05 February 2025

Asyl für russische Kriegsdienstverweigerer

Lebensgefährlicher Kriegseinsatz und die erzwungene Beteiligung an Kriegsverbrechen führen zu subsidiärem Schutz

Während die Unionsparteien mit Stimmen von AfD und FDP mutmaßlich rechtswidrige Migrationsanträge im Bundestag verabschieden lassen und die Brandmauer zur extremen Rechten abtragen, wird in Deutschland (vorerst) weiter über Asylanträge entschieden. In zwei bemerkenswerten Urteilen hat das Verwaltungsgericht Berlin festgestellt, dass russischen Kriegsdienstverweigerern aufgrund des drohenden Einsatzes in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg subsidiärer Schutz zustehe. Es wendet sich damit nicht nur gegen die Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), sondern auch gegen das eigene Oberverwaltungsgericht.

Kaum Schutz für russische Asylsuchende

In den knapp drei Jahren seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine erhielten russische Männer im wehrpflichtigen Alter in Deutschland kaum Asyl. Ein formaler Grund dafür ist, dass Russ:innen nicht visumsfrei nach Deutschland einreisen können und auf ihrem Weg deshalb andere EU-Staaten durchqueren müssen, die nach der Dublin-III-Verordnung dann zuständig sind. Über die Hälfte aller Entscheidungen seit dem 24. Februar 2022 entfiel deshalb auf sogenannte „sonstige Erledigungen“. Die um diese Erledigungen bereinigte Schutzquote lag bei 16 Prozent. Auffällig ist allerdings, dass sich die Entscheidungspraxis in der jüngeren Vergangenheit deutlich verschärft hat: Erhielten bis Mitte 2023 noch 37 Prozent der russischen Männer im wehrpflichtigen Alter Schutz in Deutschland, waren es zwischen September 2023 und September 2024 nur noch 11 Prozent. In diesem zweiten Zeitraum wurden außerdem deutlich mehr inhaltliche Entscheidungen getroffen als zuvor, die Anzahl der Ablehnungen ist also auch absolut gesehen weitaus höher als bis Mitte 2023.1)

Bereits unmittelbar nach dem russischen Einmarsch stellte die damalige Bundesregierung klar, dass nur Deserteuren Schutz in Deutschland zustehe. Männern, die sich noch vor ihrer Einberufung dem Kriegsdienst entzogen haben, drohe hingegen keine Gefahr bei ihrer Rückkehr, weder durch Bestrafung noch durch den Einsatz im völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Die Zahlen zeigen, dass das dem Innenministerium nachgeordnete BAMF diese Logik verinnerlicht hat. Nach Recherchen der Vereins Connection finden sich in zahlreichen Bescheiden Textbausteine mit einer Berechnung, dass das statistische Risiko einer Einberufung angesichts von Millionen von Reservisten „bei unter zwei bzw. unter sechs Prozent“ liege. Laut BAMF zu wenig, um Asyl zu gewähren. Abschiebungen gibt es gleichwohl kaum, da dazu eine Kooperation mit dem russischen Staat nötig wäre. Asylsuchende Militärdienstverweigerer werden also in hoher Zahl abgelehnt, verbleiben aber dann ohne Aufenthaltstitel geduldet in Deutschland, weil die Rückführung nicht durchführbar ist.

VG Berlin: Schutz vor Einsatz in völkerrechtswidrigem Angriffskrieg

Auch die deutschen Verwaltungsgerichte weisen Klagen russischer Wehrpflichtiger häufig ab. Die Flüchtlingseigenschaft setzt eine Verknüpfung einer Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund voraus, etwa der politischen Gesinnung. Dass das russische Regime Kriegsdienstverweigerern eine solche Gesinnung unterstellt, liege zwar „im Bereich des Vorstellbaren“, sei aber nicht ausreichend wahrscheinlich. Allerdings sprechen einige Gerichte subsidiären Schutz zu. Voraussetzung dafür ist die Gefahr eines ernsthaften Schadens in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung, also eine zwar absichtliche Menschenrechtsverletzung, die aber nicht auf ein individuelles Merkmal wie die politische Gesinnung abzielen muss.

Dazu hat das Verwaltungsgericht Berlin nun zwei Kammerentscheidungen getroffen: Wehrpflichtigen drohe erstens eine unmenschliche Behandlung, weil sie durch den Kriegseinsatz selbst in Lebensgefahr geraten könnten (S. 37). Zweitens müssten sich Wehrpflichtige an Kriegsverbrechen beteiligen. Der Zwang, anderer Menschen grundlegende Rechte zu verletzen, sei selbst eine schutzwürdige Menschenrechtsverletzung (S. 38).

Dass der Kläger nach seiner Rückkehr in den Krieg eingezogen würde, weist das VG in seiner Entscheidung durch zahlreiche Länderberichte nach. Wegen der umfassenden Verluste habe die russische Armee einen hohen Rekrutierungsbedarf und es bestehe keine realistische Chance auf einen Ersatzdienst. Vor allem aber sei der Einsatz auch von Wehrpflichtigen – und nicht nur von Berufssoldaten – in der Ukraine wahrscheinlich. Grundwehrdienstleistende als solche würden anders als zu Beginn des Krieges zwar mittlerweile nicht mehr in der „Kern-Ukraine“ eingesetzt. Allerdings gebe es zahlreiche Berichte, die darauf hinweisen, dass sie unter großem Druck dazu gezwungen würden, sich als Vertragssoldaten zu registrieren, um daraufhin an die Front geschickt zu werden (S. 29-33). Unabhängig davon würden Wehrdienstpflichtige außerdem in der russisch-ukrainischen Grenzregion eingesetzt, etwa im Gebiet Kursk. Obwohl dies russisches Territorium sei, handele es sich um einen Einsatz „im Rahmen des völkerrechtswidrigen Kriegs“ (S. 41). Dass die Stationierung dort „nach offizieller russischer Lesart“ der Landesverteidigung diene, ändere daran nichts (S. 43). In beiden Fällen – dem erzwungenen Vertragsabschluss und dem Einsatz in Kursk – sei eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an Kriegsverbrechen wie der Deportation von Kindern, Angriffen auf zivile Infrastruktur, Misshandlungen, Folter oder Exekution ukrainischer Gefangener wahrscheinlich. Denn menschenrechtswidrige Verbrechen durch russische Streitkräfte fänden überall dort statt, „wo diese im Rahmen des Ukraine-Kriegs mit den ukrainischen Streitkräften zusammentreffen“ (S. 42).

Gegen das eigene Oberverwaltungsgericht

Mit der Entscheidung wendet sich die 33. Kammer des VG Berlin gegen das eigene Oberverwaltungsgericht (OVG), das im August 2024 eine ähnliche Entscheidung der gleichen Kammer aufgehoben hatte und dies mit einer grundlegend anderen Sicht auf die Situation russischer Kriegsdienstverweigerer begründete (12 B 17/23 und 12 B 18/23).

Ohne eine vergleichbar umfassende Tatsachengrundlage heranzuziehen, stellte das OVG erstens fest, dass junge Männer in der Lage seien, sich dem Druck einer Registrierung als Vertragssoldat zu widersetzen. Der Kläger gehöre – „nach Aktenlage“ – zu den „robusteren Persönlichkeiten, die in körperlichen Auseinandersetzungen „ihren Mann“ zu stehen wissen“. Die Entscheidung, sich zum Berufssoldaten verpflichten zu lassen, liege deshalb „grundsätzlich allein in der Hand des Klägers und ist von seinem Willen abhängig“ (Rn. 47). Während das VG also auf die systematische Gewalt und die Zwangsmechanismen innerhalb der russischen Armee verweist, beschränkt sich das OVG auf die vor allem theoretische Möglichkeit eigenverantwortlichen Handelns und vertraut auf die Männlichkeit des Klägers. Es klingt so, als könnte die körperliche Überwältigung des militärischen Vorgesetzten das Problem aus der Welt schaffen.

Vor allem aber ist das OVG der Überzeugung, dass der Einsatz von Wehrpflichtigen in der Ukraine unwahrscheinlich sei. Hinsichtlich des nicht von Russland annektierten Staatsgebiets verlässt es sich dabei auf Aussagen der russischen Führung, die einen solchen Einsatz verneint. Einen Einsatz in Kursk hält es zwar für wahrscheinlich, dieser diene dann aber der „Verteidigung eigenen Territoriums“ und sei deshalb legitim. „Im Ergebnis nicht anders“ verhalte es sich mit einem Einsatz auf der von Russland annektierten Krim. Denn eine solche Stationierung diene der „Aufrechterhaltung des geschaffenen Zustandes“ und da dort keine Kampfhandlungen stattfänden, könne es auch nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kommen (Rn. 42).

Ausweitung des subsidiären Schutzes

Das VG Berlin weitet die Tatbestandsmerkmale des subsidiären Schutzes bei Militärdienstentzug stark aus. Vor allem im Rahmen der Syrien-Rechtsprechung haben sich die Gerichte in den letzten Jahren auf die Frage konzentriert, ob und welche Bestrafung Wehrpflichtigen droht, die den Dienst verweigern. In der Russland-Rechtsprechung kommt nun die Frage hinzu, welche Menschenrechtsverletzungen der Kriegseinsatz selbst mit sich bringt. Dabei betrachtet das VG Berlin den Zwang zu einer Menschenrechtsverletzung selbst als Menschenrechtsverletzung und sieht außerdem in der Lebensgefahr für Soldaten im Krieg einen Schutzgrund.

Dann aber dürfte es nicht darauf ankommen, ob der Einsatz in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg oder im Rahmen der Landesverteidigung erfolgt: Krieg ist lebensgefährlich, und ein Entzug wegen dieser Lebensgefahr wäre dann stets ein Asylgrund. Eine rechtliche Klärung dieses Arguments, das das VG Berlin bereits seit Anfang 2023 in seinen Urteilen verwendet, ist offen. Das OVG Berlin-Brandenburg verhält sich dazu nicht eindeutig. Es weist allerdings darauf hin, die Lebensgefahr in einem Kriegseinsatz gehe „nicht von dem staatlichen Akteur aus, der die Kriegsteilnahme erzwingt, sondern von dem sich verteidigenden angegriffenen Staat“. Der Schaden der eigenen Soldaten sei „nicht intendiert, sondern eine mit dem Austausch kriegerischer Feindseligkeiten einhergehende Folge“. Zugleich stellt das OVG fest, dass dem russischen Staat durch den Einmarsch zumindest „mittelbar“ zugerechnet werden könne, seine eigenen Soldaten dieser Gefahr auszusetzen (Rn. 23).

Letztlich lässt das OVG diese zentrale Rechtsfrage offen und lehnt Schutz für russische Militärdienstverweigerer durch eine andere Tatsacheninterpretation ab: Wehrpflichtigen drohe weder Lebensgefahr noch eine Beteiligung an Kriegsverbrechen im Einsatz. Dem widerspricht die 33. Kammer des VG Berlin in seiner jüngsten Entscheidung. Diese Abweichung von der Linie des OVG begründet die erneute Berufung – das Urteil wird also voraussichtlich aufgehoben. Es ist anzunehmen, dass das OVG im Rahmen dieser Berufung lediglich auf seine anderslautende Rechtsprechung verweisen und sich nicht noch einmal mit der Tatsachenfeststellung der Vorinstanz auseinandersetzen wird. Die umfassende Analyse des VG Berlin der Zwangsmaßnahmen innerhalb der russischen Armee sowie der von ihr begangenen Kriegsverbrechen hätte eine solche Auseinandersetzung allerdings verdient. Das OVG hätte dann außerdem die Gelegenheit, die offene Rechtsfrage zum subsidiären Schutz wegen Lebensgefahr im Kriegseinsatz genauer zu klären.

Klärungsbedürftig ist auch die Analogie zwischen dem russischen Gebiet Kursk und der annektierten Krim. Deren Annexion bezeichnet das OVG zwar als völkerrechtswidrig, scheint einen Einsatz Wehrpflichtiger dort dann aber mit der „Aufrechterhaltung des geschaffenen Zustands“ zu rechtfertigen. Die Aussage wurde bereits als „scheinbar schleichende Anerkennung der illegalen Krim-Annektion“ durch ein deutsches Gericht gelesen, wobei es dem OVG wohl eher um den Hinweis ging, dass auf der Krim keine Kampfhandlungen gegen die Ukraine stattfinden (Rn. 42). Anfällig für Missverständnisse ist die Passage allemal. Auch darüber hinaus wäre ein höherinstanzliches Urteil wünschenswert, das sich drei Jahre nach Beginn der russischen Invasion umfassender mit dem Einsatz Wehrpflichtiger im russischen Angriffskrieg auseinandersetzt.

References

References
1 Die Daten beruhen auf Informationen des BAMF zu Entscheidungen über Asylanträge von russischen Männern zwischen 18 und 45 Jahren zwischen Februar 2022 und September 2024 und zwischen Februar 2022 und August 2023. Die Daten zum Zeitraum September 2023 bis September 2024 ergeben sich daraus.

SUGGESTED CITATION  Feneberg, Valentin: Asyl für russische Kriegsdienstverweigerer: Lebensgefährlicher Kriegseinsatz und die erzwungene Beteiligung an Kriegsverbrechen führen zu subsidiärem Schutz, VerfBlog, 2025/2/05, https://verfassungsblog.de/asyl-fur-russische-kriegsdienstverweigerer/, DOI: 10.59704/8610956053434a4d.

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