Mehr Territorialität wagen im Wahlrecht
Ein Vorschlag für eine Reform der Wahlrechtsreform
Die heiß diskutierte und in Karlsruhe nachgebesserte Wahlrechtsreform der einstigen Ampelparteien konnte Ende Februar ihre Feuertaufe bestehen. Insbesondere die wohl wichtigere Neuerung, nämlich das Institut der Zweitstimmendeckung (§ 1 Abs. 3 S. 2 BWahlG), stieß auf ein publizistisches Echo. Wirklich verwunderlich war dabei jedoch nur die Verwunderung über dieses Echo. Zwar mag das Verfahren der Zweitstimmendeckung einigen bisher abstrakt geblieben und erst mit der Wahl sichtbar geworden sein, doch war es vorhersehbar und obendrein: approved by the BVerfG. Nicht minder vorhersehbar war aber auch der Protest derjenigen, die diese Novelle kritisieren: Schließlich galt der alte Mechanismus mit den direktgewählten Wahlkreisgewinnern seit Jahrzehnten, fand in fast allen Landtagswahlrechten ein Pendant und war deswegen sowohl in der Wählerschaft als auch von politischen Akteuren verinnerlicht worden.
Die wahlrechtspolitische Kritik
Die Tatsache, dass die Wahlrechtsreform 2023 mitsamt Zweitstimmendeckung (und unter Wiederbelebung der Grundmandatsklausel) mit der Verfassung vereinbar ist, wie auch die wiederholten Beteuerungen, dass das novellierte Wahlsystem in sich logisch und kohärent sei – was nicht zu bezweifeln ist –, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch eine andere Frage im Raum steht: nämlich ob die Reform einen wahlrechtspolitisch sinnvollen Weg eingeschlagen hat. Jetzt also, da das neue Wahlrecht ausgeurteilt und ausprobiert worden ist, dass es die Prüfung der Gerichte und die der tatsächlichen Anwendung durch 60,5 Millionen Wahlberechtigte überstanden hat, steht die noch gewichtigere Prüfung aus, die des Kairós, der inhaltlichen Richtigkeit in Anbetracht des historischen Zeitpunktes. Die Herausforderung – zugegeben eine herkulische – besteht darin, ein Wahlsystem zu finden, das in einer Zeit des erstarkenden Populismus die wachsende Skepsis gegenüber dem Parlamentarismus abbauen und glaubhaft vermitteln kann, dass die Abgeordneten tatsächlich „Vertreter des ganzen Volkes“ sind. Wenn die These stimmt, wonach „das Verfassungsrecht das ist, was eine Staatsgewalt für die menschliche Vernunft zugänglich macht“ (so Gian Luca Rossi), dann ist das Wahlrecht etwas, das eine nicht nur rechnerische, sondern auch greifende Mitnahme aller im Volke gewährleisten soll. Selbst (und gerade) für den aufgebrachten Mob mit Mistgabeln und Fackeln.
Die vielerorts geübte Kritik an der Zweitstimmendeckung lautet im Tenor, dass es unfair sei, wenn Kandidatinnen und Kandidaten, die sich vor Ort einen persönlichen Erfolg erarbeiteten, am Ende leer ausgingen, während unter Umständen die im Wahlkreis abgestrafte Konkurrenz am Ende doch in das Parlament einziehe über die von den Wählern in ihrer Zusammensetzung und Reihung unbeeinflussbaren Landeslisten. Diese Kritik trifft einen Nerv. Denn die in den (Landes-)Hauptstädten beschlossenen Landeslisten können zwar parteiinternen Proporz aller Art gewährleisten: geografisch, geschlechtlich, flügelkämpferisch. Sie bleiben jedoch dem Wähler im Zweifel ferner als die Kreiswahlvorschläge, sie sind weniger gestaltbar als die Wahl einer einzelnen Person vor Ort, die man individuell und unabhängig von der Zweitstimme abstrafen oder prämieren kann. Der bis 2025 stets steigende Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimmenergebnissen zeigt überdeutlich, dass nicht nur „Wahlrecht-Nerds“, sondern die breite Wählerschaft sehr wohl Bedeutung und Potenzial des wahlrechtlichen Instrumentariums begriffen und freudig verinnerlicht hat, was die regelmäßig bunteren Kommunalwahlrechte oder das jüngst ebenfalls ins Rampenlicht geratene hamburgische Landeswahlrecht im Übrigen bestätigen.
Die größte Schwachstelle des neuen Rechts ist also nicht die punktuelle Nichtberücksichtigung einiger Erstplatzierten auf Wahlkreisebene, denn diese lässt sich trotz aller Irritation über „leerausgehende Gewinner“ mit dem Verhältniswahlgedanken vernünftig vermitteln. Viel schwerer wiegt, dass die Erststimme, wodurch alle im Wahlvolk ihre ausdrücklichen Präferenzen für und gegen Kandidaten bekunden können, systemisch eine nur hilfsweise Rolle hat und einer Kandidatenreihung untergeordnet wird, die auf Listenparteitagen ausschließlich durch Landesparteidelegierte beschlossen wird. Dies verengt objektiv die Gestaltungsmöglichkeiten der Wähler. Nicht bloß, weil sie in Wahrheit (und auch in der sprachlich ehrlicheren Originalfassung der Reform) keine zwei, sondern nur eine „Hauptstimme“ haben, nämlich die Zweitstimme. Sondern vielmehr, weil diese Hauptstimme nur den Landeslisten gilt, deren Ausformung für Bürger ohne Parteibuch und Delegiertenstatus versperrt ist, während die persönliche und territoriale Gestaltung der Parlamentszusammensetzung direkt durch die Wähler zur „Nebenstimme“ und also Nebensache wird.
Kandidatinnen und Kandidaten in einem Wahlkreis sind freilich weder ontologisch besser noch Volksvertreter „erster Klasse“, wie manch parteiischer Polemiker stilisiert. Sie bieten aber durch die Möglichkeit zweier unterschiedlicher Kreuze bei Erst- und Zweitstimme eine im Wahlergebnis objektiv messbare Gewähr ihrer Fähigkeit, im Wahlvolk für sich versammeln und überzeugen zu können, für aber im Zweifel auch trotz oder gegen die eigene Partei. Eine Bewertung der Kandidaten anhand des Erststimmenergebnisses, wie es auch das geltende Verfahren der Zweitstimmendeckung zum Teil vorsieht (§ 6 Abs. 1 S. 2 BWahlG), bringt also die objektiv messbaren Unterschiede in der Überzeugungsfähigkeit einzelner zur Wahl stehender Personen zum Ausdruck.
Eine stärker personalisierte und territorialisierte Verhältniswahl als Alternative?
Um die Vorzüge einer Personenwahl mit der systemischen Entscheidung für eine Verhältniswahl in Einklang zu bringen, gibt es viele Wege. Während Peter Müller gleich eine grundsätzliche Abkehr von der Verhältniswahl vorschlägt, um die Personenwahl zu bewahren, thematisiert Antje von Ungern-Sternberg eine neu austarierte Proportion zwischen Wahlkreisen und Listenplätzen, die aber die Personenwahl noch stärker einschränken würde.
Um an Verhältniswahl und Parlamentsverkleinerung festzuhalten, aber gleichzeitig die angesprochenen Probleme zu adressieren, könnte eine weitere Alternative darin bestehen, die Reihung der Kandidaten nach dem Erstimmenergebnis in ihrer Bedeutung zu stärken und sie auf alle Parteien und Listen zu erweitern. Das Wahlvolk hätte so zwei unterschiedliche Instrumente in der Hand: Die Zweitstimme für die Bestimmung der Größenverhältnisse zwischen den Parteien, die Erststimme für die Bestimmung der zu wählenden Personen aus den Parteien. Die Sitze, die einer Partei in einem Bundesland nach Zweitstimmenstärke zufielen, erhielten grundsätzlich immer die Bewerber, die in den jeweiligen Wahlkreisen die im parteiinternen Vergleich besseren Ergebnisse erzielt hätten – also nicht nur bei „Wahlkreissiegern“, sondern in allen Parteien nach der Reihung gemäß Erststimmenanteil.
Ein Anwendungsbeispiel: Bayern stehen gemessen an der Bevölkerung 101 Sitze im Bundestag zu, und gemessen am Zweitstimmenergebnis (Stand 2025) gehen u.a. 44 Sitze der CSU und jeweils 14 den Grünen und der SPD zu. De lege ferenda würde nicht nur – wie heute – die CSU ihre besten 44 Wahlkreisbewerber in den Bundestag entsenden, sondern auch bei Grünen und SPD würden ihre jeweils besten 14 Bewerber aus den Wahlkreisen ins Parlament einziehen, gemessen an den persönlichen Erststimmenanteilen. So wäre allen klar und unmittelbar verständlich, nach welchem Kriterium nicht nur ein Teil, sondern alle Sitze unter den Kandidaten vergeben würden – nämlich nach dem relativen Erfolg im Wahlkreis, gemessen an der Erststimme, die der Person gilt. Und dadurch würde außerdem der Erzählung vorgebeugt, wonach einige „Gewinner“ nicht ins Parlament einzögen, denn auf den „Gewinn“ eines Wahlkreises käme es gar nicht an. Nur die jeweils „Besten“ aller Parteien gingen unter die Reichstagskuppel, und entscheidend dafür wäre allein der tatsächliche Erfolg der Personen vor Ort, gemessen für alle am gleichen Wert, dem besten Erststimmenanteil im parteiinternen Vergleich. Überhangs- und Ausgleichmandate gäbe es so keine, die fixe Sitzzahl des Bundestages wäre kein Problem. In einem solchen System käme die Landesliste schließlich nur sekundär zum Zuge, wenn die Reihung der Wahlkreisbewerber ausgeschöpft würde – was im Falle Bayerns bei den 47 Wahlkreisen am Anfang der Wahlperiode oder später für Mandatsnachfolgen möglich ist. So wäre die Bedeutung der Landeslisten zwar marginal an der Zahl der dadurch Gewählten, aber systemabsichernd.
Die Ergebnisse aus Bundesländern, die eine weniger eintönige Wahlkreissiegerlandkarte haben als das Beispiel Bayern – musterhaft nehme man Berlin –, zeigen zum Teil schon im geltenden Wahlrecht, was ein derart reformiertes System hervorbrächte: eine parlamentarische Zusammensetzung, die aus den vor Ort am stärksten überzeugenden Kandidatinnen und Kandidaten aller Parteien bestünde. Das Rennen in umkämpften Territorien würde sich lohnen und die parteipolitische wie wahlkämpferische Arbeit vor Ort stark aufgewertet werden.
Den Populismus an der Wurzel packen
Eine solche Reform würde dem Ergebnis im Wahlkreis – als Ausdruck der Überzeugungskraft der einzelnen zur Wahl stehenden Personen vor Ort – eine viel größere Bedeutung beimessen als zentralisierte Parteientscheidungen auf Landes- und Bundesebene.
Der große Bedeutungsgewinn, der der Erststimme zukäme, würde sich zwischenparteilich wie parteiintern auswirken. Zwischenparteilich würde man die orts- und wählernahe, territorial greifbare Austragung politischen Wettbewerbs stark fördern, schließlich würde sich die ganze Zusammensetzung des Parlaments anhand territorialen Erfolgs einzelner Personen entscheiden. Parteiinterne Dynamik ginge mit einer solchen Reform nicht verloren, stattdessen würde sie sich stärker als heute von der Landes- auf die Wahlkreisebene verlagern, sowohl im Wahlkampf als auch bei der Aufstellung von Parteibewerbern in den einzelnen Wahlkreisen (§ 21 BWahlG). Dadurch würde die Relevanz der unteren, ortsnäheren Ebene der Parteienstruktur wachsen, und dies nicht nur für die Parteien und Landesverbände, aus denen traditionell viele Wahlkreissieger hervorgehen, sondern für alle Parteien. Dies brächte eine Aufwertung des demokratischen Engagements überall im Lande, auch und besonders fernab der Hauptstädte, mit sich.
Zudem würde man sich damit genau an eine der Bruchstellen setzen, an denen Populismus und Parlamentarismusskepsis derzeit besonders sichtbar aufklaffen: die Erzählung, dass die eine meine Stimme nichts ändere und die Wahl konkreter Menschen im Hier und Jetzt die großen weiten Ergebnisse einer viel zu hauptstädtisch geprägten Politik nicht beeinflusse. Diese Risse in der Gesellschaft und in der Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie zu heilen, ist prioritär. Eine solche Reform würde der Wählerschaft eine größere Gestaltbarkeit der Parlamentszusammensetzung zutrauen und dies dem Narrativ einer fernen und elitären Politik entgegensetzen. Es stimmt zwar, dass nicht für alle Wähler die Wahlkreisdimension tatsächlich so prominent ist, wie manche Rhetorik über die „Direktgewählten“ idealisiert, dies ist jedoch kein Grund, um die Möglichkeit größerer Gestaltung durch alle auszuschlagen. Diejenigen Wähler, die sich einheitlich entscheiden und der Kandidatenaufstellung einer Partei vertrauen, könnten weiterhin zwischen Erst- und Zweitstimme nicht differenzieren. Zusammenfassend würde also mit dieser Reform der Wählerschaft mehr zugetraut und mehr Territorialität gewagt: ein Kontrastprogramm zu Populismus und geschürter Parlamentsskepsis.
Mit der gesteigerten Bedeutung der Erststimme wäre schließlich auch eine Flanke geschlossen, die das geltende Wahlrecht aus Sicht seiner Kritiker erst geöffnet hat, nämlich die „Verwaisung von Wahlkreisen“. Es ist wohl wahr, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 2024 klargestellt hat, dass, auch wenn dies „zunächst irritieren mag, der Vorwurf der ‚Kappung eines Wahlkreismandats‘ beziehungsweise der ‚Verwaisung eines Wahlkreises‘ für sich genommen noch keinen Gesichtspunkt bildet, der die Neuregelung verfassungsrechtlich unzulässig machen könnte“ (Rn. 178). Dennoch ist Irritation, die selbst die Verfassungsrichter ansprachen, doch da. Im hier angedeuteten Alternativsystem wären – anders als im geltenden Wahlrecht – „verwaiste Wahlkreise“ kaum möglich, denn selbst dort, wo die an Erststimmen stärksten Bewerber eines Wahlkreises im parteiinternen Vergleich anderen Kollegen unterlägen, zögen der Zweit- und mancherorts auch Dritt- oder Viertplatzierte dieses Wahlkreises dank ihres im Verhältnis besseren Erststimmenanteils ins Parlament ein. Und im Prinzip wäre von vornherein klar, dass nicht die „Gewinner“, sondern alle jeweils „Besten“ einzögen. Dadurch, dass sämtliche Kandidaten nach ihrem Erststimmenanteil bewertet würden und nicht nur die Erstplatzierten jedes Wahlkreises, wäre insgesamt die Möglichkeit einer kompletten „Verwaisung“ bis auf extreme Konstellationen ausgeschlossen.
Fazit
Kein Kind ist mit dem Bade auszuschütten. Die Wahlrechtsreform 2023 war in ihrem Ziel, den Bundestag kleiner zu halten und ihm eine stabile Sitzzahl zu geben, erfolgreich. An der Verhältniswahl im Lichte der plural gewordenen Parteienlandschaft festzuhalten, ist eine richtige Entscheidung – alles andere würde ein Wahlvolk, das offenbar pluraler als vor einigen Jahren wählen will, nur brüskieren und es im Parlament weniger gut abbilden.
Der Archetyp politischer Vertretung, den die Reformgeber verfolgen wollten, war aber eindeutig: nationale Parteien, die auf ihren höheren Ebenen (Bund und Länder) das parlamentarische Personal bestimmen. Wahlkreiskandidaten werden in einem solchen System nur geduldet, solange sich dies in die Gesamtarithmetik fügt. Dieses Modell darf man mögen, die Zeiten losreitenden Populismus und erstarkender Parlamentsskepsis erfordern jedoch ein Wahlsystem, das besser greifbar macht, wie wichtig und entscheidend jede Stimme ist und dass die Sitzverteilung sich im Zweifel nicht auf Listenparteitagen, sondern vor Ort in der Wahlurne entscheidet. Will man an Parlamentsverkleinerung und Verhältniswahl festhalten, dann bietet es sich an, die Parlamentszusammensetzung zu personalisieren und zu territorialisieren, indem man die Erststimme radikal aufwertet und sie zum Maßstab für die Wahl aller Kandidaten macht. Auch damit könnte eine Reform der Reform, wie sie der Prüfauftrag aus der allerletzten Zeile des schwarz-roten Sondierungspapiers erwähnt, anfangen.