschluss über die Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens in jedem Fall in die nächste Wahlperiode „gerettet” würde. Diese verbreitete Annahme dürfte dabei vor allem auf die Prämisse zurückzuführen sein, dass Gesetzgebungsvorgänge (d.h. Gesetzesvorlagen und Gesetzesbeschlüsse) nach allgemeinem Verständnis bereits mit Beschlussfassung nicht mehr von der sachlichen Diskontinuität erfasst werden sollen. Doch schon diese Prämisse ist weder zwingend noch überzeugend. Denn anstatt zwischen der abschließenden Behandlung von Gesetzesvorlagen und der abschließenden Behandlung von Gesetzesbeschlüssen zu differenzieren, setzt sie beide gleich.
Der eigentliche Grund für die (allgemein anerkannte) Kontinuität von Gesetzgebungsvorgängen ist allerdings folgender: Bei Gesetzgebungsvorgängen liegen der Zeitpunkt, in dem der Beschluss im Bundestag gefasst wird, und der Zeitpunkt, in dem dessen unmittelbare Rechtswirkungen für den Bundestag entfallen, sehr nah beieinander. Denn gefasste Gesetzesbeschlüsse sind unverzüglich dem Bundesrat zuzuleiten (Art. 77 Abs. 1 Satz 2 GG), sodass sie ab diesem Zeitpunkt keine unmittelbaren Rechtswirkungen mehr für den Bundestag erzeugen (Ausnahme: Einspruch oder Anrufung des Vermittlungsausschusses durch den Bundesrat). Gesetzesbeschlüsse des Bundestages entgehen also gerade nicht generell der Diskontinuität, weil sie Beschlüsse sind, sondern erst dann, wenn sie aufgrund ihrer Zuleitung an den Bundesrat keine unmittelbaren Rechtswirkungen mehr für den Bundestag erzeugen. Anders gewendet: Auch Gesetzesbeschlüsse fielen der sachlichen Diskontinuität anheim, sollten sie tatsächlich einmal nicht mehr vor dem Ende der Wahlperiode dem Bundesrat zugeleitet werden.
Diese bei Gesetzesbeschlüssen bestehende zeitliche Nähe von Beschlussfassung und Wegfall unmittelbarer Rechtswirkungen trifft jedoch keineswegs auf alle Beschlüsse des Bundestages zu. Andere Beschlüsse verlangen nämlich nicht selten, dass der Bundestag weitaus umfangreichere (administrative) Vollzugsakte als die unverzügliche Zuleitung an den Bundesrat vornimmt. Sie erzeugen also noch deutlich länger unmittelbare Rechtswirkungen für den Bundestag. Ein pauschales Abstellen auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung hätte zur Folge, dass solche Beschlüsse stets der sachlichen Diskontinuität entgingen. Ein scheidender Bundestag könnte seinen Nachfolger demnach zum (administrativen) Vollzug von Beschlüssen verpflichten, die dieser selbst nicht gefasst hat und derer er sich folglich nur mit einer eigenen Mehrheit wieder entledigen könnte. Mit dem Zweck der sachlichen Diskontinuität, den neuen Bundestag von parlamentarischen Vorbelastungen zu befreien, wäre dies kaum in Einklang zu bringen.
Richtigerweise haben daher sowohl Beschlussvorlagen als auch Beschlüsse erst dann als abschließend behandelt zu gelten, wenn sie gar keine unmittelbaren Rechtswirkungen mehr für den Bundestag erzeugen. Nur dann entgehen sie der sachlichen Diskontinuität. Für Beschlussvorlagen ist dies stets mit der endgültigen Abstimmung im Bundestag der Fall, für Beschlüsse ist hingegen der Gegenstand des konkreten Beschlusses (Gesetz, Antrag auf Einleitung eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens usw.) maßgeblich.
Das Schicksal des Verbotsverfahrens
Vor dem Hintergrund dieses Maßstabs fällt das noch junge Parteiverbotsverfahren jedenfalls dann der sachlichen Diskontinuität anheim, wenn vor Ende der Wahlperiode nicht mehr über die Beschlussvorlage abgestimmt wird. Ähnliches gilt für den Fall, dass die aktuelle Wahlperiode nach der Beschlussfassung, aber noch vor der Bestellung von Verfahrensbevollmächtigten endet. Denn der gefasste Beschluss bedarf noch weiterer wesentlicher (administrativer) Vollzugsakte durch den scheidenden Bundestag, insbesondere der Bestellung von Verfahrensbevollmächtigten durch die (ebenfalls scheidende) Bundestagspräsidentin. Er erzeugt also weiterhin unmittelbare Rechtswirkungen für den Bundestag und ist daher noch nicht abschließend behandelt.
Verfassungsrechtlich virulent ist vor allem der Zeitpunkt, ab dem der Bundestag (nach Beschlussfassung) Verfahrensbevollmächtigte tatsächlich bestellt. Denn dadurch erfährt der Beschluss erstmals eine signifikante Verselbständigung: Die Ausarbeitung der Antragsschrift für das BVerfG als nächster Verfahrensschritt erfolgt gerade nicht mehr durch den Bundestag selbst, sondern durch die Verfahrensbevollmächtigten.
Dennoch überzeugt es im Ergebnis nicht, bereits mit der Bestellung von Verfahrensbevollmächtigten von einer abschließenden Behandlung des Beschlusses auszugehen. Grund hierfür ist, dass die zentrale Rechtswirkung des Beschlusses in der Selbstverpflichtung des Bundestages liegt, einen Verbotsantrag beim BVerfG zu stellen, also tatsächlich eine Antragsschrift einzureichen und das Verfahren damit förmlich einzuleiten. Erst mit diesem Verfahrensschritt wird das verfassungsgerichtliche Parteiverbotsverfahren überhaupt in Gang gesetzt – und der Beschluss damit abschließend behandelt. Würde man auf den Zeitpunkt der Bestellung von Verfahrensbevollmächtigten abstellen, käme es also – wie beim Zeitpunkt der Beschlussfassung selbst – zu einem zweckwidrigen Hinüberwirken des Beschlusses in den neuen Bundestag.
Zu keinem anderen Ergebnis führt der Grundsatz der Organkontinuität, der die sachliche Diskontinuität (gewissermaßen als Pendant) einhegt und demzufolge die institutionelle Identität des Bundestages im Außenverhältnis zu anderen Rechtssubjekten von dem Ende einer Wahlperiode unberührt bleibt. Die Organkontinuität schützt im vorliegenden Fall zwar das Privatrechtsverhältnis zwischen dem Bundestag als Institution und den parlamentsexternen Verfahrensbevollmächtigten (insb. bereits geschlossene Verträge zwischen diesen). Sie immunisiert hingegen nicht den Beschluss als solchen gegen die Wirkungen der sachlichen Diskontinuität. Denn die Organkontinuität greift bei Beschlüssen, die sich (auch) an andere Verfassungsorgane richten, erst ein, sobald diese die Beschlüsse bereits umsetzen oder fortführen (vgl. insb. § 51 Var. 3 und 4 BVerfGG zur Präsidentenanklage). Daraus folgt, dass der neue Bundestag auch nach der Bestellung von Verfahrensbevollmächtigten nicht mehr an den Beschluss seines Vorgängers gebunden ist. Um das parlamentsinterne Verfahren erneut in Gang zu setzen und den Beschluss dann auch abschließend behandeln zu können, müsste der neue Bundestag also erst einen neuen Beschluss fassen.
Auch der Umstand, dass es dem Bundestag möglich sein muss, seine Antragsberechtigung im (verfassungsgerichtlichen) Parteiverbotsverfahren (§ 43 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) effektiv wahrzunehmen, verlangt kein anderes Verständnis sachlicher Diskontinuität. Zwar dürfte ein Parteiverbotsverfahren, das kurz vor Ende einer Wahlperiode allein durch den Bundestag in Vorbereitung gegeben wird, aufgrund seiner langen Vorbereitungszeit durch die sachliche Diskontinuität tatsächlich regelmäßig seine parlamentarische Grundlage verlieren. Dieser für die Praxis durchaus gravierende Umstand entspricht jedoch der Natur eines Parlaments, das in seiner konkreten Zusammensetzung stets nur auf Zeit agieren können soll. Es liegt in der Verantwortung der Abgeordneten, diese demokratische Einschränkung bei der Planung ihrer Vorhaben hinreichend zu berücksichtigen.
Ein Ausweg aus der Sackgasse
Würde ein etwaiger Beschluss des Bundestages über die Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens der sachlichen Diskontinuität entgehen, so liefe das noch junge Parteiverbotsverfahren ungeachtet des Endes der aktuellen Wahlperiode fort. Im neuen Bundestag könnte es dann nur von einer entgegenstehenden einfachen Mehrheit wieder beendet werden. Da es in der aktuellen Wahlperiode jedoch unter keinen Umständen noch zur Einreichung einer Antragsschrift beim BVerfG kommen wird, wird ein etwaiger Beschluss mit dem Ende der Wahlperiode der sachlichen Diskontinuität anheimfallen. Infolgedessen wird auch das Parteiverbotsverfahren vorerst enden. In der neuen Wahlperiode könnte es nur dann wieder begonnen bzw. fortgeführt werden, wenn der neue Bundestag eine entsprechende Beschlussvorlage mit einfacher Mehrheit beschließt.
Im Ergebnis befindet sich die Beschlussvorlage damit gegenwärtig in einer Sackgasse. Doch bedenkt man, dass sich mittlerweile immer mehr Politikerinnen und Politiker, insbesondere von Grünen und SPD, für ein Parteiverbotsverfahren gegen die AfD aussprechen und eine nachrichtendienstliche Hochstufung der AfD (nun auch in Brandenburg) bevorzustehen scheint, so offenbart sich ein Ausweg aus der Sackgasse: Die amtierende Minderheitsregierung oder der Bundesrat könnten sich das Parteiverbotsverfahren (auch gemeinsam) zu eigen machen. Dafür müssten die Bundesregierung oder der Bundesrat als eigenständige Antragsberechtigte im Parteiverbotsverfahren jeweils selbst einen entsprechenden Beschluss fassen und (zügig) Verfahrensbevollmächtigte bestellen. Der Grundsatz der sachlichen Diskontinuität griffe dabei für sie jedenfalls nicht ein. Auf ein durch den Bundesrat als „ewiges“ Organ eingeleitetes Parteiverbotsverfahren hätten die anstehenden Neuwahlen im Bund schon naturgemäß keinen Einfluss. Sollte hingegen die noch amtierende Bundesregierung ein Parteiverbotsverfahren einleiten, läge es an der Nachfolgeregierung, eine verantwortungsvolle Entscheidung über die Fortführung dieses Verfahrens zu treffen. Der Ausgang der anstehenden Bundestagswahl und die damit verbundenen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag dürften in ihrer Relevanz für die anstehende Regierungsbildung und damit auch für die Zukunft des AfD-Verbotsverfahrens daher kaum zu unterschätzen sein.